Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Tschechien vor Neuwahlen

Übergangspremier verliert Vertrauensabstimmung / Mehrheit für Parlamentsauflösung

Von Jindra Kolar, Prag *

In Prag überstürzen sich nach der misslungenen Vertrauensabstimmung für die Übergangsregierung die Ereignisse. Premier Jiri Rusnok wird seinen Rücktritt einreichen, und mehrere Parteien wollen die Auflösung des Parlaments.

Am Tag nach dem Abstimmungsdebakel für die Übergangsregierung haben die Fraktionschefs der Sozialdemokraten (CSSD), der Kommunisten (KSCM), der Partei »Öffentliche Angelegenheiten « (Vece verejne – VV) sowie der bürgerliche Partei TOP09 des früheren Außenministers Karel Schwarzenberg der Parlamentspräsidentin in Prag einen offiziellen Antrag nach Artikel 35 der Verfassung zur Auflösung das Abgeordnetenhauses überreicht. TOP09 hatte Neuwahlen bisher strikt abgelehnt. Zum Umdenken kam es nach Einschätzung von Beobachtern, weil die dünne Mehrheit der ehemaligen Mitte- Rechts-Koalition im Parlament in der Krise zu schmelzen droht.

»Es gibt keinen Grund zu warten und die Zeit der Instabilität zu verlängern«, betonte CSSD-Parteichef Bohuslav Sobotka. Eine Abstimmung könnte schon am nächsten Dienstag oder Mittwoch erfolgen. Für die Selbstauflösung des Parlaments schreibt die Verfassung eine Stimmenmehrheit von drei Fünfteln – also 120 Abgeordnete – vor. Die Parteien verfügen zusammen über 122 Mandate.

Ohne eigene Mehrheit kann das bürgerliche Lager den ursprünglich erhobenen Anspruch auf eine eigene Regierungsbildung mit der Parlamentspräsidentin Miroslava Nemcova an der Spitze nicht durchsetzen.

Wird dem Antrag stattgegeben, müsste Präsident Milos Zeman innerhalb der kommenden 60 Tage Neuwahlen ansetzen. Spätestens um den 11. Oktober herum würde das tschechische Wahlvolk wieder einmal zu den Urnen gerufen.

Welche Konstellation sich danach im Abgeordnetenhaus ergeben könnte, ist allerdings völlig ungewiss. Denn die Bürger sind von einigen der neu ins Parlament gekommenen politischen Bewegungen enttäuscht. Lidem, die Abspaltung der Liberalen von den »Öffentlichen Angelegenheiten «, (VV), steht nach Medienberichten gar vor dem Zerfall. Parteichefin Karoline Peake legte ihr Amt nieder. Ebenso muss sich wohl die konservative TOP09 Sorgen machen.

Eine Neuauflage der bürgerlichen Koalition ist höchst unwahrscheinlich. Eher ist anzunehmen, dass die orange-roten Triumphe bei den vergangenen Regional- und Kommunalwahlen und die Direktwahl des links orientierten Staatspräsidenten Milos Zeman sich auch bei den Parlamentswahlen bestätigen.

Zeman behält sich allerdings noch immer die Option vor, auch einen demissionierten Rusnok bis zu regulären Neuwahlen im kommenden Frühjahr regieren zu lassen. Die tschechische Verfassung erlaubt ein solches Prozedere – das letzte Kabinett von Mirek Topolanek (2006-2009) hat es bis zur Einsetzung der Expertenregierung von Jan Fischer über viereinhalb Monate praktiziert.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 9. August 2013


Tschechien vor Neuwahlen?

Übergangsregierung verliert Mißtrauensvotum. Rechte geschwächt

Von Tomasz Konicz, Poznan **


Tschechiens Präsident Miloš Zeman mußte am Mittwoch einen politischen Rückschlag verkraften. Das von ihm ohne Beteiligung des Parlaments ernannte Übergangskabinett von Ministerpräsident Jirí Rusnok verfehlte bei der Vertrauensabstimmung im tschechischen Unterhaus die notwendige Mehrheit von 101 Abgeordneten. Für die »Expertenregierung« des ehemaligen Sozialdemokraten Rusnok stimmten 93 Parlamentarier, die sich vornehmlich aus den Reihen der sozialdemokratischen und kommunistischen Parlamentsfraktionen rekrutierten. Genau 100 Abgeordnete aus dem konservativen und rechtsliberalen Lager der ehemaligen Regierungsparteien sprachen Rusnok ihr Mißtrauen aus, sieben Parlamentarier enthielten sich.

