Tschechien vor Neuwahlen
Übergangspremier verliert Vertrauensabstimmung / Mehrheit für Parlamentsauflösung
Von Jindra Kolar, Prag *
In Prag überstürzen sich nach der
misslungenen Vertrauensabstimmung
für die Übergangsregierung die Ereignisse.
Premier Jiri Rusnok wird
seinen Rücktritt einreichen, und
mehrere Parteien wollen die Auflösung
des Parlaments.
Am Tag nach dem Abstimmungsdebakel
für die Übergangsregierung
haben die Fraktionschefs
der Sozialdemokraten
(CSSD), der Kommunisten (KSCM),
der Partei »Öffentliche Angelegenheiten
« (Vece verejne – VV) sowie
der bürgerliche Partei TOP09
des früheren Außenministers Karel
Schwarzenberg der Parlamentspräsidentin
in Prag einen offiziellen Antrag nach Artikel 35
der Verfassung zur Auflösung das
Abgeordnetenhauses überreicht.
TOP09 hatte Neuwahlen bisher
strikt abgelehnt. Zum Umdenken
kam es nach Einschätzung von
Beobachtern, weil die dünne
Mehrheit der ehemaligen Mitte-
Rechts-Koalition im Parlament in
der Krise zu schmelzen droht.
»Es gibt keinen Grund zu warten
und die Zeit der Instabilität zu
verlängern«, betonte CSSD-Parteichef
Bohuslav Sobotka. Eine
Abstimmung könnte schon am
nächsten Dienstag oder Mittwoch
erfolgen. Für die Selbstauflösung
des Parlaments schreibt die Verfassung
eine Stimmenmehrheit
von drei Fünfteln – also 120 Abgeordnete
– vor. Die Parteien verfügen
zusammen über 122 Mandate.
Ohne eigene Mehrheit kann das
bürgerliche Lager den ursprünglich
erhobenen Anspruch auf eine
eigene Regierungsbildung mit der
Parlamentspräsidentin Miroslava
Nemcova an der Spitze nicht
durchsetzen.
Wird dem Antrag stattgegeben,
müsste Präsident Milos Zeman
innerhalb der kommenden 60
Tage Neuwahlen ansetzen. Spätestens
um den 11. Oktober herum
würde das tschechische
Wahlvolk wieder einmal zu den
Urnen gerufen.
Welche Konstellation sich danach
im Abgeordnetenhaus ergeben
könnte, ist allerdings völlig
ungewiss. Denn die Bürger sind
von einigen der neu ins Parlament
gekommenen politischen
Bewegungen enttäuscht. Lidem,
die Abspaltung der Liberalen von
den »Öffentlichen Angelegenheiten
«, (VV), steht nach Medienberichten
gar vor dem Zerfall. Parteichefin
Karoline Peake legte ihr
Amt nieder. Ebenso muss sich
wohl die konservative TOP09 Sorgen
machen.
Eine Neuauflage der bürgerlichen
Koalition ist höchst unwahrscheinlich.
Eher ist anzunehmen,
dass die orange-roten
Triumphe bei den vergangenen
Regional- und Kommunalwahlen
und die Direktwahl des links orientierten
Staatspräsidenten Milos
Zeman sich auch bei den Parlamentswahlen
bestätigen.
Zeman behält sich allerdings
noch immer die Option vor, auch
einen demissionierten Rusnok bis
zu regulären Neuwahlen im kommenden
Frühjahr regieren zu lassen.
Die tschechische Verfassung
erlaubt ein solches Prozedere – das
letzte Kabinett von Mirek Topolanek
(2006-2009) hat es bis zur
Einsetzung der Expertenregierung
von Jan Fischer über viereinhalb
Monate praktiziert.
* Aus: neues deutschland, Freitag, 9. August 2013
Tschechien vor Neuwahlen?
Übergangsregierung verliert Mißtrauensvotum. Rechte geschwächt
Von Tomasz Konicz, Poznan **
Tschechiens Präsident Miloš Zeman mußte am Mittwoch einen politischen Rückschlag verkraften. Das von ihm ohne Beteiligung des Parlaments ernannte Übergangskabinett von Ministerpräsident Jirí Rusnok verfehlte bei der Vertrauensabstimmung im tschechischen Unterhaus die notwendige Mehrheit von 101 Abgeordneten. Für die »Expertenregierung« des ehemaligen Sozialdemokraten Rusnok stimmten 93 Parlamentarier, die sich vornehmlich aus den Reihen der sozialdemokratischen und kommunistischen Parlamentsfraktionen rekrutierten. Genau 100 Abgeordnete aus dem konservativen und rechtsliberalen Lager der ehemaligen Regierungsparteien sprachen Rusnok ihr Mißtrauen aus, sieben Parlamentarier enthielten sich.
