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Im Giftschrank

Die Ermittlungsergebnisse zum Absturz oder Abschuß der Passagiermaschine MH17 in der Ostukraine sollen geheim bleiben. Hat Kiew etwas zu verbergen?

Von Reinhard Lauterbach *

Mit Glasnost – oder Hlasnist auf Ukrainisch – haben es die neuen ukrainischen Machthaber nicht besonders. Nicht nur verweigern sie seit Monaten Ermittlungen der Abläufe rund um die Schüsse auf dem Kiewer Maidan im Februar dieses Jahres. Auch die Umstände des mutmaßlichen Abschusses des malaysischen Passagierflugzeugs über dem Donbass am 17. Juli sollen nach Möglichkeit geheim bleiben. Jedenfalls erklärte ein ukrainischer Staatsanwalt am 10. August auf einer Pressekonferenz in Kiew, die beteiligten Staaten – neben der Ukraine die Niederlande, Australien und Malaysia – hätten sich darauf geeinigt, Ermittlungsergebnisse nur im gegenseitigen Einvernehmen zu veröffentlichen. Das bedeutet, daß jede Seite die Veröffentlichung blockieren kann, solange sie will. Es sei denn, eine bricht das damit beschriebene Schweigekartell. Malaysia, die Niederlande und Australien sind an dem Unglück nur in der Form beteiligt, daß ihre Staatsbürger Opfer des Unglücks wurden. Sie sollten nichts zu verbergen haben. Anders sieht es mit der Ukraine aus, über deren Territorium der Abschuß geschah. Wenn die Beweise für eine Verantwortung der »prorussischen Separatisten« oder gar Rußlands selbst so eindeutig sind, wie es Kiew behauptet – warum mauert man dann? Warum ist nicht nur der Mitschnitt der Kommunikation zwischen dem Cockpit und der Flugleitung sofort beschlagnahmt worden, warum hat die britische BBC ein Video ihres russischen Dienstes, in dem Bewohner der Absturzregion von Militärflugzeugen in der Nähe des Unglücksjets berichtet hatten, von ihrem Server gelöscht? Warum ließ die ukrainische Flugkontrolle zu, daß die Maschine über das Kriegsgebiet flog, obwohl die Aufständischen zwei Tage früher auch ein in großer Höhe fliegendes Transportflugzeug der Armee abgeschossen hatten? Zumal in den vorhergehenden Tagen derselbe Flug weiträumig um die Kampfzone herumgeleitet worden war?

Tatsächlich sind die von Kiew schon kurz nach dem tragischen Ereignis präsentierten Hinweise auf eine »russische Spur« dünn. Im wesentlichen bestehen sie aus angeblich mitgeschnittenen Telefongesprächen von Anführern der Rebellen in der selbstausgerufenen Volksrepublik Lugansk. Schon das Entstehungsdatum des Mitschnitts wirft Zweifel auf. Seine Youtube-Version soll nach ihren »Eigenschaften« bereits am Vorabend des Absturzes entstanden sein. Aber bleiben wir beim Inhalt. Eine Männerstimme sagt einer anderen, »die Kosaken vom Kontrollpunkt Tschernuchino« hätten die Maschine abgeschossen. Schon das steht im Widerspruch zu einem anderen Aspekt der Kiewer Darstellung: Das Flugzeug sei mit einem hochreichenden Flugabwehrraketensystem vom Typ »Buk« abgeschossen worden. Diese »Buk«-Systeme sind nämlich ziemlich kompliziert: Sie bestehen aus vier LKWs, von denen nur einer als Abschußrampe dient, während die anderen als Radar-, Feuerleit- und Kommandostand gebraucht werden. Nur gemeinsam können sie funktionieren. Es wäre höchst seltsam, ein so komplexes System an einer Straßensperre aufzustellen, wo es durch jede zufällig kreuz und quer abgefeuerte Kalaschnikow-Patrone eines Stoßtrupps beschädigt werden kann. Und, zweiter Punkt: Um ein solches System zu bedienen, brauchen die beteiligten Soldaten nach Aussage von Militärexperten eine mehrmonatige Ausbildung. Kosaken, eine paramilitärische Formation, die in Rußland Märkte von dunkelhäutigen Migranten »säubert« und allenfalls als leichte Infanterie ausgebildet ist, sind nicht diejenigen, die von Haus aus mit einem solchen System umgehen können. Könnten sie es, wären sie schon längst in die Luftabwehrtruppe übernommen worden und stünden nicht an Kontrollposten Wache.

Das ist nicht der einzige Widerspruch, in den sich die Kiewer Darstellung verwickelt. Die Verantwortung der Aufständischen für den Abschuß wird auch damit begründet, daß die Maschine über dem von ihnen kontrollierten Gebiet getroffen worden und niedergegangen sei. Parallel dazu wirft Kiew den Kämpfern der Volksrepublik aber auch vor, durch Beschuß des Absturzgebietes die internationalen Ermittlungen behindert zu haben. Abgesehen davon, daß die niederländischen Gerichtsmediziner, die das Gelände inspiziert und die Opfer geborgen haben, dies nicht bestätigten und die Vorarbeiten der Vertreter der Volksrepubliken ausdrücklich lobten, stellt sich die Frage, warum die Rebellen ihr eigenes Territorium hätten beschießen sollen. Ihnen mußte klar sein und war es offenbar auch, daß sie nur durch Transparenz irgendwelche Punkte gegenüber einer feindseligen Weltöffentlichkeit gutmachen konnten. Tatsache ist hingegen, daß die ukrainische Armee nach dem Abschuß mehrere Tage lang versuchte, das Gelände, auf dem die Trümmer lagen, unter ihre Kontrolle zu bekommen. Nachdem das am Widerstand der Aufständischen gescheitert war, begann Artilleriebeschuß des Geländes. Hatte jemand Interesse daran, eventuelle Spuren zu vernichten?