Der Mittwoch brachte zwar einen – nicht unerwarteten – politischen Rückschlag für Zeman, doch zugleich sind die Rechtsparteien weiter in die Defensive geraten. Der Grund: Auch sie selbst konnten bei der Mißtrauensabstimmung keine Mehrheit erringen, da zwei Politiker der konservativen Demokratischen Bürgerpartei ODS sich der Stimme enthielten. Zeman hatte bereits vor der Abstimmung erklärt, daß er die Regierung Rusnok weiterhin kommissarisch im Amt belassen werde. Rusnok selbst glaubt, so noch »drei bis vier Monate« die Geschäfte führen zu können. Zeman, der nach heftigen politischen Auseinandersetzungen 2007 die Sozialdemokraten verließ, erklärte, bis zum Ende der Antikorruptionsermittlungen gegen hochrangige konservative Politiker keine neuen Regierungsaufträge an Rechtsparteien zu vergeben. So wolle er verhindern, daß Minister ihre Ressorts »aus dem Gefängnis leiten« müßten.

Als klaren Punktsieg kann der Präsident die bis zuletzt unsichere Unterstützung der Sozialdemokraten der CSSD für seinen Regierungschef verbuchen. Erst am Vorabend der Vertrauensabstimmung gab Bohuslav Sobotka, der Vorsitzende der CSSD, dem innerparteilichen Druck nach. Nach der gescheiterten Vertrauensabstimmung verstärkten die Vorsitzenden der CSSD wie auch der Kommunistischen Partei (KSCM) ihre Forderungen nach vorgezogenen Neuwahlen. Sobotka erklärte, seine CSSD werde eine Abstimmung über die vorzeitige Auflösung des Parlaments zum »frühestmöglichen Zeitpunkt« anstreben. Vojtech Filip, der Vorsitzende der KSCM, warnte die kommissarische Regierung zudem davor, nach der verlorenen Vertrauensabstimmung »wichtige Entscheidungen« zu fällen. Sie sollte sich »auf die Administration des Staates« beschränken.

Die Chancen auf Neuwahlen, möglicherweise schon im Oktober, sind indes aufgrund eines Meinungsumschwungs in der liberalkonservativen ehemaligen Regierungspartei TOP 09 stark gestiegen. Angesichts der verfehlten Mehrheit der Rechtsparteien bei der Mißtrauensabstimmung gegen das Kabinett Rusnok erklärte sich die TOP-09-Parlamentsfraktion bereit, Neuwahlen zuzustimmen. Somit würden CSSD, KSCM und die vom ehemaligen Außenminister Karel Schwarzenberg geführte TOP 09 über die notwendige Drei-Fünftel-Mehrheit verfügen, um – auch ohne Zustimmung Zemans – eine Selbstauflösung des Parlaments und somit Neuwahlen durchzusetzen.

In einem solchen Fall könnte Tschechien als erstes postsozialistisches Land Mitteleuropas eine Regierungskoalition unter Beteiligung kommunistischer Politiker erleben. Neuste Umfragen sehen die CSSD derzeit mit 34 Prozent der Stimmen deutlich vorn. Die weiterhin antikapitalistisch ausgerichteten Kommunisten der KSCM würden mit 18,5 Prozent klar zweitstärkste Kraft werden, so daß eine etwaige Linkskoalition auf eine klare Mehrheit käme. Die TOP 09 Schwarzenbergs steht derzeit bei 15 Prozent, die rechtskonservative ODS nur noch bei rund 13 Prozent. Es finde derzeit nicht nur eine Umschichtung des Wähler­zuspruchs innerhalb verschiedener Rechtspartien statt, bemerkte das Umfrageinstitut Median. Die Position der Rechten im politischen Spektrum habe sich aufgrund der letzten Skandale auch »beachtlich geschwächt«.

** Aus: junge Welt, Freitag, 9. August 2013


Zurück zur Tschechien-Seite

Zurück zur Homepage