Der Mittwoch brachte zwar einen – nicht unerwarteten – politischen Rückschlag für Zeman, doch zugleich sind die Rechtsparteien weiter in die Defensive geraten. Der Grund: Auch sie selbst konnten bei der Mißtrauensabstimmung keine Mehrheit erringen, da zwei Politiker der konservativen Demokratischen Bürgerpartei ODS sich der Stimme enthielten. Zeman hatte bereits vor der Abstimmung erklärt, daß er die Regierung Rusnok weiterhin kommissarisch im Amt belassen werde. Rusnok selbst glaubt, so noch »drei bis vier Monate« die Geschäfte führen zu können. Zeman, der nach heftigen politischen Auseinandersetzungen 2007 die Sozialdemokraten verließ, erklärte, bis zum Ende der Antikorruptionsermittlungen gegen hochrangige konservative Politiker keine neuen Regierungsaufträge an Rechtsparteien zu vergeben. So wolle er verhindern, daß Minister ihre Ressorts »aus dem Gefängnis leiten« müßten.
Als klaren Punktsieg kann der Präsident die bis zuletzt unsichere Unterstützung der Sozialdemokraten der CSSD für seinen Regierungschef verbuchen. Erst am Vorabend der Vertrauensabstimmung gab Bohuslav Sobotka, der Vorsitzende der CSSD, dem innerparteilichen Druck nach. Nach der gescheiterten Vertrauensabstimmung verstärkten die Vorsitzenden der CSSD wie auch der Kommunistischen Partei (KSCM) ihre Forderungen nach vorgezogenen Neuwahlen. Sobotka erklärte, seine CSSD werde eine Abstimmung über die vorzeitige Auflösung des Parlaments zum »frühestmöglichen Zeitpunkt« anstreben. Vojtech Filip, der Vorsitzende der KSCM, warnte die kommissarische Regierung zudem davor, nach der verlorenen Vertrauensabstimmung »wichtige Entscheidungen« zu fällen. Sie sollte sich »auf die Administration des Staates« beschränken.
Die Chancen auf Neuwahlen, möglicherweise schon im Oktober, sind indes aufgrund eines Meinungsumschwungs in der liberalkonservativen ehemaligen Regierungspartei TOP 09 stark gestiegen. Angesichts der verfehlten Mehrheit der Rechtsparteien bei der Mißtrauensabstimmung gegen das Kabinett Rusnok erklärte sich die TOP-09-Parlamentsfraktion bereit, Neuwahlen zuzustimmen. Somit würden CSSD, KSCM und die vom ehemaligen Außenminister Karel Schwarzenberg geführte TOP 09 über die notwendige Drei-Fünftel-Mehrheit verfügen, um – auch ohne Zustimmung Zemans – eine Selbstauflösung des Parlaments und somit Neuwahlen durchzusetzen.
In einem solchen Fall könnte Tschechien als erstes postsozialistisches Land Mitteleuropas eine Regierungskoalition unter Beteiligung kommunistischer Politiker erleben. Neuste Umfragen sehen die CSSD derzeit mit 34 Prozent der Stimmen deutlich vorn. Die weiterhin antikapitalistisch ausgerichteten Kommunisten der KSCM würden mit 18,5 Prozent klar zweitstärkste Kraft werden, so daß eine etwaige Linkskoalition auf eine klare Mehrheit käme. Die TOP 09 Schwarzenbergs steht derzeit bei 15 Prozent, die rechtskonservative ODS nur noch bei rund 13 Prozent. Es finde derzeit nicht nur eine Umschichtung des Wählerzuspruchs innerhalb verschiedener Rechtspartien statt, bemerkte das Umfrageinstitut Median. Die Position der Rechten im politischen Spektrum habe sich aufgrund der letzten Skandale auch »beachtlich geschwächt«.
** Aus: junge Welt, Freitag, 9. August 2013
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