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"Auch ein begrenzter Angriff wird Assad eine Botschaft vermitteln, die kein anderes Land vermitteln kann"

Rede von US-Präsident Barack Obama an die Nation: Der Angriff auf Syrien ist nur aufgeschoben, nicht aufgehoben - Die USA sind "demütig, aber entschlossen"


Im Folgenden dokumentieren wir die Rede von US-Präsident Barack Obama zur Situation in Syrien vom 10. September 2013. Die Übersetzung besorgte der Amerika Dienst.

Rede des Präsidenten

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, heute Abend möchte ich mit Ihnen über Syrien sprechen: darüber, warum es wichtig ist und welchen Weg wir nun einschlagen.

In den vergangenen zwei Jahren ist das, was als friedlicher Protest gegen das repressive Regime von Baschar al-Assad begann, zu einem brutalen Bürgerkrieg geworden. Über 100.000 Menschen wurden getötet. Millionen von Menschen sind aus dem Land geflüchtet. In dieser Zeit haben die Vereinigten Staaten von Amerika mit Verbündeten zusammengearbeitet, um humanitäre Hilfe zu leisten, die moderate Opposition zu unterstützen und eine politische Einigung zu erreichen. Den Rufen nach einer militärischen Lösung habe ich jedoch widerstanden, weil wir den Bürgerkrieg eines anderen Landes nicht durch Gewalt beilegen können, insbesondere nach zehn Jahren Krieg im Irak und in Afghanistan.

Die Situation hat sich jedoch drastisch verändert, als Assads Regierung am 21. August über Tausend Menschen, darunter Hunderte von Kindern, mit Giftgas ermordete. Die Bilder von diesem Massaker sind widerlich. Männer, Frauen und Kinder liegen aufgereiht, getötet durch Giftgas. Anderen tritt Schaum aus dem Mund, sie ringen um Luft. Ein Vater drückt seine toten Kinder an sich und fleht sie an aufzustehen und zu laufen. An diesem furchtbaren Abend wurden der Welt grauenhaft detailliert die schrecklichen Eigenschaften von Chemiewaffen vor Augen geführt und gezeigt, warum die Mehrheit der Menschheit sie als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstoß gegen internationales Kriegsrecht ächtet.

Das war nicht immer so. Im Ersten Weltkrieg waren amerikanische GIs unter den vielen Tausenden, die in den Schützengräben Europas durch Giftgas ums Leben kamen. Im Zweiten Weltkrieg bedienten sich die Nationalsozialisten des Gases für die Grauen des Holocaust. Weil diese Waffen in großem Ausmaß töten können und nicht zwischen Soldat und Säugling unterscheiden, hat die Welt ein Jahrhundert lang daran gearbeitet, sie zu verbieten. 1997 stimmte der Senat der Vereinigten Staaten mit überwältigender Mehrheit für ein internationales Übereinkommen, das den Einsatz chemischer Waffen verbietet. Diesem Übereinkommen gehören mittlerweile 189 Regierungen an, die 98 Prozent der Menschheit vertreten.

Am 21. August wurde gegen diese Grundregeln und gegen unser Verständnis von einer gemeinsamen Menschlichkeit verstoßen. Niemand bestreitet, dass in Syrien Chemiewaffen eingesetzt wurden. Die Welt hat Tausende von Videos und Handyaufnahmen gesehen und Berichte in sozialen Medien von den Anschlägen gelesen, und humanitäre Hilfsorganisationen haben von überfüllten Krankenhäusern erzählt, in denen zahlreiche Menschen mit Giftgassymptomen lagen.

Zudem wissen wir, dass das Assad-Regime dafür verantwortlich war. Wir wissen, dass Assads Chemiewaffenexperten in den Tagen vor dem 21. August in der Nähe eines Gebiets, wo sie das Giftgas Sarin herstellen, einen Angriff vorbereitet haben. Sie haben Gasmasken an ihre Soldaten ausgeteilt. Dann schossen sie Raketen aus einem vom Regime kontrollierten Gebiet in die elf Bezirke, die das Regime von Oppositionskräften säubern wollte. Kurz nachdem diese Raketen landeten, breitete sich das Gas aus, und in die Krankenhäuser wurden Sterbende und Verwundete eingeliefert. Wir wissen, dass hochrangige Personen in Assads Militärmaschinerie die Folgen des Angriffs überprüft haben und das Regime in den folgenden Tagen die Bombardierung der gleichen Viertel intensivierte. Wir haben außerdem Blut- und Haarproben von Menschen untersucht, die sich in dem Gebiet befanden, und positive Resultate für Sarin erhalten.

