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"Rot-Rot" in Tschechien

Erster Kommunist an der Spitze einer Regionalregierung

Von André Scheer *

In Tschechien steht seit Dienstag erstmals seit der Zerschlagung der Tschechoslowakei 1992 ein Kommunist an der Spitze einer Regionalregierung. Als Chef einer »rot-roten« Koalition der Kommunistischen Partei KSCM und der sozialdemokratischen CSSD wurde Oldrich Bubenícek zum neuen Landeshauptmann (Ministerpräsident) der an Deutschland grenzenden Region Ústí (Ústecký kraj) gewählt.

Die in der Tschechischen Republik herrschende konservative ODS hatte bei den Wahlen zu den Regierungen der 13 Regionen eine schwere Niederlage erlitten. Das 55köpfige Parlament von Ústí besteht seither aus 20 Kommunisten, 13 Sozialdemokraten, sieben Abgeordneten der ODS und 15 Vertretern von zwei Wählervereinigungen. Entsprechend wird die KSCM in der Regionalregierung sechs und die CSSD fünf Ressorts besetzen. Auch Bubeníceks Stellvertreter Stanislav Rybák gehört der Kommunistischen Partei an. Gegenüber dem tschechischen Staatsrundfunk Radio Prag kündigte der neue Landeshauptmann an, auch die Politik der kommunalen Unternehmen in Ústí verändern zu wollen: »Unser Ziel ist, daß verschiedene Netzwerke aus der vorangegangenen Zeit zerschnitten werden und Geld für andere Dinge ausgegeben wird.«

Glückwünsche zur Wahl kamen von der sächsischen Linkspartei, die seit Jahren eng mit den Kommunisten der tschechischen Nachbarregion zusammenarbeitet. Heiko Kosel, europapolitischer Sprecher der Linksfraktion im sächsischen Landtag, kommentierte: »Nachdem es bereits in der vergangenen Wahlperiode in mehreren Regionen rot-rote Regierungen unter sozialdemokratischen Landeshauptmännern gegeben hatte, ist nunmehr, nachdem die KSCM in der Region Ústí stärkste Fraktion wurde, eine rot-rote Regionalregierung mit einen kommunistischen Landeshauptmann gewählt worden – und das mit sieben Stimmen mehr, als Koalitionsabgeordnete anwesend waren. Von dieser durch die tschechischen Sozialdemokraten anerkannten Normalität, daß Koalitionen jeweils vom größeren Partner geführt werden, ist die SPD in den deutschen Bundesländern teilweise noch weit entfernt. Im Interesse der politischen Kultur hierzulande sollte sich die SPD ohne langes Zögern mit ihrer tschechischen Partnerpartei CSSD beraten und von dieser lernen.« Er sei »gern bereit«, eine solche Gesprächsanbahnung zu unterstützen, so Kosel.

In acht weiteren Regionen Tschechiens sind Kommunisten und Sozialdemokraten ebenfalls Koalitionen oder andere Formen der Zusammenarbeit eingegangen, dort stellt jedoch die CSSD den Regierungschef. Vertreter der KSCM haben hier aber teilweise wichtige Ministerposten übernommen. So soll in Südböhmen eine Kommunistin die Verwaltung von Schulwesen und Kultur leiten. Dagegen demonstrierten am vergangenen Wochenende in Ceské Budejovice (Budweis) rund 500 Gymnasiasten. »Wir protestieren nicht gegen die Ergebnisse der demokratischen Wahlen, sondern gegen die Koalition«, erklärte der Organisator der Kundgebung, Dominik Horejsí, gegenüber Radio Prag. »Wir finden, das Prinzip jeder demokratischen Partei sollte sein, im Falle eines solchen Wahlergebnisses lieber einen Teil ihres Wahlprogramms aufzugeben und eine andere Koalition zu bilden, als sich mit einer totalitären Partei einzulassen.«

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 22. November 2012


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