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"Deutsche Soldaten haben da nichts zu suchen"

Morgen in Lübeck: Protest gegen die Verschiffung deutscher Patriot-Raketen in die Türkei. Ein Gespräch mit Bernd Meimberg *


Bernd Meimberg ist Sprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) Lübeck.

Angehörige der Friedensbewegung wollen am Samstag in der Lübecker Innenstadt dagegen protestieren, daß am 8. Januar deutsche Patriot-Raketen von der Nachbarstadt Travemünde aus in die Türkei verschifft werden. Dort soll die Luftabwehr der Bundeswehr die Grenze nach Syrien sichern. Warum stellen Sie sich gegen den Einsatz?

Die türkische Regierung hat vom Parlament einen Kriegsvorratsbeschluß billigen lassen, der es ihr erlaubt, binnen eines Jahres jederzeit mit Truppen ins Nachbarland Syrien einzumarschieren. Dabei eskaliert die türkische Regierung selbst den syrischen Bürgerkrieg, indem sie islamistische Aufständische finanziert, bewaffnet, ausbildet und über die Grenze einsickern läßt. So destabilisiert sie die Regierung in Damaskus und kann sich deshalb nicht auf einen Verteidigungsfall berufen, der ein Eingreifen der NATO rechtfertigen würde. Darum haben deutsche Soldaten im türkischen Grenzgebiet nichts zu suchen.

Dem Parlamentsbeschluß in Ankara ist aber syrisches Mörserfeuer vorausgegangen, das in der Türkei mehrere Zivilisten das Leben gekostet hat. Die Damaszener Regierung hat sich öffentlich entschuldigt und die Verantwortung dafür eingestanden. Wollen Sie das einfach ignorieren?

Nein, die Vorfälle waren sehr ernst. Aber deutsche Patriot-Raketen sind nicht dazu geeignet, Granatfeuer im Grenzgebiet zu unterbinden. Es sind Luftabwehreinheiten, die gegen Flugzeuge und ballistische Raketen gerichtet sind. Querschläger auf fremdes Territorium kann es leider immer geben, wenn ein Bürgerkrieg nahe der Grenze ausgetragen wird. Auf den syrischen Golanhöhen ist das Gleiche passiert, und den israelischen Besatzungstruppen war an keiner Eskalation gelegen.

Die Türkei mischt sich viel stärker in die Angelegenheiten ihres Nachbarlandes ein. Sie hat sich während des gesamten arabischen Frühlings sehr in den Vordergrund geschoben und ihr eigenes Modell eines vermeintlich gemäßigten Islamismus mit einer säkularen Verfassung als Musterlösung propagiert. Da ist es kein Wunder, wenn sie nun das letzte verbliebene weltliche Regime im arabischen Nahen Osten stürzen will. Außerdem will sie verhindern, daß die syrischen Kurden mehr Autonomie erlangen, was die türkischen Kurden in ihrem Kampf bestärken könnte. »Man soll sich auf den Krieg vorbereiten, wenn man den Frieden will«, hat der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nach dem Grenzzwischenfall gesagt.

Warum hat die türkische Regierung überhaupt Patriot-Raketen angefordert, wenn sie die gar nicht braucht?

Zeitweise war die Einrichtung einer Flugverbotszone über Syrien im Gespräch. Dafür wären Patriot-Abfangraketen sehr gut geeignet. Das paßt auch zu den deutschen AWACS-Einsätzen in der Türkei – das sind Aufklärungsflugzeuge, die großräumig Gebiete überwachen. Die USA haben übrigens mitgeteilt, daß sie Informationen an die Rebellen weitergeben. Gerade die AWACS-Daten sind militärisch sehr interessant für die Aufständischen.

Seit dem Desaster in Libyen werden Rußland und China im UN-Sicherheitsrat einer Flugverbotszone keinesfalls zustimmen, längst ist der Vorschlag vom Tisch. Auch die westlichen Mächte haben durch ihre Einmischung in Libyen fast mehr Feinde als Freunde gewonnen. Warum wird jedes Säbelrasseln gleich als Vorbereitung eines Einmarschs gewertet? Für den Iran wird auch ständig ein Krieg vorhergesagt, obwohl sich selbst die USA dagegen aussprechen.

Ich möchte das auch nicht heraufbeschwören. Als Friedensbewegung können wir die mannigfaltigen Beweggründe und Widersprüche doch gar nicht überblicken. Allerdings müssen wir vor den Gefahren warnen, die – im Falle Teherans – durch die aggressive Rethorik aus Israel und den USA geschürt werden.

