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"Die Sanktionen sind gegen das Völkerrecht"

Über humanitäre Hilfe für die syrische Bevölkerung, die Vernichtung der Chemiewaffen der Regierung und mögliche Wege zum Frieden. Ein Gespräch mit Faisal Mekdad *


Faisal Mekdad ist als Vize­außenminister zuständig für die Koordination der ­humanitären Hilfe. Außerdem stimmt er zusammen mit der Organisation zur Vernichtung chemischer Waffen (OPCW) den Abtransport der syrischen Chemiewaffen ab. Vor seinem Wechsel ins Außenministerium hat Mekdad Syrien als Botschafter bei den Vereinten Nationen in New York vertreten.


Eine kürzlich verabschiedete Resolution des UN-Sicherheitsrats fordert die syrische Regierung und die bewaffneten Gruppen im Land auf sicherzustellen, daß humanitäre Hilfe die notleidenden Menschen erreicht. Kann die Regierung diese humanitäre Hilfe gewährleisten?

Alle UN-Organisationen haben in Syrien ihre Büros, und 15 internationale Hilfsorganisationen arbeiten hier. Zudem gibt es Dutzende syrischer Organisationen der Zivilgesellschaft. Wir haben sehr deutlich gemacht, daß wir bereit sind, allen Syrern humanitäre Hilfe zu leisten, unabhängig davon, wo sie leben. Zweifelsohne gibt es einige Gebiete entlang der Grenze zur Türkei, die teilweise von Gruppen kontrolliert werden, die auf der Liste internationaler Terrororganisationen stehen. Dort ist es für uns und für die UN-Organisationen schwierig, humanitäre Hilfe zu leisten. Und es gibt viele Organisationen, die illegal im Grenzgebiet arbeiten, das können wir nicht zulassen. Alle anderen Grenzen sind offen. Die UN und andere Organisationen haben alle Freiheit, Hilfsgüter aus Jordanien oder dem Libanon zu bringen.

Westliche Staaten werfen Syrien vor, den Zeitplan für den Abtransport chemischer Waffen nicht einzuhalten. Welche Probleme gibt es?

Auch dieses Thema wird von einigen westlichen Staaten politisiert, um Druck auf Syrien auszuüben. Diese Staaten ermutigen gleichzeitig bestimmte bewaffnete Gruppen, die Lagerstätten dieser chemischen Waffen anzugreifen. Zwei-, dreimal ist das geschehen, und unser Wachpersonal dort wurde getötet. Das Chemiewaffenprogramm für Syrien ist beendet. Es wurde gestoppt, die Substanzen werden zerstört. Für uns ist es vorbei. Für den Abtransport brauchen wir Spezialgeräte, die wir nicht haben. Ich möchte ja nicht die Staaten, die Syrien jetzt lautstark kritisieren, vorführen, aber Tatsache ist, daß sie zur Verzögerung des ersten Zeitplans beigetragen haben. Sie haben uns die notwendige Ausrüstung nicht zur Verfügung gestellt. Erst jetzt haben wir den letzten Spezialgabelstapler erhalten, mit dem das Material geborgen werden kann.

Werden die Genfer Gespräche fortgeführt?

Das hoffen wir. Wir haben diese Gespräche nur wenige Tage, nachdem die Genf-I-Erklärung unterschrieben worden war, akzeptiert. Das war am 30. Juni 2012. Und auf die USA und ihre syrischen Freunde hatten wir etwa eineinhalb Jahre lang gewartet, bis sie zu den Gesprächen gekommen sind. Wir wollen das Genfer Abkommen umsetzen, wie es beschlossen wurde. Dazu gehört an erster Stelle der Kampf gegen den Terrorismus, der nicht nur eine Last für unser Land ist, sondern für die ganze Welt. Terroristen aus 83 Staaten sind nach Syrien gekommen, und wir tragen zusammen mit der internationalen Gemeinschaft Verantwortung, das Morden und Blutvergießen in Syrien zu beenden. Gleichzeitig wollen wir in keiner Weise die anderen Punkte der Erklärung herunterspielen. Als Herr Brahimi eine Tagesordnung für die Gespräche vorgeschlagen hat, haben wir sie sofort akzeptiert. Es ging um die folgenden vier Punkte: 1. Ende der Gewalt und Kampf gegen den Terrorismus, 2. Übergangsregierung, 3. Erhalt der staatlichen Institutionen und 4. Nationale Versöhnung. Die andere Seite hat immer wieder versucht, Vorbedingungen durchzusetzen, deshalb hat Herr Brahimi die zweite Gesprächsrunde erst einmal beendet. Alle Beteiligten sollten die Pause nutzen, um darüber nachzudenken. Wir sind bereit, einen Punkt nach dem anderen zu diskutieren. Und wir fordern, daß die Staaten, die diese Terroristen zu uns schicken, das sofort einstellen. Wir fordern unsere Nachbarn auf, sich nicht weiter in unsere inneren Angelegenheiten einzumischen. Insbesondere gilt das für die Türkei und für Saudi-Arabien, die diese Gruppen mit neuesten Waffen ausgerüstet haben und die sie finanzieren. Das stellt nicht nur für Syrien eine Gefahr dar, sondern für die Weltgemeinschaft. Ich bin froh, daß man in der Europäischen Union angefangen hat, darüber zu reden.

