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Unsere Bewegung wächst noch

Angela Davis zu Occupy, der Regierung Obama und dem gefängnisindustriellen Komplex in den USA *


nd: Bekanntgeworden sind Sie hierzulande, als Ihnen 1970 als Bürgerrechtlerin in den USA nach falschen Anschuldigungen die Todesstrafe drohte. Sicher auch dank einer großen Solidaritätsbewegung - in der DDR zum Beispiel waren Sie danach jedem Schulkind ein Begriff - wurden Sie damals freigesprochen.

Davis: Mit der Situation in den Gefängnissen haben Sie sich aber schon seit 1960 beschäftigt. Nach Ihrem Freispruch waren Sie Mitbegründerin von Critical Resistance, einer Bürgerbewegung, die sich zum Ziel gesetzt hat, der Gefängnishaft als Allheilmittel der Gesellschaft für ihre sozialen Probleme entgegenzutreten. Sie sprechen auch vom »gefängnisindustriellen Komplex«.

Die Regierung der USA ist fest entschlossen, an ihrem System der Einkerkerung festzuhalten, um Menschen zu unterdrücken, die sich für radikal-politische Ziele engagieren. Das zeigten nicht nur die Hinrichtung von Troy Davis am 21. September, die anhaltenden Inhaftierungen von Mumia Abu-Jamal, Leonard Peltier oder der sogenannten »Cuban five«, sondern überhaupt die Tendenz, dass immer mehr Menschen in US-Gefängnissen einsitzen; insgesamt wohl bald 2,5 Millionen. Die Regierung sperrt Menschen eher ein, als sie angemessen mit Bildung, Gesundheitseinrichtungen oder Wohnraum zu versorgen.

In den USA waren wir schon erfolgreich bei Protesten gegen den Bau weiterer Gefängnisse. Aber der gefängnisindustrielle Komplex existiert weltweit, oft nach dem Muster US-amerikanischer Strafvollzugseinrichtungen. Dagegen stemmt sich eine wachsende globale Bewegung, etwa in den USA, Kanada, Australien, Europa und anderen Teilen der Welt, die sich weiter ausbreiten muss.

Der Kongress der Vereinigten Staaten hat kürzlich einem 662 Milliarden Dollar teuren Maßnahmepaket für das Militär zugestimmt. Darin ist eine umstrittene Klausel enthalten, wonach künftig auch US-amerikanische Staatsbürger bei Terrorismusverdacht unbefristet inhaftiert und sogar gefoltert werden könnten. Angeblich plant Präsident Barack Obama kein Veto gegen Letzteres, obwohl damit ein seit 220 Jahren bestehendes Bürgerrecht untergraben würde. Ist eine Inhaftierung im Gefangenenlager Guantanamo, das Präsident Obama einst zu schließen versprach, nunmehr eine potenzielle Bedrohung für alle Amerikaner?

Es gibt da eine lange Vorgeschichte. Während der 60er Jahre hatte Edgar Hoover die Black Panther Partei zur »größten Bedrohung der nationalen Sicherheit« erklärt und sich dabei der ideologischen Macht des Rassismus bedient. Der Rassismus machte es auch möglich, dass während des Zweiten Weltkrieges viele in den USA lebende Japaner ohne Urteil eingekerkert werden konnten. Darüber hinaus diente in den 50er und 60er Jahren der Antikommunismus als Vorwand für Inhaftierungen von Menschen mit allgemein progressiven Ansichten, auch wenn sie gar keine Mitglieder der Kommunistischen Partei waren. Schließlich gab es ein Gesetz der Regierung von George W. Bush, den Patriot Act, dessen islamophobe Züge eine besonders giftige Form des Rassismus darstellten.

Das jetzige Gesetz der Regierung Obama will unter dem Vorwand, das Land vor Terrorismus zu schützen, nun erneut Bürgerrechte und Freiheiten aushöhlen, aber es ist nur ein weiterer Ausdruck von staatlicher Gewalt.

Sollten sich Aktivisten trotz ihrer Enttäuschung über Präsident Obama für dessen Wiederwahl 2012 einsetzen? Oder sollten sie besser einen unabhängigen Kandidaten unterstützen, auch wenn der nur geringe Chancen hätte?