Wenn Diktatoren Gräueltaten verüben, sind sie davon abhängig, dass die Welt wegschaut, bis diese furchtbaren Bilder in der Erinnerung verblassen. Aber diese Dinge sind geschehen. Die Fakten können nicht geleugnet werden. Die Frage lautet jetzt, was die Vereinigten Staaten von Amerika und die internationale Gemeinschaft bereit sind, dagegen zu unternehmen. Was diesen Menschen geschehen ist – diesen Kindern – ist nicht nur ein Verstoß gegen das Völkerrecht, sondern auch eine Gefahr für unsere Sicherheit.

Lassen Sie mich das erklären. Wenn wir nicht handeln, wird das Assad-Regime keinen Grund sehen, auf den Einsatz von Chemiewaffen zu verzichten. Wenn das Verbot dieser Waffen unterlaufen wird, werden andere Tyrannen keinen Grund haben zu zögern, bevor sie sich Giftgas beschaffen und einsetzen. Mit der Zeit müssten unsere Truppen wieder mit chemischer Kriegsführung auf dem Schlachtfeld rechnen. Für Terrororganisationen wäre es leichter, sich diese Waffen zu beschaffen und sie zum Angriff auf Zivilisten einzusetzen.

Wenn sich die Kämpfe über die syrischen Grenzen hinaus ausbreiteten, könnten diese Waffen Verbündete wie die Türkei, Jordanien und Israel bedrohen. Wenn wir uns nicht gegen den Einsatz von Chemiewaffen stellen, würde dies das Verbot anderer Massenvernichtungswaffen schwächen und den Verbündeten Assads ermutigen: Der Iran muss sich entscheiden, ob er das Völkerrecht ignoriert, indem er eine Atomwaffe baut, oder ob er einen friedlicheren Weg einschlägt.

Eine solche Welt sollten wir nicht hinnehmen. Das steht auf dem Spiel. Deshalb habe ich nach sorgfältiger Abwägung entschieden, dass es den nationalen Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten entspricht, auf den Einsatz von Chemiewaffen durch das Assad-Regime mit einem gezielten Militärschlag zu reagieren. Ziel dieses Militärschlags wäre es, Assad davon abzuhalten, Chemieaffen einzusetzen, die Fähigkeit seines Regimes zu schwächen, sie zu nutzen, und der Welt klarzumachen, dass wir ihren Einsatz nicht dulden werden.

Das ist meine Bewertung als Oberbefehlshaber. Allerdings bin ich auch der Präsident einer der ältesten konstitutionellen Demokratien der Welt. Obwohl ich also die Befugnis habe, Militärschläge anzuordnen, war es meines Erachtens richtig, diese Debatte in Ermangelung einer unmittelbar drohenden Gefahr für unsere Sicherheit im Kongress zu führen. Meiner Ansicht nach ist unsere Demokratie stärker, wenn der Präsident mit der Unterstützung des Kongresses handelt. Und ich glaube, dass die Vereinigten Staaten im Ausland effektiver handeln können, wenn wir zusammenstehen.

Dies gilt insbesondere nach einem Jahrzehnt, in dem die Befugnis, über Kriege zu entscheiden, zunehmend in der Hand des Präsidenten lag, und unseren Truppen immer größere Lasten trugen, während die Volksvertreter bei den wichtigen Entscheidungen über den Einsatz von Gewalt an den Rand gedrängt wurden.

Ich weiß, dass der Gedanke an ein militärisches Vorgehen, so begrenzt es auch sein mag, nach dem schrecklichen Tribut, den Irak und Afghanistan gefordert haben, nicht sonderlich beliebt sein wird. Schließlich habe ich viereinhalb Jahre daran gearbeitet, Kriege zu beenden, nicht, sie zu anzufangen. Unsere Truppen stehen nicht mehr im Irak. Unsere Truppen kehren aus Afghanistan zurück. Ich weiß, dass die Amerikaner wollen, dass wir alle in Washington – und insbesondere ich – uns auf die Aufgabe konzentrieren, unser Land hier Zuhause aufzubauen, indem wir den Menschen Arbeitsplätze und unseren Kindern Bildung vermitteln und unsere Mittelschicht fördern.

Kein Wunder also, dass Sie schwierige Fragen stellen. Ich möchte gerne einige der wichtigsten Fragen beantworten, die ich von Mitgliedern des Kongresses gehört und in Briefen, die Sie mir geschickt haben, gelesen habe.

