Kiew rückt ab
Ukrainische Truppen räumen Stellungen südlich von Lugansk. Industriestadt Mariupol eingekreist
Von Reinhard Lauterbach *
Im Donbass hat sich die militärische Lage seit Ende letzter Woche zugunsten der Aufständischen entwickelt. Wie Medien beider Seiten melden, geben die eingekreisten Kiewer Truppen südlich von Lugansk ihre Stellungen auf; am südlich der Stadt gelegenen Flughafen ergaben sich mehrere hundert Kämpfer der »Nationalgarde« gegen die Zusage freien Abzugs. Damit entfällt großteils auch die Bedrohung für die Bewohner von Lugansk durch Artilleriebeschuß seitens der Regierungstruppen. Gleichzeitig versuchen Kräfte der Aufständischen, die Kiewer Truppen nach Norden von Lugansk wegzudrängen. Ebenso gab es lokale Gegenangriffe westlich und nördlich von Donezk, um die Stadt aus der Reichweite der ukrainischen Artillerie zu bringen. Am Flughafen von Donezk hielten sich am Dienstag noch ukrainische Truppen, ebenso im Kessel von Amwrosijewka südöstlich von Donezk. Das Kiewer Verteidigungsministerium gibt inzwischen auf Befehl von Verteidigungsminister Waleri Geletej keine Informationen mehr über den Verlauf der Kämpfe heraus.
Im Süden des Kampfgebiets ist es den Aufständischen offenbar gelungen, die Industriestadt Mariupol am Asowschen Meer weiträumig zu umfassen und einzuschließen. Die Stadt ist derzeit ohne Landverbindung nach Westen. Ukrainische Truppen verschanzen sich der Stadt und tun nach Berichten von Anwohnern das, was sie den Aufständischen immer vorgeworfen haben: Granatwerfer auf Wohnhäusern installieren und Raketenwerfer in Innenhöfen stationieren. Das bedeutet, daß die Truppen der Aufständischen im Falle eines direkten Angriffs auf die Stadt vor denselben Schwierigkeiten stünden, wie sie die Kiewer Einheiten in Donezk und Lugansk gehabt hätten: Häuser- und Straßenkämpfe mit potentiell hohen Verlusten unter der Zivilbevölkerung.
Die politische Führung der international nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk hat am Dienstag mitgeteilt, unter welchen Bedingungen sie sich einen Verbleib in der Ukraine vorstellen könnte. Die Forderungen umfassen eine weitgehende Autonomie einschließlich des Aufbaus eigener Sicherheitskräfte und der Bestellung eigener Justizbeamter. Würde dieses Programm realisiert, bliebe der Ukraine vom Gebiet »Neurußlands«, wie sich die Volksrepubliken inzwischen auch nennen, de facto wenig. Es scheint daher unwahrscheinlich, daß Kiew die vorgeschlagenen Punkte so akzeptieren wird; das liefe auf das Eingeständnis hinaus, daß der Versuch der militärischen Durchsetzung der »Einheit der Ukraine« gescheitert ist; dies würde die gegenwärtig in Kiew herrschenden Kräfte der Gefahr eines Putsches des faschistischen Teils ihrer Basis und konkurrierender Oligarchen aussetzen. Am Wochenende wurde gemeldet, der in Dnipropetrowsk als Gouverneur residierende Igor Kolomojskij habe das von ihm finanzierte Bataillon »Dnepr-1« aus Mariupol abgezogen, kurz bevor sich der Belagerungsring um die Stadt schloß. Auch der »Rechte Sektor« hat vor einiger Zeit seinen Hauptsitz von Kiew nach Dnipropetrowsk verlegt und steht nach Kiewer Presseberichten in Kolomojskijs Sold.
Die »Antiterroroperation« verliert unterdessen in der ukrainischen Bevölkerung an Rückhalt. Nach einer kürzlichen Umfrage zweier Kiewer Institute sind inzwischen – auf das gesamte von Kiew kontrollierte Gebiet bezogen – 57 Prozent der Befragten dafür, den Krieg zu beenden und einen politischen Kompromiß zu suchen. Etwa 30 Prozent unterstützten hingegen eine Fortsetzung des Krieges. Die Durchschnittswerte wiesen dabei starke regionale Unterschiede auf: im Westen und in der Zentralukraine überwogen nach wie vor die Anhänger einer militärischen Lösung; im Süden und Osten dagegen die eines politischen Kompromisses.
In dieser Situation scheinen zwei Szenarien möglich. Entweder beginnt tatsächlich ein – zunächst sicherlich geheimer – Verhandlungsprozeß über eine politische Lösung des Konflikts; der russische Präsident Wladimir Putin deutete am Dienstag an, entsprechende Vereinbarungen seien in der letzten Augustwoche in Minsk getroffen worden. Oder die Erklärungen der »Neurussen« waren nicht ernstgemeint und sind faktisch der Ausgangspunkt dafür, den Konflikt »einzufrieren« und mittelfristig aus den Aufstandsgebieten einen international nicht anerkannten Quasistaat nach dem Vorbild Transnistriens zu bilden.