Gibt es positive Reaktionen von den Nachbarstaaten?

Die Zusammenarbeit, die von der irakischen Regierung angeboten wird, ist beispielhaft, und wir begrüßen das. Die Situation im Libanon ist sehr kompliziert, und Jordanien steht von verschiedenen Seiten unter Druck. Es gibt eine neue Entwicklung dahingehend, daß Israel jetzt direkt involviert ist. Es ermöglicht den Weg dieser bewaffneten Gruppen aus Jordanien in die Pufferzone (auf dem Golan, K.L.), eine entmilitarisierte Zone, die von der UN überwacht wird. Sie lassen sie bis nach Quneitra vorrücken, und auch bei Deraa lassen sie sie agieren, das ist eine sehr gefährliche Entwicklung.

Ich möchte noch einmal auf die Genfer Gespräche zurückkommen. Sie und Ihre Delegation haben wiederholt die Zusammensetzung der Abordnung kritisiert, die den Platz der syrischen Opposition eingenommen hat. Mit welchen oppositionellen Gruppen und Personen würde die syrische Regierung reden?

Wir haben ja in Genf mit den Gesprächen angefangen, das ist erst mal eine Tatsache. Wir wollten, daß die Delegation breiter sein soll, daß alle Oppositionsgruppen aus Syrien beteiligt werden. Diejenigen, die in Genf am Tisch saßen, repräsentierten nicht nur nicht die syrische Opposition, sie repräsentierten auch keine reale Kraft im Land. Diese kleine Gruppe hat kein Gewicht. Niemand in Syrien wird sich daran halten, was diese Gruppe aushandelt. Uns ist schon klar, daß wir nicht mit dieser Delegation reden, sondern mit den Leuten, die hinter ihr stehen. Sollte diese Gruppe dem Kampf gegen Terrorismus zustimmen, heißt das für uns, daß sie aus den USA, Saudi-Arabien, Frankreich, Großbritannien und der Türkei entsprechend instruiert worden ist.

Sie erwähnten eine neue Diskussion unter den EU-Staaten, nehmen Sie eine politische Veränderung in Brüssel gegenüber Syrien wahr?

Europa hat erkannt, daß Terroristen die aus Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland nach Syrien gekommen waren, jetzt in ihre jeweiligen Länder zurückkehren. Nicht, weil sie in Syrien Urlaub gemacht hätten, sondern weil sie in ihren Heimatländern den »Heiligen Krieg« gegen »Ungläubige« fortsetzen wollen. Das ist eine reale Bedrohung, und in Europa hätte man dieser Gefahr mehr Aufmerksamkeit widmen sollen, bevor ihre Bürger aus engstirnigen politischen und ideologischen Interessen nach Syrien in den Kampf zogen.

Die EU hat wirtschaftliche Sanktionen gegen Syrien verhängt, und Herr Brahimi hat in Genf erklärt, er habe die EU mehrfach gebeten, diese aufzuheben. Können Sie diesbezüglich eine Veränderung feststellen?

