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"Wir müssen aufhören, die Sprache der Gewalt zu sprechen"

Wladimir Putin antwortet in der New York Times auf die Syrien-Rede des US-Präsidenten Obama. Der Namensartikel im Wortlaut (deutsch) *


Unter der Überschrift "Russlands Plädoyer für Vorsicht. Was Putin den Amerikanern über Syrien zu sagen hat" veröffentlichte die Onlineausgabe der New York Times am Mittwoch, den 11. September 2013, einen Gastbeitrag von Wladimir Putin. In dem Beitrag befasst sich der russische Präsident mit den US-Plänen für einen Angriff gegen Syrien. Es ist eine Antwort auf Obamas Rede an die Nation vom 10. September. Wir veröffentlichen den Text in einer von der "jungen Welt" besorgten Übersetzung.


Russlands Plädoyer für Vorsicht. Was Putin den Amerikanern über Syrien zu sagen hat

Moskau. Die jüngsten Ereignisse rund um Syrien haben mich veranlaßt, das amerikanische Volk und seine politischen Führer direkt anzusprechen. In einer Zeit unzureichender Kommunikation zwischen unseren Gesellschaften ist es wichtig, dies zu tun.

Die Beziehungen zwischen uns haben verschiedene Stadien durchlaufen. Während des Kalten Krieges standen wir gegeneinander. Aber einmal waren wir auch Verbündete und besiegten gemeinsam die Nazis. Die universelle internationale Organisation – die UNO – wurde seinerzeit gegründet, um zu verhindern, daß eine solche Verwüstung sich jemals wiederholt.

Die Gründer der Vereinten Nationen hatten verstanden, daß Entscheidungen über Krieg und Frieden nur im Konsens getroffen werden sollten, und mit Amerikas Zustimmung wurde das Vetorecht der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates in der Charta der UNO verankert. Diese weise Entscheidung hat Jahrzehnte hindurch die Stabilität internationaler Beziehungen gestärkt.

Niemand will, daß die Vereinten Nationen das Schicksal des Völkerbundes ereilt, der zusammenbrach, weil ihm Durchsetzungskraft fehlte. Aber dies könnte geschehen, wenn einflußreiche Staaten die Vereinten Nationen umgehen und ohne Genehmigung des Sicherheitsrats zu militärischen Mitteln greifen.

Der potentielle Angriff der Vereinigten Staaten gegen Syrien, der trotz des starken Widerstands aus vielen Ländern und seitens zahlreicher bedeutender politischer und religiöser Führer einschließlich des Papstes weiterhin möglich ist, würde mehr unschuldige Opfer und eine Eskalation zur Folge haben, den Konflikt weit über Syriens Grenzen hinaustragen. Ein Angriff würde zu noch mehr Gewalt führen und eine neue Welle des Terrorismus auslösen. Er würde multilaterale Anstrengungen, das iranische Atomproblem und den israelisch-palästinensischen Konflikt zu lösen, untergraben sowie den Mittleren Osten und Nordafrika weiter destabilisieren. Er könnte das gesamte weltweite System von Recht und Ordnung aus dem Gleichgewicht bringen.

Syrien erlebt keinen Kampf für Demokratie, sondern einen bewaffneten Konflikt zwischen Regierung und Opposition in einem multireligiösen Land. Es gibt nur wenige Streiter für Demokratie in Syrien. Aber es gibt mehr als genug Al-Qaida-Krieger und Extremisten jeder Couleur, die die Regierung bekämpfen. Das Außenministerium der Vereinigten Staaten hat die »Al-Nusra-Front« und den »Islamischen Staat Irak und Levante«, die an der Seite der Opposition kämpfen, zu terroristischen Organisationen erklärt. Dieser interne Konflikt in Syrien, angeheizt durch ausländische Waffen, mit denen die Opposition beliefert wird, ist einer der blutigsten weltweit.

Die Söldner aus arabischen Ländern sowie Hunderte Krieger aus westlichen Staaten und sogar aus Rußland, die dort kämpfen, erfüllen uns mit großer Sorge. Könnten sie nicht mit den Erfahrungen, die sie in Syrien gemacht haben, in unsere Länder zurückkehren? Schließlich zogen Extremisten, die in Libyen gekämpft hatten, weiter nach Mali. Das ist eine Bedrohung für uns alle.

Von Anfang an hat sich Rußland für einen friedlichen Dialog ausgesprochen, der es den Syrern ermöglicht, selbst ein Kompromißmodell für die künftige Entwicklung des Landes auszuarbeiten. Wir schützen nicht die syrische Regierung, sondern das internationale Recht. Wir müssen den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einbeziehen und sind überzeugt: Recht und Ordnung zu verteidigen, das ist eine der wenigen Möglichkeiten zu verhindern, daß die internationalen Beziehungen ins Chaos abgleiten. Das Recht ist nach wie vor das Recht, und wir müssen uns daran halten, ob wir es wollen oder nicht. Im Rahmen des geltenden internationalen Rechts ist die Ausübung von Gewalt ausschließlich zur Selbstverteidigung oder nach einem Beschluß des Sicherheitsrats gestattet. Alles andere ist der UN-Charta zufolge inakzeptabel und stellt einen aggressiven Akt dar.