* Aus: junge Welt, Mittwoch 3. September 2014
Das Buch zum Thema:
"Ein Spiel mit dem Feuer"
Im Papyrossa-Verlag ist Ende August 2014 ein Ukraine-Buch erschienen
Mit Beiträgen von Erhard Crome, Daniela Dahn, Kai Ehlers, Willi Gerns, Ulli Gellermann, Lühr Henken, Arno Klönne, Jörg Kronauer, Reinhard Lauterbach, Norman Paech, Ulrich Schneider, Eckart Spoo, Peter Strutynski, Jürgen Wagner, Susann Witt-Stahl
Informationen zum Buch (Inhalt und Einführung)
Waffen für Poroschenko
Der Westen forciert Kriegsbeihilfen für die Ukraine
Von Knut Mellenthin **
Wie lange ist es noch hin, bis im Bundestag Waffenlieferungen an die Ukraine diskutiert werden? Noch sind nicht nur die Kanzlerin, sondern sogar Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen dagegen. Aber so etwas kann sich von einem Tag auf den anderen ändern, wenn deutsche Politiker wie auf Kommando von Emotionen geschüttelt werden und plötzlich erkennen, »daß man nicht tatenlos zusehen darf«.
Das Thema ist jedenfalls in der Welt und wird voraussichtlich beim morgen beginnenden NATO-Gipfel in Wales vor allem von osteuropäischen Vertretern aufgegriffen werden. Als einer der ersten hat Rumäniens Präsident Traian Basescu die Staaten der EU und der NATO in der vorigen Woche aufgefordert, »die ukrainische Armee mit Rüstungsgütern zu unterstützen«, da sich sonst das Kräfteverhältnis noch weiter zugunsten der »Separatisten« zu verschieben drohe. Es folgte am Sonnabend die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite. Vermutlich richtig schätzte sie ein, daß diese Forderung vorläufig bei der NATO besser aufgehoben sei als bei der EU. Es wäre überraschend, wenn sich beim Gipfeltreffen nicht auch Polen, Estland und Lettland anschließen würden. Flankierend könnten kollektive Hilfeschreie besorgter Intellektueller hinzukommen, wie gerade einer von einer Reihe Polen veröffentlicht wurde. Deutsche Mainstream-Medien werden über all das ausführlich berichten und streng die Frage aufwerfen, wie lange Deutschland es sich noch leisten könne, sich herauszuhalten.
Es wundert nicht, daß die vermutlich allerersten, die diese Idee schon zu einem Zeitpunkt auf den Markt warfen, als an »russische Panzerbataillone« im Donbass noch niemand dachte, die republikanischen US-Senatoren John McCain und Lindsey Graham waren. Die als unzertrennliches Duo geltenden Hardliner hatten am 28. März eine gemeinsame Stellungnahme veröffentlicht, in der sie forderten, die ukrainische Regierung »sofort« mit Handfeuerwaffen, Munition, panzerbrechenden Waffen und Flugabwehrsystemen zu beliefern. Nicht zu vergessen auch Schutzausrüstungen, militärmedizinisches Material und Ersatzteile sowie die Übermittlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse.
Inzwischen ist die Front im US-Kongreß breiter geworden. Die Abgeordneten und Senatoren kehren gerade gut erholt aus dem Urlaub nach Washington zurück, und einige werden vielleicht schon in Kürze eine entsprechende Gesetzesinitiative starten. Ein wichtiges Signal ist, daß sich der Demokrat Robert Menendez, der den Vorsitz im einflußreichen Außenpolitischen Ausschuß des Senats führt, der Forderung nach Militärhilfe für Kiew angeschlossen hat: »Wir sollten die Ukraine mit jener Art von Abwehrwaffen versorgen, die Putin einen Preis für weitere Aggressionen auferlegen«, sagte Menendez dem Sender CNN. Der Republikaner Mike Rogers, der den Geheimdienstausschuß des Abgeordnetenhauses leitet, forderte beim neokonservativen Sender Fox News, Kiew ganz schnell mit »kleinen und effektiven« Waffen zu beliefern, da man sonst später größere werde schicken müssen.
Schon bisher hatte die westliche Allianz die ukrainische Regierung nicht nur mit Worten ermutigt, Krieg gegen Teile ihrer eigenen Bevölkerung zu führen, sondern sie dabei auch materiell unterstützt. Neben ständigen Geldspritzen, die den militärischen Wahnsinn überhaupt erst möglich machten, versorgte der Westen Kiew auch mit detaillierten Informationen über die Standorte der »Separatisten«, half bei der Bewältigung von Benzin- und Nachschubproblemen, und schickte sogar Ersatzteile. Auf dem NATO-Gipfel wird vermutlich eine Formalisierung und Verstärkung dieser »nicht-letalen« Kriegsbeihilfe beschlossen werden, während die Lieferung von Waffen vorerst der Privatinitiative vorbehalten bleibt: Rußlands stellvertretender Premier Dmitri Rogosin klagte schon Anfang Juli, daß einige osteuropäische Länder aus ihren Beständen altes sowjetisches Militärmaterial an die Ukraine abgeben.
** Aus: junge Welt, Mittwoch 3. September 2014
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