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Zwei Schritte zurück: Warum demonstrieren?

Eine Erwiderung auf Tobias Riegels Text "Einen Schritt zurück – Türkei-Protest: Medien ohne Distanz"

Von Norman Paech *

Der Taksim-Platz hat das Feuilleton erreicht. Dort herrschen andere Gesetze und Freiheiten als auf den vorderen Seiten der Presse. Analyse und Kenntnis treten zuweilen zurück, wenn nur die Überraschung gelingt und die Pointe sitzt. Auch Tobias Riegel (»nd« vom 17.6.2013) scheint die Ereignisse auf dem Taksim-Platz nicht zu verstehen. Er ist von allen Ansätzen zur Erklärung zwischen Rechts und Links, zwischen »Bild«, »taz« und unerfüllten »68er-Fantasien« und natürlich auch von den »großen Medien« frustriert. Ich verstehe das, ich mag auch die Mehrzahl dieser Angebote nicht. Aber auf den Gedanken, vor dem Losschreiben erst einmal abzuwarten, bis die Distanz und auch internationale Stimmen mehr Klarheit bringen – nicht alle sind Idioten – oder einmal selbst sich vor Ort zu begeben, ist der Autor offensichtlich nicht gekommen.

Es hat noch nie eine unvoreingenommene und verlässliche Berichterstattung über die gesellschaftlichen Probleme der Türkei gegeben. Das rächt sich jetzt und es ist vollkommen legitim, Fragen an die Behauptungen, Projektionen und Vorurteile zu stellen. Doch seine Fragen mit eigenen Behauptungen zu belasten, wird den Fragenden nie aus seinem Unverständnis befreien.

Woraus schließt Tobias Riegel, dass nicht gegen die »Wirtschaftsordnung oder himmelschreiendes Unrecht« protestiert wurde? Weil die Mehrheit der Aktivisten »scheinbar der oberen Mittelschicht entstammt«? Hat der Protest gegen die Zerstörung eines öffentlichen Parks und seine Verwandlung in ein renditeträchtiges Einkaufszentrum und Apartments nichts mit der Wirtschaftsordnung zu tun? Die hemmungslose Gentrifizierung hat schon in anderen Stadteilen Istanbuls zu Demonstrationen geführt. Es ist nicht nur der autoritäre Zugriff, der die Menschen auf die Straße treibt, sondern der Protest gegen eine neoliberale Privatisierung aller öffentlichen Güter, aus denen man Profit schlagen kann.

Die überall gelobten Wachstumsraten von Handel und industrieller Produktion sind an den meisten Menschen auf dem Land und in der Stadt vorbeigegangen – eine natürliche Folge des neoliberalen Gesellschaftskonzepts von Erdogan. Deshalb der Zustrom zu den Demonstrationen von den Ultras der Fußballvereine Galatasaray, Fenerbahce und Beşiktas, von Büroangestellten bis zu Künstlern, Journalisten und Intellektuellen der Universitäten. Eine Demonstration für Demokratie, die nach eigenen Angaben der türkischen Presse nicht vorangekommen ist, und beileibe nicht nur ein Anliegen der oberen Mittelschicht ist. Der Kampf um einen kleinen Park ist zur Metapher für Demokratie und eine menschenwürdige Wirtschaftsordnung geworden, so heterogen und spontan die Menschen auch zusammengekommen sind.

Wie fremd dem Autor das Geschehen auf dem Taksim-Platz geblieben ist, zeigt seine Frage, ob es angemessen sei, für diese Bäume »das öffentliche Leben eines ganzen Landes lahmzulegen«. Er hat vor dem Fernseher offensichtlich den Überblick verloren. Es gab auch an anderen Orten, an denen es schon gar nicht um Bäume ging, Demonstrationen mit den gleichen brutalen Polizeieinsätzen, aber der normale Gang des Landes und Erdogans Machtapparat wurden davon nur wenig erschüttert.

Am Morgen des 18. Juni setzte die Polizei zu großangelegten Razzien und Hausdurchsuchungen in Istanbul, Ankara und Eskişer an. Hunderte Personen wurden festgenommen. Die politischen Prozesse gegen die Journalisten und Rechtsanwälte gingen weiter, der oppositionelle TV-Sender »Hayat« (Leben), die wichtigste Informationsquelle der Widerstandsbewegung außer Twitter, wurde schon zum 14. Juni geschlossen.

Für Tobias Riegel hat Erdogan den »Kurdenkrieg beendet«, da sein »moderater Islam [...] ein durchaus antikoloniales Potenzial« in sich berge. Das mag in Kreisen der AKP so gesehen werden und bei Erdogans Kritik an Israels Besatzungspolitik stimmen. Doch in Südost-Anatolien ist der koloniale Status der Kurden noch lange nicht vorbei. Ihr schon Jahrzehnte währender Kampf um Demokratie und Selbstbestimmung dauert immer noch an. Die Guerilla ist zwar auf dem Rückzug, aber Regierung und Armee haben sich noch nicht bewegt. Jederzeit kann ein neuer Angriff der Regierungstruppen erfolgen. Niemand traut Erdogan – aus schlechter Erfahrung. Keiner der über 7000 politischen Häftlinge wurde aus den Gefängnissen befreit und das gefährliche Dorfschützer-System wird weiter aus- statt abgebaut. Die Arbeitslosigkeit erreicht in den Städten 70 Prozent.

