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Giftgas-Verdacht gegen Türkei erhärtet sich

Linkspolitiker van Aken: Ankara sollte unabhängige Untersuchungskommission zulassen

Von Martin Lejeune *

Die türkische Armee soll im vergangenen Jahr bei Kampfhandlungen gegen die Kurdische Arbeiterpartei im Osten des Landes auch Giftgas eingesetzt haben. Nachdem sich der seit längerem bestehende Verdacht offenbar erhärtet hat, verlangen Vertreter der LINKEN und anderer Parteien Aufklärung von der Regierung in Ankara.

In der türkischen Provinz Hakkari nahe der irakischen Grenze sind nach bisherigen Informationen zwischen dem 8. und dem 15. September vergangenen Jahres offenbar acht Menschen Opfer eines Einsatzes von chemischen Waffen durch Angehörige des türkischen Militärs geworden. Bewohner der Region beschrieben kurdischen Menschenrechtsgruppen, wie Soldaten gasförmige, allem Anschein nach chemische Kampfstoffe mittels Geschossen in eine Höhle in der Nähe der Stadt Cukurca einbrachten und wenige Zeit später mehrere Menschen, Mitglieder der Kurdischen Volksbefreiungskräfte, des bewaffneten Arms der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), aus dieser Höhle bargen. Einige der leblosen Körper seien danach von Panzern überfahren worden.

Der Türkeiexperte Martin Dolzer war im Frühjahr in Türkisch-Kurdistan und ist durch die kurdischen Menschenrechtler an erschütternde Fotos gekommen, die zum Teil im Internet stehen (humanrights.blogspot.de). Dolzers Bilder zeigen im Detail die verstümmelten Leichen. Zur gleichen Zeit wie Dolzer hatte sich damals der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Bundestag Jan van Aken in der Osttürkei befunden. Van Aken, der einer offiziellen Delegation angehörte, erklärte am Dienstag gegenüber ND, dass sich ihm die Brisanz der Fotos seinerzeit nicht sofort aufdrängte: »In den letzten zehn Jahren kam bei jedem Krieg von der gegnerischen Seite der Vorwurf des Einsatzes von chemischen Kampfstoffen, und meistens war dies Propaganda. Deshalb war ich zuerst skeptisch. Doch mit der Zeit erhärtete sich der Anfangsverdacht gegen die Türkei.«

Van Aken arbeitete vor seiner Wahl ins Parlament für Sunshine Project - eine internationale Organisation, die sich für die weltweite Ächtung biologischer Waffen einsetzt. 2003 erregte Sunshine Project internationale Aufmerksamkeit, als es ein Dekret der türkischen Armee von 1986 als Faksimile auf seiner Homepage veröffentlichte, demzufolge der Kampf gegen die PKK auch den Einsatz von Giftgas erfordere. Dieser alte Militärbefehl reicht van Aken als Beweis für die Vorfälle von 2009 freilich nicht aus. Ein Gutachten des Forensikers Jan Sperhake vom rechtsmedizinischen Institut des Uni-Klinikums Hamburg-Eppendorf hingegen schon. Danach deutet bei den Getöteten nichts auf gewöhnliche Brandverletzungen hin.

Der Vorwurf, Chemiewaffen eingesetzt zu haben, wiegt seit Inkrafttreten der internationalen Chemiewaffenkonvention 1997 schwer. Van Akens Vermutung, warum sie in der Türkei trotzdem angewendet worden sein könnten: »Gegen Widerstandskämpfer, die sich in Höhlen verschanzen, hat eine Armee wenig Möglichkeiten der legalen Bekämpfung.« Da man mit Kugeln nicht um Ecken schießen könne, sei unter Umständen die Versuchung groß, Giftgas einzusetzen. Dazu kommt, dass Waffen - auch chemische, die einmal ausgeliefert wurden - in Einzelfällen noch eingesetzt werden, auch lange Zeit nach der Ratifizierung internationaler Verbotsabkommen in den Hauptstädten.

Die türkische Armee setzte die Chemikalien in diesem Fall womöglich nicht als Angriffswaffen, sondern als Folterwerkzeug ein. Um all dies zu klären, verlangen inzwischen Politiker aller Lager - vom Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Ruprecht Polenz (CDU), bis zur Grünen-Chefin Claudia Roth - Aufklärung. Auch van Aken fordert: »Die Türkei sollte eine unabhängige Untersuchung zulassen und Obduktionsberichte freigeben.«

* Aus: Neues Deutschland, 19. August 2010


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