Nein, und um es ganz klar zu sagen: Diese unmenschlichen Sanktionen widersprechen dem Völkerrecht und der UN-Charta. Und sie richten sich gegen die Menschen, die die europäischen Staaten angeblich beschützen wollen. Sie haben die Autorität der syrischen Regierung nicht untergraben, sondern sie haben die Tragödie der Syrer vergrößert, die unter den Sanktionen leiden. Diese helfen zudem Extremisten und Terroristen. Und sie sollten einen Übergangsprozeß in Syrien hin zu mehr Demokratie unterstützen, über den Präsident Assad seit langem gesprochen hat. Einen Prozeß, bei dem wir unsere Stimme abgeben und unsere politische Führung wählen können, wie es in Europa gemacht wird. Daß europäische Staaten extremistische islamische Gruppen unterstützen, ist nicht im Interesse Europas, und es steht im Widerspruch zu den demokratischen Prinzipien, die Europa vorgibt zu vertreten.

Sowohl Ihr Vater als auch einer Ihrer Neffen wurden entführt, wie geht es ihnen?

Der Sohn meiner Schwester wurde von der sogenannten Freien Armee entführt. Sie hielten ihn 42 Tage gefangen. Bei einem Gefangenenaustausch kam er schließlich frei. Er wurde in der Zeit seiner Entführung gequält und mißhandelt, man hat brennende Zigaretten auf seiner Haut ausgedrückt. Ja, auch mein Vater wurde entführt, er ist 84 Jahre alt, 17 Tage hat man ihn festgehalten. Es war eine schwierige Zeit für unsere Familie.

Interview: Karin Leukefeld in Damaskus

* Aus: junge welt, Donnerstag, 13. März 2014


Krieg in Syrien: Drei Jahre Blutvergießen

Was im März 2011 als Protestbewegung im Zuge des Arabischen Frühlings begann, hat sich zu einem der blutigsten Bürgerkriege der vergangenen Jahrzehnte entwickelt. Wegen der komplizierten Lage in Syrien hat das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte Versuche zur Zählung der Bürgerkriegstoten im Januar bis auf weiteres ausgesetzt. Zuletzt hatte das Gremium im Juli 2013 Angaben veröffentlicht, wonach in dem Krieg mehr als 100000 Menschen getötet wurden. Die Zahl der von dem Konflikt betroffenen Kinder ist nach Angaben von UNICEF auf 5,5 Millionen gestiegen. Damit habe sich die Zahl seit vergangenem Jahr verdoppelt, schrieb das UN-Kinderhilfswerk in einem am Dienstag vorgelegten Bericht. »Abgeschnitten von Hilfe, zu einem Leben in Schutt und dem Kampf um Nahrung gezwungen, sind viele syrische Kinder ohne jeden Schutz, medizinische Versorgung oder psychologische Unterstützung und haben wenig oder keinen Zugang zu Bildung«, heißt es darin. »In den schlimmsten Fällen wurden Kinder und schwangere Frauen gezielt von Scharfschützen verletzt oder getötet«, schreibt UNICEF. Dem Bericht zufolge lebt eine Million Kinder in belagerten Gebieten, in die kaum humanitäre Hilfe gelangt. Weitere zwei Millionen Kinder brauchen psychologische Unterstützung oder Behandlung. Es drohe eine weitere Verschlechterung.

In Anbetracht der aktuellen Zuspitzungen auf der Krim warnte UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres davor, daß die Krise in der Ukraine den Konflikt in Syrien völlig in den Hintergrund dränge. Seine größte Sorge sei, daß es in dem Bürgerkriegsland eine »totale Katastrophe« gebe, weil sich der Blick der »internationalen Gemeinschaft« nun auf die Krim richte.

Die Europäische Union hat seit Mai 2011 eine Reihe von Sanktionen gegen die Regierung des syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad verhängt. Die meisten Strafmaßnahmen wurden im Mai 2013 um ein weiteres Jahr verlängert. So gelten bis zum 1. Juni 2014 unter anderem Einreiseverbote für 179 Personen, Verbote von Geldüberweisungen und von Öleinfuhren aus Syrien in die EU. Vermögen von 54 Institutionen, die mit Assad in Verbindung gebracht werden, sind in der EU eingefroren. Dazu gehört auch die syrische Zentralbank. Zudem nennt die EU-Sanktionsliste ein Einfuhrverbot für Öl, das Verbot von Krediten und anderen Finanzhilfen für Damaskus. Von dem inzwischen aufgehobenen EU-Waffenembargo gegen Syrien war nicht nur die Regierung betroffen, sondern auch die Opposition gegen Assad. Seit Mai 2013 liegen darum Waffenlieferungen in der Zuständigkeit der nationalen Regierungen.

(jW, 13.03.2014)




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