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"Beide Seiten meinen, den Kampf militärisch gewinnen zu können"

Karin Leukefeld im Gespräch mit Rechtsanwalt Hassan Abdulazeem (80), Vorsitzender des Nationalen Koordinationsrates für Demokratischen Wandel in Syrien (NCC)


Der Rechtsanwalt Hassan Abdulazeem (80) ist Vorsitzender des Nationalen Koordinationsrates für Demokratischen Wandel in Syrien (NCC), einem oppositionellen Zusammenschluss aus 13 Gruppen. Im Damaszener Frühling, nach dem Jahr 2000; war er Sprecher der oppositionellen Nationalen Demokratischen Versammlung. Der NCC lehnt jede Gewalt ab und tritt für eine gewaltfreie Übergangslösung in Syrien ein. Mehrmals hat die Gruppe zu einem Waffenstillstand aufgerufen. Hassan Abdulazeem war seit 1963 acht Mal inhaftiert. Das letzte Mal wurde er am 30. April 2011 vorübergehend festgenommen.


Die Gewalt in Syrien nimmt täglich zu. Die Luftwaffe bombardiert, die bewaffneten Gruppen greifen an, kriminelle Gewalt nimmt zu. Wo steht Syrien heute?

Hassan Abdulazeem: Beide Seiten meinen, den Kampf militärisch gewinnen zu können. Das Regime träumt davon, die Revolution im Land mit blanker Gewalt beenden zu können. Gleichzeitig meint die Opposition aus dem Ausland, das Regime mit militärischer Gewalt stürzen zu können. Das ist nicht der Fall und die Bevölkerung ist zwischen den Fronten gefangen. Es gibt unglaubliche Zerstörungen und 3 Millionen Syrer sind entweder innerhalb des Landes oder ins Ausland vertrieben. Es ist eine menschliche Tragödie.

Wäre es angesichts der Gewalteskalation nicht eine Verpflichtung der Opposition das Gespräch mit der anderen Seite zu suchen? Ohne Vorbedingungen?

Hassan Abdulazeem: Mit all dem Tod und der Zerstörung, die das Regime im Land anrichtet, gilt es als „politischer Selbstmord“, mit diesem Regime zu reden. Das Volk wird das in keinem Fall akzeptieren.

Da Gewalt aus Ihrer Sicht keine Lösung ist, müssen Sie einen Weg zum Gespräch finden.

Hassan Abdulazeem: Als NCC unterstützen wir die Anstrengungen von Lakhdar Brahimi. Wenn die Gewalt eingestellt wird und das Regime Gefangene frei lässt, kann nach unserer Ansicht ein politischer Dialog beginnen. Dafür braucht man natürlich einen internationalen Konsens und zwar zwischen den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates, zwischen der Türkei und dem Iran und mit der Arabischen Liga. Nur so können die Kämpfe gestoppt werden. Wenn es Herrn Brahimi gelingt, einen bedeutenden Rückgang der Gewalt zu erreichen, werden wir uns einem Dialog nicht verweigern. Jetzt, wo die Gewalt der bewaffneten Gruppen weite Teile des Landes erfasst hat und die Streitkräfte hohe Verluste hinnehmen müssen, scheint es eine Art Gleichgewicht zu geben. Es kann der richtige Augenblick sein, Verhandlungen aufzunehmen. Das Regime ist in die Ecke gedrängt und könnte nach einer Lösung suchen. Aber es gibt großes Misstrauen.

Wer von der Opposition wäre an einem Dialog beteiligt?

Hassan Abdulazeem: Die syrische Opposition besteht aus drei übergeordneten Gruppen: die politische Opposition, die revolutionäre Bewegung und die bewaffnete Opposition ...

... deren Ansichten, Ziele und Methoden schließen sich teilweise aus. Der NCC tritt zum Beispiel für einen gewaltfreien Wandel ein.

Hassan Abdulazeem: Als NCC haben wir keinen Alleinvertretungsanspruch, aber wir repräsentieren einen großen und wichtigen Teil der Opposition. Der Syrische Nationalrat (SNR) hat die etwas arrogante Meinung, er werde als die einzige legitime Vertretung des syrischen Volkes im Land und außerhalb anerkannt werden. Er ist gescheitert, gehört aber natürlich zur Opposition. Und das Syrische Demokratische Forum, in dem sich etwa 200 unabhängige Persönlichkeiten zusammengeschlossen haben. Und nicht zu vergessen der Hohe Kurdische Nationalrat, der die Kurden in Syrien vertritt. Außerdem muss der Hohe Militärrat der „Freien Syrischen Armee“ vertreten sein, der bewaffnete Gruppen, Deserteure der Armee und Zivilisten vertritt, die zu den Waffen gegriffen haben. Auch die revolutionäre Bewegung muss bei Verhandlungen vertreten sein, die Leute, die zivile Demonstrationen organisieren. Die Lokalen Koordinationskomitees könnten dafür jeweils einen oder mehrere Vertreter für jede Provinz benennen.

Und wen werden diese Gruppen auf der anderen Seite als Gesprächspartner akzeptieren?

Hassan Abdulazzem: Diejenigen, die die Regierung vertreten, dürfen kein Blut an den Händen haben und sie dürfen nicht korrupt sein.

Würden Sie den Staatsminister für nationale Versöhnung, Ali Haidar akzeptieren?

Hassan Abdulazeem: Ali Haidar ist eine Person in der Regierung, die politisch denkt. Er und Kadri Jamil. Ali Haidar würde ich als Mitglied einer Regierungsdelegation akzeptieren. Wir kennen uns, er stand der Opposition immer nahe.

Karin Leukefeld

referiert auf dem 19. Friedenspolitischen Ratschlag am 1./2. Dezember 2012 in Kassel zum Thema:
Was habt ihr dem arabischen Frühling in Libyen und Syrien angetan!?
Hier geht es zum Programm des Kongresses




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