»Wer im Schützengraben sitzt, verliert den Überblick«. Nehmen wir dies als Eingeständnis des Autors. Sein Frust führt ihn schließlich zu der Schlussapotheose, »dass der auf den ersten Blick emanzipatorische Protest eher die autoritären Strukturen, die Erdogan zurückgedrängt hat«, fördert und die Militaristen und Ultranationalisten stärkt. Ist der Autor also der Meinung, es wäre besser gewesen, der Protest wäre unterblieben? Ihm fehle ohnehin eine »organisierte sozialistische Alternative«, schreibt Riegel.

Legitimiert sich eine Demonstration denn erst durch die sozialistische Perspektive?

* Norman Paech ist Jurist und Politiker (LINKE). Dieser Tage kehrte er von einer Reise nach Kurdistan und Istanbul zurück.

Aus: neues deutschland, Montag, 24. Juni 2013


Dokumentiert:

Einen Schritt zurück

Von Tobias Riegel

AUSZUG

Imagine all the People living for today«. Hach ja. Der Taksim-Platz in Istanbul. Man wird ihn vermissen. All die nicht gelebten 68er-Fantasien, die deutsche Redakteure auf die Helden der modernen Türkei projizieren konnten. (...)

Nun, da sich der Nebel aus Tränengas und großen Gefühlen lichtet, wäre der Moment, einen Schritt zurückzutreten. Ist das ein linker Aufstand, der von der »Bild«-Zeitung bis zur »taz« so einhellig gefeiert wird? Man weiß es nicht, denn Symbolik und Jargon der bis heute schwer zu beurteilenden Bewegung wurden übernommen, der Fokus eng auf die tagesaktuellen Vorgänge auf der Straße gelegt – mit einem eindeutigen Anti-Erdogan-Tenor. Das mag Musik in der Ohren vieler Linker sein. Es hinterlässt einen aber auch ratlos. Wo waren die Analysen der großen Medien jenseits der Tränengas-Homestory?

(...)

(...) Der Rausch der Tat, die Polizeigewalt, die Tränen der Wut und des Gases: das ist großes Gefühlskino, das eine strategische Kurzsichtigkeit bei den Beteiligten nachvollziehbar macht. Wer im Schützengraben sitzt, verliert den Überblick. Was man auch den Lageberichten der eingebetteten Berichterstatter von »Spiegel-Online« beim Aktivistenfrühstück anmerkt.

Ob die Kollegen die gleiche Begeisterung versprühen würden, wenn auf dem Gendarmenmarkt die Barrikaden brennen würden? Wenn es in der Türkei die Chance einer linken Regierungsübernahme gäbe? Werden sie Angela Merkel in die Nähe von Faschisten rücken, wenn sie das Preußenschloss durchsetzen wird?

Erdogan ist ein zwiespältiger Politiker. Seine konservative Rhetorik ist für Linke schwer zu ertragen. Die Pressefreiheit hat stark gelitten, seit seinem Amtsantritt. Die Exzesse der Polizei müssen Konsequenzen haben. Andererseits hat er die Gesellschaft entmilitarisiert wie kein türkischer Staatsmann vor ihm. Er hat den Kurdenkrieg beendet und die Offiziere entmachtet. Er hat für eine soziale Gesundheitsreform internationalen Respekt erhalten. Die Türkei steht nach zahlreichen gesellschaftlichen und ökonomischen Indikatoren weit besser da als vor seinem Amtsantritt. Insofern birgt der moderate Islam, wie er ihn verkörpert, ein durchaus antikoloniales Potenzial. (...)

(...) Früher standen eher die Land- und Slumbevölkerungen im Fokus der Linken. Das hat sich zugunsten der privilegierten Städter verschoben. Man überträgt dabei gelegentlich die eigenen Erfahrungen im Kampf gegen den bayerischen Mief auf Länder wie Iran, Russland oder nun die Türkei. (...)

Die türkische Krux: Unterm Strich fördert der auf den ersten Blick emanzipatorische Protest eher die autoritären Strukturen, die Erdogan zurückgedrängt hat. Seinen Anhängern gegenüber, der Mehrheit der Bevölkerung, steht er nun in der Pflicht, genau den Ruhe-und-Ordnung-Pfad zu forcieren, der von der Gegenseite beklagt wird. Die Linken (wenn sie es denn sind) stärken mit der Schwächung Erdogans die Militaristen und Ultranationalisten – eine organisierte sozialistische Alternative gibt es nicht.

Aus: nd, 17.06.2013




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