Sowohl die Partei der Republikaner als auch die Demokraten sind unmittelbar mit dem Geld der Konzerne verbunden. In den USA gibt es nach wie vor die Herausforderung, eine unabhängige dritte politische Macht im Land zu etablieren, die für die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter einsteht, für Menschen aus der nichtweißen Bevölkerung, und die unabhängig ist von den kapitalistischen Großkonzernen. Bis das gelingt, ist es zunächst einmal wichtig, dass die kommenden Wahlen nicht von den Republikanern gewonnen werden. Obwohl Präsident Obama den Erwartungen nicht gerecht geworden ist, muss man 2012 unbedingt seine Wiederwahl unterstützen. Bedenken Sie, dass sein Amtsantritt erst die Bedingungen schuf, aus denen die heutige Occupy-Bewegung hervorgegangen ist.

Ist die Occupy-Bewegung ein Zeichen dafür, dass ein Wiederaufleben der Tradition radikaler Protestbewegungen eingesetzt hat, zu denen bereits in den 30er Jahren die Besetzung von Fabrikanlagen gehörte? Oder wird die Bewegung im Wahlkampf 2012 eher der Demokratischen Partei als Gegengewicht zur erzkonservativen Tea-Party-Bewegung dienen?

Viele Anhänger der Occupy-Bewegung hatten sich erfolgreich für den Wahlkampf Barack Obamas engagiert. Was damals als aussichtslose Herausforderung galt - nämlich dass ein Afroamerikaner, der sich mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung identifizierte, zum Präsidenten aller Amerikaner gewählt wird - ist schließlich Wirklichkeit geworden, weil junge Menschen im ganzen Land ihre Freunde, die sich zuvor nie für Politik interessiert hatten, für Obama mobilisieren konnten. Die meisten Obama-Wähler stießen so zu einer Bewegung, die erst im Entstehen war. Stattdessen setzte sich die Tendenz durch, dass Menschen ihre gemeinsamen Hoffnungen und Sehnsüchte lediglich auf den neuen Präsidenten Barack Obama projizierten. Eigentlich hätte die aktive Occupy-Bewegung von heute direkt aus Obamas Wahlsieg hervorgehen müssen. Aber besser spät als nie.

Ich denke, dass progressiv denkende Menschen zunehmend einsehen, dass wir - und nicht der Präsident - für eben diese Hoffnungen einstehen müssen, auf denen der Obama-Wahlkampf einst aufgebaut wurde. Dass die Occupy-Bewegung von der Demokratischen Partei einfach aufgesogen wird, kann ich mir dagegen nicht vorstellen, denn ihre Anhänger haben bereits demonstriert, dass das, was sie erreichen wollen, sich nicht auf eine einzige politische Partei reduzieren lässt. Möglich dagegen wäre, dass sich durch diese neue Konstellation das politische Bewusstsein weiter nach links bewegen lässt.

Die meisten Camps der Occupy-Bewegung sind in den vergangenen Wochen aufgelöst worden, meist durch brutales Eingreifen der Polizei. Wird die Occupy-Bewegung dennoch weiter bestehen können?

Occupy hat es sich auf die Fahnen geschrieben, den Protest gegen die Ein-Prozent-Elite der Bevölkerung auf vielfältige Weise fortzuführen. Trotz der Räumungen durch die Polizei gehen die Aktionen in Washington und vielen anderen Städten weiter. Im Mittleren Westen beispielsweise unterstützt Occupy Bürger dabei, in ihre geräumten Unterkünfte zurückkehren zu können. Am 12. Dezember gelang es Occupy-Aktivisten, für die Wirtschaft wichtige Häfen an der Westküste lahmzulegen. Neue Proteste sind für Mai geplant, wenn in Chicago der G8- und der NATO-Gipfel stattfinden sollen.

Die Occupy-Bewegung unterscheidet sich von allem, was wir bisher hatten. Es gibt keine Anführer, alle Entscheidungen werden basisdemokratisch getroffen. Die Bewegung ist gegen den Kapitalismus, gegen Rassismus und für Gleichberechtigung. Viele ihrer Anhänger sind gegen die Zerstörung der Umwelt, gegen den gefängnisindustriellen Komplex und gegen Krieg. Sie fordern die Freilassung des Soldaten Bradley Manning (der die Internet-Platform Wikileaks mit die USA-Armee belastendem Material beliefert haben soll - die Red.) und protestieren gegen die Todesstrafe, wie es der hingerichtete Troy Davis in seinen letzten Worten tat. Aus meiner Sicht schrumpft die Bewegung ganz und gar nicht. Im Gegenteil, sie wird weiter wachsen und reifen.

Wie in den USA auch werden in Europa mittlere und untere Einkommensgruppen von den Sparmaßnahmen getroffen, während riesige Geldgeschenke an Banken und Konzerne verteilt werden. Wie können linke Kräfte in Europa und den USA gemeinsam dagegen vorgehen?

