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Sanktionen treffen Syrien

"Strafmaßnahmen" von EU und USA gegen Öl- und Gassektor sowie innere Auseinandersetzungen verlangsamen Wirtschaftswachstum. Neue Geschäftspartner gesucht

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Syrien reagiert auf die jüngst (Anfang September) verhängten EU-Sanktionen gegen die Einfuhr seiner Ölprodukte. Nach Auskunft von Finanzminister Mohammed Jleilati werde man sich jetzt nach neuen Partnern umsehen. Potentielle Kandidaten habe man in Asien und Osteuropa, vor allem in Rußland oder China ausgemacht, die als Abnehmer für Rohöl in Frage kommen würden, berichtete die unabhängige syrische Tageszeitung Al Watan Ende vergangener Woche. Das Wirtschaftswachstum des Landes sei »durch die Unruhen und die Sanktionen unter zwei Prozent« gesunken, sagte Jleilati am Rande eines Treffens der Arabischen Finanzminister in Abu Dhabi. 2010 hatte das Bruttoinlandsprodukt Sy­riens noch um 5,5 Prozent zugelegt.

Der Präsident der Industrie- und Handelskammer der Provinz Damaskus, Imad Ghreiwati, rief derweil die Industriellen des Landes auf, ihre Geschäfte nicht aufzugeben und keine Mitarbeiter zu entlassen. Die aktuelle Krise werde überwunden werden; wichtig sei es, Geduld aufzubringen und zusammenzuarbeiten, appellierte er. Ghreiwati ist einer von vier bekannten syrischen Unternehmern, gegen die die EU direkt Sanktionen verhängt hatte, weil sie »das Regime unterstützen«, wie es in der Ratsverordnung Nr. 878/2011 zu lesen ist.

Auch wenn die westliche Politik- und Medienwelt es ausblendet: Das von EU und USA verhängte Öl- und Gasembargo und die speziellen Sanktionen gegen Privatunternehmer verschärfen die wirtschaftliche Lage. In letzter Konsequenz unterstützen die »Strafmaßnahmen« bewaffnete Milizen, deren Ziel nicht nur der Sturz des Regimes, sondern auch der wirtschaftliche Kollaps des Landes ist. Zu den Zentren der derzeitigen bewaffneten Auseinandersetzungen gehören die Öl- und Gasfördergebiete Banyas, Homs und Deir Ezzor. Dort stehen die großen syrischen Raffinerien. Nahezu alle westlichen Medien vermelden, staatliche syrische Sicherheitskräfte würden dort auf friedliche Demonstranten schießen. Nicht wahrgenommen wurde indes, daß die Proteste in den letzten Wochen – auch nach Auskunft der Opposition – deutlich zurückgegangen sind. Auch über Angriffe bewaffneter Milizen auf öffentliche Infrastruktur (Bahnlinien, Autobahnen), auf Pipelines und Arbeiter, die in den Ölförderanlagen arbeiten, wird so gut wie nicht berichtet. Am Montag vergangener Woche wurde beispielsweise ein Bus in Homs aus dem Hinterhalt angegriffen, der Arbeiter der dortigen Rohöltransportgesellschaft nach Hause bringen sollte. Vier Männer wurden getötet und sieben verletzt.

Syrien steht vor einem Umbau seiner Energiewirtschaft. Bei sinkenden Förderquoten im Rohölbereich soll der Gassektor zu Land und zu Wasser ausgebaut werden. Um die »richtige Mischung« zu entwickeln, planten Joint-venture-Projekte mit dem niederländisch-britischen Multi Royal Dutch/Shell und dem französischen Total-Konzern Investitionen im Öl- und Gassektor für die kommenden zehn Jahre. Neue Technologien sollten entwickelt, mehr Ressourcen in die Fachkräfteausbildung investiert und die Förderung von Gas ausgebaut werden. Die Sanktionen führen nun dazu, daß sich alle westlichen Ölkonzerne aus dem Land zurückziehen werden. Deshalb versucht Syrien nun, asiatische und/oder russische Investoren zu gewinnen. Bis 2025 will die Regierung einen neuen Energiemix erreicht haben, der einer wachsenden Bevölkerung und Industrialisierung gerecht werden kann.

Nach Aussage der Deutschen Rohstoffagentur (www.deutsche-rohstoffagentur.de) beliefen sich die Erdgasreserven Syriens Ende 2009 auf rund 241 Milliarden Kubikmeter, die insgesamt vorhandenen Ressourcen werden auf 300 Milliarden Kubikmeter geschätzt. Gefördert wurden 2009 fast sechs Milliarden, verbraucht indes sieben Milliarden Kubikmeter. Das in Syrien geförderte Erdgas wird derzeit zu rund 80 Prozent zur Elektrizitätserzeugung in Kraftwerken eingesetzt. Daneben wird es in Haushalten und in der Industrie genutzt. Die Erdölreserven Syriens betrugen Ende 2009 rund 340 Millionen Tonnen, die Gesamtressourcen werden auf etwa 450 Millionen Tonnen geschätzt (im Vergleich: der derzeit nach Rußland zweitgrößte Erdölförderer der Welt, Saudi-Arabien, verfügt über förderfähige Reserven in Höhe von gut 36 Milliarden Tonnen). Deutschland war zwar Syriens größter Abnehmer für Erdöl und Erdölprodukte, dennoch sind BRD-Firmen nicht in der syrischen Öl- und Gasproduktion engagiert. Auf der Liste der Öllieferanten für Deutschland stand Syrien auf Platz acht.

Im Rahmen der »Strategie der fünf Meere« – Mittelmeer, Schwarzes Meer, Kaspisches Meer, Persisch-Arabischer Golf, Rotes Meer – will Syrien seine regionale Lage nutzen, um den großen Energiehunger angrenzender und befreundeter Staaten in der Region zu stillen. Für den Ausbau von Öl- und Gasleitungen wurden Vereinbarungen mit Irak und Iran getroffen. Mit Libyen hatte man Ende Oktober 2010 die Zusammenarbeit im Öl- und Gassektor vereinbart. Angestrebt wird zudem eine engere Zusammenarbeit mit dem afrikanischen Kontinent. Afrika gilt als »strategische Tiefe« für die arabische Welt, wie es auf dem letzten Arabisch-Afrikanischen Wirtschaftsforum im September 2010 formuliert wurde.

Die Deutsche Rohstoffagentur weist darauf hin, daß das derzeit etwa 2300 km lange Gaspipelinenetz in Syrien ausgebaut werden soll. Die Arabische Gaspipeline (AGP) aus Ägypten soll über Jordanien und Syrien 2012 an das türkische und europäische Verteilersystem angeschlossen werden. Kurz: Syrien will zu einer Drehscheibe für Öl und Gastransporte in der Region werden – ein Projekt, das die Unabhängigkeit und die Stabilität der Region auf lange Jahre sichern kann.

* Aus: junge Welt, 16. September 2011


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