Zunächst haben mich viele von Ihnen gefragt, ob wir damit nicht in einen weiteren Krieg hineinschlittern könnten. Ein Mann schrieb mir, dass wir „uns noch von unserer Intervention im Irak erholen“. Ein Veteran drückte sich unmissverständlicher aus: „Unser Land hat den Krieg satt.“

Meine Antwort ist ganz einfach: Ich werde keine amerikanischen Bodentruppen nach Syrien entsenden. Ich werde keine Maßnahmen mit offenem Ende verfolgen, wie in Irak oder Afghanistan. Ich werde keinen Luftfeldzug über länger Zeit verfolgen, wie in Libyen oder im Kosovo. Es würde sich um einen gezielten Militärschlag mit klarem Ziel handeln: vom Einsatz chemischer Waffen abzuschrecken und Assads Fähigkeiten zu schwächen.

Andere haben gefragt, ob wir überhaupt handeln sollten, wenn wir Assad nicht ausschalten. Wie einige Mitglieder des Kongresses gesagt haben, ist es wenig sinnvoll, in Syrien einen „nadelstichartigen“ Militärschlag durchzuführen.

Eines möchte ich ganz deutlich sagen: Die Vereinigten Staaten versetzen keine Nadelstiche. Auch ein begrenzter Angriff wird Assad eine Botschaft vermitteln, die kein anderes Land vermitteln kann. Ich denke nicht, dass wir einen weiteren Diktator mit Gewalt entfernen sollten. Wir haben im Irak die Erfahrung gemacht, dass man uns für alles, was folgt, verantwortlich macht. Ein gezielter Schlag kann Assad, oder jeden anderen Diktator, jedoch dazu bringen, den Einsatz von Chemiewaffen noch einmal zu überdenken.

Bei anderen Fragen ging es um die Gefahr von Vergeltungsmaßnahmen. Wir tun keine Bedrohung als unwesentlich ab, aber das Regime Assad verfügt nicht über die Fähigkeit, unsere Streitkräfte ernsthaft zu bedrohen. Jede andere Vergeltungsmaßnahme ist vergleichbar mit den Bedrohungen, denen wir uns jeden Tag gegenübersehen. Weder Assad noch seine Verbündeten haben ein Interesse an einer Eskalation, die zum Ende seiner Herrschaft führen würde. Und unser Verbündeter Israel ist selbst stark genug um sich zu verteidigen und kann sich auf die unerschütterliche Unterstützung der Vereinigten Staaten von Amerika verlassen.

Viele von Ihnen haben eine weiterreichende Frage gestellt: Warum sollten wir uns an einem Ort einmischen, der so kompliziert ist und wo - wie eine mir Person schrieb - „diejenigen, die nach Assad kommen, womöglich Feinde der Menschenrechte sind?“

Es stimmt, dass einige der Assad-Gegner Extremisten sind. Aber Al Kaida wird in einem chaotischeren Syrien nur noch weiter gestärkt, wenn die Menschen dort erkennen, dass die Welt nichts tut, um unschuldige Zivilisten vor dem Gastod zu retten. Die Mehrheit der Syrer und die syrische Opposition, mit der wir arbeiten, wollen einfach nur in Frieden, Würde und Freiheit leben. Am Tag nach einem Militärschlag würden wir deshalb unser Bemühungen um eine politische Lösung verdoppeln, die diejenigen stärkt, die die Gewalt der Tyrannei und des Extremismus ablehnen.

Und schließlich haben viele von Ihnen gefragt: Warum überlassen wir dies nicht anderen Ländern oder suchen nach Lösungen ohne den Einsatz von Gewalt? Mehrere Menschen schrieben mir: „Wir sollten nicht die Weltpolizei spielen.“

Das stimmt, und ich bevorzuge friedliche Lösungen zutiefst. In den vergangenen zwei Jahren hat meine Regierung es mit Diplomatie und Sanktionen versucht, mit Warnungen und Verhandlungen, aber das Regime Assad hat trotzdem Chemiewaffen eingesetzt.

In den letzten beiden Tagen gab es allerdings einige ermutigende Zeichen. Zum Teil aufgrund der glaubhaften Drohung mit einem US-Militärschlag sowie konstruktiver Gespräche, die ich mit Präsident Putin geführt habe, hat die russische Regierung sich bereit erklärt, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft Assad zu drängen, seine Chemiewaffen aufzugeben. Das Assad-Regime hat jetzt zugegeben, dass es im Besitz dieser Waffen ist, und sogar erklärt, dem Chemiewaffenübereinkommen beizutreten, das ihren Einsatz verbietet.

Es ist zu früh, um etwas über den Erfolg dieses Angebots zu sagen, und jede Einigung muss sicherstellen, dass das Assad-Regime seine Verpflichtungen einhält. Aber diese Initiative hat das Potenzial, die Bedrohung durch Chemiewaffen ohne den Einsatz von Gewalt zu beseitigen, insbesondere weil Russland einer der stärksten Verbündeten Assads ist.

