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"Kein Platz für Alternativen"

US-Friedensaktivist Joseph Gerson über Kritik am US-Wahlsystem und die Erschöpfung der Friedensbewegung *



nd: Im Wahlkampf griff Präsident Barack Obama die ungleiche Verteilung von Reichtum als Thema auf. Die Occupy-Bewegung scheint in den USA die politische Debatte nachhaltig beeinflusst zu haben.

Gerson: Die große Errungenschaft der Occupy-Bewegung war eine Transformation des politischen Diskurses in den USA. Occupy schaffte es, den Blick der Gesellschaft auf die brutale, unfaire Realität zu richten, in der das oberste eine Prozent der Gesellschaft über 40 Prozent des Reichtums kontrolliert, während die Armen zunehmend marginalisiert und von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen werden. Dennoch ist Occupy im Vergleich zum letzten Jahr heute nur noch ein Schatten seiner Selbst. Die Bewegung verweigert sich jeglicher Forderungen und Führung. Dieser Anarchismus lähmt sie.

Welche Rolle spielten im Wahlkampf die Anliegen sozialer Bewegungen?

Die USA befindet sich mitten in der Finanzkrise. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 8 Prozent und Millionen sind von Zwangsvollstreckungen und Zwangsräumungen bedroht. Während die Republikaner Steuern für Reiche senken und essenzielle Sozialleistungen abschaffen wollen, griff Obama die Occupy-Rhetorik auf. Friedenspolitische Fragen spielten leider kaum eine Rolle im Wahlkampf. Trotz Lippenbekenntnissen von Obama und seinem Herausforderer Romney zum Abzug 2014 aus Afghanistan wollen beide eine große Anzahl an Kampftruppen im Land belassen. Mit beiden wird es weder einen Abzug noch ein Ende des Krieges geben, sondern eine Intensivierung der gezielten Tötungen und des »Kriegs gegen den Terror«.

Eine friedenspolitische Alternative scheint es in den USA nicht zu geben.

Nein, die USA haben ein Zwei-Parteien-System. Die amerikanische Verfassung erschwert Kampagnen für dritte Parteien extrem. In wenigen Staaten nur schaffen es dritte Parteien überhaupt, zur Wahl zugelassen zu werden. Allerdings haben diese nicht den Hauch einer Chance. Im US-Wahlsystem ist kein Platz für Alternativen.

Wie hat die Friedensbewegung auf diese Alternativlosigkeit im Wahlkampf reagiert? Für welchen Kandidaten hat sie sich entschieden?

Das geringere Übel ist Obama. Viele haben sich deshalb für ihn entschieden. Wiederum andere engagierten sich für kleinere, dritte Parteien. Viele aber gingen einfach nicht wählen. Das Problem ist das undemokratische System: Der Wahlkampf der Demokraten wurde von Wallstreet, der Hightech-Industrie und von Hollywood finanziert, der der Republikaner von der Rüstungs-, Öl-, und Bauindustrie. In den USA gelten Firmen rechtlich als Individuen und haben das Recht auf freie Meinungsäußerung und auf die Zahlung von Spendengeldern. Ohne diese Millionen lässt sich kein Wahlkampf führen. Der Präsident der USA singt immer das Lied seiner großen Wahlkampfspender.

Vor welchen Herausforderungen steht die Friedensbewegung in den USA, gerade in Bezug auf Afghanistan?

Die US-Friedensbewegung befindet sich an einem Tiefpunkt. Nach elf Jahren sind wir kriegsmüde und erschöpft. Trotz Demonstrationen, Lobbying, Leserbriefen und zivilem Ungehorsam ist es uns nicht gelungen, das Töten zu beenden. In diesen düsteren Zeiten sehe ich aber auch Lichtblicke wie zum Beispiel die Vernetzung mit afghanischen Gruppen, wie sie kürzlich in Deutschland bei einem internationalen Friedenskongress einen großen Schritt voran gekommen ist. Auch in den USA verstärken wir unsere Bündnisarbeit: Die traditionell eher aus mittelständischen Weißen bestehende Friedensbewegung sucht den Schulterschluss mit anderen Aktivisten und Gewerkschaften, um für fundamentale soziale und politische Veränderungen zu kämpfen. Solche Strategien bewegungsübergreifender Bündnispolitik wurden zum Beispiel beim NATO-Gegengipfel in Chicago und beim Referendum für soziale Gerechtigkeit in Massachusetts verfolgt. In dem Referendum forderten wir die Beibehaltung von wichtigen Sozialleistungen und die Generierung von Arbeitsplätzen über eine Besteuerung der reichsten 2 Prozent und den Abzug aller im Ausland stationierter US-Soldaten.

* Joseph Gerson gehört zu den wichtigsten Stimmen der US-Friedensbewegung. Er ist Abrüstungskoordinator der Quäker-Organisation »American Friends Service Comittee«, Autor mehrerer Bücher und Initiator der neuen Arbeitsgruppe »Frieden und Abrüstung in Asien und im Pazifischen Raum« (www.asiapacificinitiative.org), die den militärischen Strategiewechsel der USA thematisiert. Mit dem Friedensaktivisten sprach Lucas Wirl.

Gersons Rede auf dem internationalen Friedenskongress »Wege zum Frieden in Afghanistan« ist auf www.afghanistanprotest.de dokumentiert.


* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 07. November 2012


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