Welche Interessen hat die Bundesregierung? Die Beziehungen zu Ghaddafi waren exzellent, wie zu den meisten anderen arabischen Staaten auch. Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) hat sich schon früh gegen eine Militärintervention in Syrien ausgesprochen. Warum schickt die Regierung dann Raketen-Truppen in die Türkei?

Eine weitere Lehre aus Libyen ist, daß niemand daneben stehen möchte, wenn die Beute verteilt wird.

Interview: Mirko Knoche

* Aus: junge Welt, Freitag, 4. Januar 2013

Dokumentiert: Brief des Rostocker Friedensbündnisses

Offener Brief

An die Einwohnerinnen und Einwohner von Sanitz und Bad Sülze
An die Flugabwehrraketengruppen 21 und 24
An den Vorsitzenden des Deutschen Bundeswehrverbandes, Ulrich Kirsch
An den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Prof. Dr. Norbert Lammert
An die Öffentlichkeit

Sehr geehrte Adressatinnen und Adressaten,

Anwohner der Straßen zwischen Bad Sülze, Sanitz und Travemünde können dieser Tage einen im wahrsten Sinne des Wortes hochexplosiven Transport miterleben: „Patriot“-Flugabwehrraketen und die sie begleitende Ausrüstung werden in diesen Tagen aus ihren Standorten in Sanitz und Bad Sülze abgeholt und von Travemünde aus in die Türkei verschifft. Die Mehrzahl der sie bedienenden Soldaten folgt demnächst per Flugzeug. Der nächste Krieg wird vorbereitet.

Nach der ersten Korvette ziehen die nächsten Waffen aus Mecklenburg-Vorpommern in den Krieg: zwei Staffeln von „Patriot“-Raketensystemen. Sie sollen angeblich den NATO-Partner Türkei vor einem Überfall Syriens schützen. Kombiniert wird ihre Stationierung mit dem Einsatz von AWACS-Aufklärungsflugzeugen. Die Türkei hat offiziell „um Hilfe gebeten“, nachdem ihre Regierung selbst Kriegsdrohungen ausgestoßen und nach dem ersten Zwischenfall an der türkisch-syrischen Grenze Anfang Oktober 2012 im Parlament einen Vorratsbeschluss für militärisches Eingreifen durchgedrückt hat, gegen eine beträchtliche Anzahl von Nein-Stimmen und gegen Demonstrationen der türkischen Öffentlichkeit gegen die Kriegsgefahr.

Was sollen die „Patriot“-Systeme in der Türkei? Bislang haben einige Granateneinschläge türkische Grenzorte getroffen. Es handelte sich aller Wahrscheinlichkeit um Querschläger aus Kämpfen zwischen Oppositionellen und syrischen Regierungstruppen. Dafür werden jetzt mit den „Patriot“-Systemen aus MV Flugabwehrraketen in Stellung gebracht – 100 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Die Flugabwehrraketen „Patriot“ reichen aber nur 68 Kilometer weit. Das heißt: Die „Patriot“-Systeme werden zur Bedrohung aufgestellt. Gleichzeitig werden die AWACS-Flugzeuge weit ins syrische Gebiet spähen und den syrischen Oppositionellen Ziele für ihre Angriffe übermitteln. Die Wahrheit ist: Die NATO benutzt den Bürgerkrieg in Syrien als Anlass, strategische Positionen zu besetzen, Perspektiven für Interventionen zu klären und die Kriegsgefahr im Nahen Osten weiter zu schüren. Die Türkei stellt sich als ihr Aufmarschgebiet zur Verfügung.

Wir möchten den Soldaten und ihren Familien sagen: Es ist nicht bekannt, wann und wie dieser Einsatz endet. Wir bedauern Ihre Situation, aber wir wissen auch: Von unserer Region, dem Bundesland mit der höchsten Militärdichte und den Standorten für die modernsten und aggressivsten Waffensysteme in Deutschland, wird immer wieder Krieg ausgehen, wenn die Beteiligten nicht dazu beitragen, ihn zu stoppen. Dazu gehört auch, dass die Einwohner der benachbarten Orte den Kriegsplanungen in den Kasernen ihre moralische Unterstützung verweigern. Wir würden uns auch freuen, wenn die Travemünder Hafenarbeiter sich, guten Arbeitertraditionen folgend, gegen den Krieg wenden und die Raketen und Anlagen nicht verladen würden.

Lasst uns zusammenarbeiten für Friedenspolitik statt Kriegseinmischung und für eine friedliche und zivile Zukunft der Region!

Mit friedlichen Grüßen
Rostocker Friedensbündnis
VVN-BdA BO Rostock
INO - Infoportal für antifaschistische Kultur und Politik aus Mecklenburg-Vorpommern





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