Ich habe deshalb die Kongressführer gebeten, die Abstimmung über die Genehmigung des Einsatzes von Gewalt zu verschieben, während wir diesen diplomatischen Weg verfolgen. Ich werde Außenminister John Kerry am Donnerstag zu einem Treffen mit seinem russischen Amtskollegen schicken und meine eigenen Gespräche mit Präsident Putin fortsetzen. Ich habe mit den Regierungschefs von zwei unserer engsten Verbündeten gesprochen, Frankreich und Großbritannien, und wir werden gemeinsam in Abstimmung mit Russland und China daran arbeiten, im VN-Sicherheitsrat eine Resolution vorzulegen, die Assad auffordert, seine Chemiewaffen aufzugeben und sie unter internationaler Kontrolle zu zerstören. Wir werden den VN-Inspektoren außerdem die Möglichkeit geben, ihre Erkenntnisse über die Ereignisse am 21. August darzulegen. Zudem werden wir von Europa bis Amerika, von Asien bis zum Nahen Osten, weiter um die Unterstützung von Verbündeten werben, die sich einig sind, dass gehandelt werden muss.

Inzwischen habe ich unsere Streitkräfte angewiesen, das aktuelle Einsatzkonzept beizubehalten und den Druck auf Assad aufrechtzuerhalten und bereitzustehen, falls die Diplomatie scheitert. Heute Abend möchte ich unseren Streitkräften und den Familienangehörigen für ihre unglaubliche Stärke und für ihre Opfer danken.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, seit fast siebzig Jahren sind die Vereinigten Staaten der Anker der globalen Sicherheit. Das beinhaltetet mehr als den Abschluss internationaler Abkommen – es beinhaltetet auch deren Durchsetzung. Die Last der Führungsrolle ist oft schwer, aber die Welt ist ein besserer Ort, weil wir diese Last auf uns genommen haben.

Deshalb bitte ich meine Freunde zu meiner Rechten, ihr Bekenntnis zur militärischen Macht der Vereinigten Staaten mit dem Nichthandeln in Einklang zu bringen, da es sich doch um eine so offensichtlich gerechte Sache handelt. Meine Freunde zu meiner Linken bitte ich, ihren Glauben an die Freiheit und Würde aller Menschen mit den Bildern von Kindern in Einklang zu bringen, die sich vor Schmerz winden und schließlich still auf einem kalten Krankenhausboden liegen. Denn manchmal reichen Resolutionen und Verurteilungserklärungen einfach nicht aus.

In der Tat möchte ich jedes Mitglied des Kongresses und Sie alle, die heute Abend Zuhause zusehen, bitten, sich die Videos dieser Angriffe anzusehen und sich dann zu fragen: In welcher Welt werden wir leben, wenn die Vereinigten Staaten von Amerika sehen, wie ein Diktator mit dem Einsatz von Giftgas schamlos gegen das Völkerrecht verstößt und dann einfach wegschauen?

Franklin Roosevelt sagte einmal: „Unsere nationale Entschlossenheit, uns aus fremden Kriegen und Verwicklungen im Ausland herauszuhalten, hindert uns nicht daran, große Besorgnis zu empfinden, wenn Ideale und Prinzipien herausgefordert werden, die uns am Herzen liegen.“ Unsere Ideale und Prinzipien wie auch unsere nationale Sicherheit stehen in Syrien auf dem Spiel, ebenso wie unsere Führungsrolle in einer Welt, auf der wir sicherstellen wollen, dass die schlimmsten Waffen nie eingesetzt werden.

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind nicht die Weltpolizei. Schreckliche Dinge geschehen auf der ganzen Welt, und es überschreitet unsere Möglichkeiten, jedes Unrecht zu richten. Wenn wir aber, mit bescheidenem Einsatz und Risiko, Kinder vor dem Tod durch Giftgas retten können und unsere Kinder damit langfristig sicherer sind, dann sollten wir meines Erachtens handeln. Das unterscheidet die Vereinigten Staaten von anderen. Das macht uns außergewöhnlich. Demütig, aber entschlossen, sollten wir diese entscheidende Wahrheit nie aus den Augen verlieren.

Vielen Dank. Möge Gott Sie segnen. Und möge Gott die Vereinigten Staaten von Amerika segnen.

Originaltext: Remarks by the President in Address to the Nation on Syria

Herausgeber: US-Botschaft Berlin, Abteilung für öffentliche Angelegenheiten; http://blogs.usembassy.gov/amerikadienst/



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