Europas antikapitalistische Bewegungen wie die in Griechenland oder Spanien können auf eine lange Geschichte zurückblicken. Ihre Analysen des globalen Kapitalismus könnten auch der Occupy-Bewegung in den USA helfen, ein tieferes Verständnis zu erlangen, wie die internationalen Finanzmärkte und Europas Finanzkrise mit dem wachsenden Druck auf die sozial und einkommensschwächsten Gesellschaftsschichten in den USA zusammenhängen.

US-amerikanische Protestbewegungen können auch anderswo in der Welt als Vorbild dienen. Beispielweise in den besetzten palästinensischen Gebieten, wo sich kürzlich sechs Palästinenser, die einen israelischen Siedlerbus betreten hatten, auf Rosa Parks beriefen. Das ist jene schwarze US-Bürgerrechtlerin, die 1955 in Alabama verhaftet wurde, weil sie einen Sitzplatz, der für weiße Buspassagiere reserviert war, nicht zu räumen bereit war. Teilen Sie diese Ansicht?

Führende Bürgerrechtsaktivisten hier haben sich bereits für diese palästinensische Busbewegung ausgesprochen. Es wären sogar noch mehr, wenn der Bürgerrechtsbewegung in den USA klar wäre, welche Repressalien der israelische Staat gegen die Palästinenser einsetzt, die eindeutig Parallelen zu den einstigen rassistischen Verordnungen einiger Südstaaten der USA oder dem Südafrika der Apartheidzeit aufweisen. Es gibt seit einiger Zeit eine internationale Kampagne namens Boycott, Divestment and Sanctions, kurz BDS, und wie viele andere Bürgerrechtsaktivisten bin auch ich überzeugt, dass diese Bewegung weiter wachsen wird.

Glauben Sie, dass sich mit dem Aufstieg der Linken in Lateinamerika, den Massenprotesten rund um den Arabischen Frühling und neuen Formen des Bürgerprotests in Europa und Nordamerika Chancen für einen neuen, progressiven Internationalismus auftun?

Seit der Auflösung der sozialistischen Staatengemeinschaft in Europa fehlt die Grundlage für eine starke Internationale, die zum Beispiel in der Lage wäre, den fatalen Auswirkungen des globalen Kapitalismus effektiv die Stirn zu bieten. Klar ist, dass wir mit dem gleichzeitigen Aufkommen der Occupy-Bewegung auf verschiedenen Erdteilen, aber auch Massenprotesten, wie wir sie in Spanien oder auf Kairos Tahrir-Platz gesehen haben, tatsächlich den Beginn einer neuen Internationale erleben könnten. Noch können wir nicht einschätzen, ob sich diese neue Protestbewegung etablieren wird. Momentan aber ist es der größte Lichtblick, den das 21. Jahrhun- dert zu bieten hat.

* Angela Yvonne Davis (geboren 1944 in Birmingham, US-Staat Alabama) ist eine US-amerikanische Bürgerrechtlerin, Humanwissenschaftlerin und Philosophin. Im August 1970 wurde ihr vorgeworfen, die Waffe für einen Überfall geliefert zu haben. Das FBI setzte Angela Davis daraufhin auf die Liste der zehn gefährlichsten Verbrecher der USA. Angeklagt wegen »Unterstützung des Terrorismus« drohte ihr die Todesstrafe. Gegen ihre Verhaftung entwickelte sich damals eine weltweite Solidaritätsbewegung. Im Juni 1972 wurde Davis in allen Punkten der Anklage freigesprochen.
Danach lehrte sie unter anderem am Institut für Afrikanisch-Amerikanische Studien am Claremont College und später bei Women's and Ethnic Studies an der San Francisco State University im US-Staat Kalifornien. Zweimal, 1980 und 1984, war Davis Kandidatin der Kommunistischen Partei für die Vizepräsidentschaft der USA.
Das Gespräch mit Angela Davis führte Elsa Rassbach, eine in Berlin lebende US-amerikanische Filmemacherin und Friedensaktivistin. Davis und Rassbach begegneten sich erstmals 1965 auf einer Schiffsüberfahrt von New York nach Bremerhaven. Beide waren damals Stipendiatinnen des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und kamen nach Europa, um Philosophie zu studieren, Davis in Frankfurt am Main, Rassbach in Westberlin.
Übersetzung: Mattes Standke

Aus: neues deutschland, 24. Dezember 2011



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