* Aus: junge Welt, Samstag 23. August 2014


Fotos und Vermutungen

Was nichtwestliche Stellen zum Abschuß von MH17 veröffentlicht haben

Von Reinhard Lauterbach **


Rußland brauchte vier Tage, um auf die westlichen Verdächtigungen inhaltlich zu entgegnen. Am 21. Juli legte der Stabschef der russischen Weltraumtruppen, General Kartapolow, in Moskau Satellitenaufnahmen der Abschußregion vor und entwickelte Hypothesen zum mutmaßlichen Hergang. Kernthese Moskaus: Wenn das malaysische Flugzeug mit einer »Buk«-Rakete abgeschossen wurde, dann aus einer ukrainischen Stellung heraus. Die Kiewer Armee habe im Donbass das 156. Flugabwehrartillerieregiment stationiert gehabt, von dem in den Tagen vor dem Abschuß mehrere Batterien an Stellen gesichtet worden seien, die Flug MH17 hätten erreichen können. Einen Tag nach dem Abschuß seien plötzlich alle diese Batterien nicht mehr da gewesen. Ein von Kiew präsentiertes Amateurvideo, das den Transport eines »Buk«-Abschußfahrzeuges auf einem Tieflader zeigt, konnte durch die Analyse mitgefilmter Reklametafeln örtlich zugeordnet werden: nicht zu der Ortschaft Krasnodon direkt vor der Grenze zu Rußland, wie die Kiewer Beschreibung lautete, sondern zu Krasnoarmejsk, einer Stadt, die seit Anfang Mai von der ukrainischen Nationalgarde kontrolliert wird.

Natürlich stellt sich die Frage, wozu die ukrainische Armee gleich mehrere Flugabwehrbatterien in einem Kampfgebiet stationiert haben sollte, in dem der Gegner keine eigene Luftwaffe besitzt. Um eine eventuelle russische Luftlandung im Donbass zu vereiteln? Ein mögliches, aber kein zwingendes Motiv. Wieder nach russischen Angaben sollen mehrere Radaranlagen dieser »Buk«-Batterien vor dem Abschuß aktiv gewesen sein. Das 156. Regiment soll am Unglückstag eine Gefechtsübung bis kurz vor dem realen Abschuß durchgeführt haben, hieß es aus Moskau; kurzzeitig war auch zu hören, auf US-Satellitenaufnahmen seien ukrainische Batterien und darum herum haufenweise leere Bierflaschen zu sehen. War es also ein Manöverunfall im Suff?

Kaum noch ohne die Unterstellung eines zumindest bedingten Vorsatzes der ukrainischen Seite ist ein zweiter Argumentationsstrang denkbar. Er wird mit etwas geringerer Intensität von offizieller Moskauer Seite vertreten, dagegen stark in der internationalen Blogosphäre. Eine zentrale Rolle spielt dabei ein ukrainisches Kampfflugzeug vom Typ SU-25, das offenbar unmittelbar vor dem Abschuß auf einem Parallelkurs zu der Unglücksmaschine geflogen ist. An dieser Stelle gibt es zwei Hypothesen: die eine, daß die ukrainische Maschine den Radarschatten des Zivilflugzeugs bewußt genutzt habe, um sich im Anflug auf Ziele des Gegners zu tarnen – die andere, daß es dort geflogen sei, um die angeblichen »Buk«-Batterien der Rebellen zu täuschen. Denn das Suchradar des »Buk«-Systems stellt sich automatisch auf das stärkste Signal um, und das wäre in diesem Fall von der Verkehrsmaschine ausgegangen. Jede dieser Hypothesen unterstellt, daß die ukrainische Seite einen Abschuß des Verkehrsflugzeuges zumindest billigend in Kauf genommen habe. Diese Thesen sind gegenwärtig nicht bewiesen, ebensowenig wie die noch gewagtere Aussage, daß das Flugzeug überhaupt nicht durch eine »Buk«-Rakete abgeschossen worden sei, sondern aus der Bordkanone der erwähnten ukrainischen SU-25. Im Netz werden für den Nichtfachmann schwer zu beurteilende Debatten über den Charakter der Einschußlöcher an der malaysischen Boeing 777 geführt: Zeigen sie das typische Splittereinschlagsmuster einer außerhalb des Flugzeugs explodierten Rakete oder vielmehr durch ihren Durchmesser von mehr als 30 Millimetern einer Bordkanone zuzuordnende Einschüsse? Ein ehemaliger Lufthansa-Pilot meint auf seinem Blog sogar, Hinweise auf einen Beschuß des Cockpits von zwei Seiten gefunden zu haben: Manche Trümmerteile wiesen nämlich an ihren Rändern sowohl nach innen als auch nach außen gebogene Schußlöcher auf. Auch sei gezielt das Cockpit angegriffen worden. Soweit ist Rußland bisher nicht gegangen; denn diese Hypothese läuft auf einen vorsätzlichen Abschuß hinaus. Eine Provokation mit 300 Toten.

** Aus: junge Welt, Samstag 23. August 2014

Das Buch zum Thema:

"Ein Spiel mit dem Feuer"
Im Papyrossa-Verlag ist Ende August 2014 ein Ukraine-Buch erschienen
Mit Beiträgen von Erhard Crome, Daniela Dahn, Kai Ehlers, Willi Gerns, Ulli Gellermann, Lühr Henken, Arno Klönne, Jörg Kronauer, Reinhard Lauterbach, Norman Paech, Ulrich Schneider, Eckart Spoo, Peter Strutynski, Jürgen Wagner, Susann Witt-Stahl
Informationen zum Buch (Inhalt und Einführung)




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