Niemand bezweifelt, daß in Syrien Giftgas eingesetzt wurde. Aber es gibt jeden Grund anzunehmen, daß es nicht von der syrischen Armee, sondern von Truppen der Opposition eingesetzt wurde, um ein Eingreifen ihrer mächtigen ausländischen Förderer zu provozieren, die an der Seite der Fundamentalisten stehen. Berichte, daß Kämpfer einen weiteren Angriff – diesmal gegen Israel – planen, können nicht ignoriert werden.

Es ist beängstigend, daß es für die Vereinigten Staaten zur Gewohnheit geworden ist, militärisch in innere Konflikte anderer Staaten einzugreifen. Ist das in Amerikas langfristigem Interesse? Ich bezweifle das. Millionen in der ganzen Welt sehen in Amerika kein Modell der Demokratie, sondern ein Land, das ausschließlich auf brutale Gewalt setzt und unter der Parole »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns« Koalitionen zusammenschustert.

Aber Gewalt hat sich als ineffektiv und zwecklos herausgestellt. Afghanistan wankt, und niemand vermag zu sagen, was geschehen wird, wenn die internationalen Truppen sich zurückgezogen haben. Libyen zerfällt in Stämme und Clans. Der Bürgerkrieg im Irak geht mit Dutzenden Toten täglich weiter. Viele in den Vereinigten Staaten ziehen den Vergleich zwischen Irak und Syrien und fragen sich, weshalb ihre Regierung erst unlängst gemachte Fehler wiederholen will.

Es spielt keine Rolle, wie gezielt die Schläge oder wie hochentwickelt die Waffen sind. Zivile Opfer wird es unausweichlich geben, eingeschlossen Alte und Kinder - die durch die Militärschläge geschützt werden sollen.

Die Welt reagiert mit der Frage: Wenn auf das internationale Recht kein Verlaß ist, dann gilt es, andere Wege zu finden, um die eigene Sicherheit zu garantieren. Folglich versucht eine wachsende Zahl von Ländern, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu gelangen. Das ist logisch: Wenn du die Bombe hast, wird dir niemand etwas antun. Uns bleibt, über die Stärkung der Nichtweiterverbreitung zu sprechen, während die entsprechenden Regelungen faktisch erodieren.

Wir müssen aufhören, die Sprache der Gewalt zu sprechen und auf den Pfad zivilisierter diplomatischer und politischer Verständigung zurückkehren.

Eine neue Gelegenheit, militärische Schritte zu vermeiden, hat sich in den letzten Tagen ergeben. Die Vereinigten Staaten, Rußland und alle Mitglieder der internationalen Gemeinschaft müssen die Bereitschaft der syrischen Regierung nutzen, ihr Arsenal an chemischen Waffen unter internationale Kontrolle zu stellen, um dieses anschließend zu zerstören. Nach dem zu urteilen, was Präsident Obama verkündet, erkennen die Vereinigten Staaten darin eine Alternative zum militärischen Eingreifen.

Ich begrüße das Interesse des Präsidenten daran, den Dialog mit Rußland über Syrien fortzusetzen. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, diese Hoffnung am Leben zu halten, wie wir es beim G-8-Treffen in Lough Erne in Nordirland [im Juni 2013, jW] vereinbart haben, und die Diskussion wieder auf die Ebene von Verhandlungen zurückbringen.

Wenn wir es vermeiden können, Gewalt gegen Syrien einzusetzen, wird dies die Atmosphäre in den internationalen Beziehungen verbessern und das gegenseitige Vertrauen stärken. Es wird dies unser gemeinsamer Erfolg sein und die Tür zur Zusammenarbeit bei anderen kritischen Themen öffnen.

Meine Beziehung zu Präsident Obama ist sowohl auf der Ebene der Arbeit als auch persönlich gekennzeichnet durch wachsendes Vertrauen. Ich weiß das zu würdigen. Ich habe seine Ansprache an die Nation vom Dienstag gründlich studiert. Und ich würde ihm eher widersprechen bei einer Feststellung, die er mit Blick auf die amerikanische Einzigartigkeit gemacht hat, als er konstatierte, daß es die Politik der Vereinigten Staaten sei, »die Amerika von anderen unterscheide. Sie ist es, die uns zu etwas Außergewöhnlichem macht.« Es ist extrem gefährlich, jemanden, aus welchem Grund auch immer, zu etwas Außergewöhnlichem zu machen. Es gibt große Länder und kleine, reiche und arme, jene mit langen demokratischen Traditionen und jene, die noch im Begriff sind, ihren Weg zur Demokratie zu finden. Auch ihre Politik unterscheidet sich. Wir sind alle verschieden, aber wenn wir um Gottes Segen bitten, dürfen wir nicht vergessen, daß Gott uns alle gleich geschaffen hat.

[Übersetzung: Stefan Huth]

* Aus: junge welt, Freitag, 13. September 2013


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