Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Wir wenden uns gegen die einseitige und eskalationsfördernde Berichterstattung der westlichen Medien"

Eine Stellungnahme der Bundessprecher der DFG-VK zum Syrien-Konflikt (Im Wortlaut)


Vorbemerkung *
Zu den Vorgängen in Syrien gibt es relativ wenige Stellungnahmen und Erklärungen aus der deutschen Friedensbewegung. Dies dürfte mehrere Gründe haben:
Zum ersten ist es sehr schwer, ausreichend abgesicherte Informationen über die Gewaltauseinandersetzungen vor Ort zu erhalten. Den Mainstream-Medien ist nicht über den Weg zu trauen - haben sie uns doch bei vergleichbaren Gelegenheiten auch schon das Blaue vom Himmel herunter gelogen. Ihre entschiedene Parteinahme gegen das syrische Regime (wir verwenden diesen Begriff keinesfalls pejorativ) und für den "Syrischen Nationalrat" sowie die bewaffneten Formationen der sog. "Freien Syrische Armee" ähnelt der Berichterstattung der Anfangszeit des Libyen-Konflikts vor einem Jahr. Alternative Nachrichtenquellen sind spärlich gesät und müssen mitunter mühsam zusammengesucht werden. Außerdem bieten sie auch nicht unbedingt die Gewähr für seriöse Informationen.
Zum zweiten herrscht große Unklarheit und Unsicherheit über die Zusammensetzung und "demokratische Qualität" der Opposition. Inwieweit spiegeln sie den Mehrheitswillen der Bevölkerung wider - oder repräsentieren sie nur bestimmte Teile bisher unterprivilegierter bzw. von der Macht fern gehaltener Gruppen der syrischen Gesellschaft?
Zum dritten bestehen offenbar Differenzen in der Friedensbewegung hinsichtlich der völkerrechtlichen Bewertung des Syrien-Konflikts. Gilt das Einmischungsverbot nach Art. 2 Ziff.7 der UN-Charta unter allen Umständen? Auch wenn in einem Staat Menschenrechte in grober Weise verletzt oder bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zu einer hohen Todesrate führen? Unter welchen Bedingungen sind Ausnahmen vom strikten Gewaltverbot nach Art. 2 Ziff. 4 der UN-Charta möglich? Beim Nato-Krieg gegen Jugoslawien vor 13 Jahren hat der Streit darüber zu einer erheblichen Schwächung der Friedensbewegung geführt. Auch die auffällige Zurückhaltung mancher Fraktionen der Friedensbewegung im Libyen-Krieg 2011 war wohl dem öffentlichen Druck (vor allem von Seiten der veröffentlichten Meinung) geschuldet.
Und viertens mischt sich in das Syrien-Problem die Frage der konkreten Unterstützung oppositioneller Kräfte, die für demokratisch oder revolutionär gehalten werden und damit für vertrauenswürdig gelten. Doch wer sind sie? Und ist es vornehmliche Aufgabe der Friedensbewegung, in einem Bürgerkrieg (der per definitionem bewaffnet ausgetragen wird) Partei zu ergreifen?
* Pst (AG Friedensforschung)

Im folgenden dokumentieren wir ein Positionspapier der DFG-VK. Es trägt die Unterschrift von vier der fünf Sprecher dieser alten und bekannten Friedensorganisation.
Eine Erklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag zu Syrien und Iran haben wir bereits an anderer Stelle veröffentlicht: Hände weg von Iran und Syrien

DOKUMENTIERT:

Stellungnahme der Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK): Bernd Baier, Jürgen Grässlin, Dr. Wolfgang Menzel und Thomas Carl Schwoerer zur Lage in Syrien

Frankfurt/M, 02.03.2012

Fast ein Jahr nach Beginn des Aufstandes gegen die Assad-Dynastie haben Waffen die Worte ersetzt: Statt mit Schlagstöcken arbeitet die Regierung nun mit Raketenwerfern und Granaten, die Opposition organisiert neben Demonstrationen gezielte Anschläge. Die Lage nähert sich immer schneller einem Bürgerkrieg. Wir warnen davor und vor einer militärischen Intervention von außen, und wir sind zutiefst besorgt über die immer größere Zahl von Opfern der Gewalt im Lande. Über 7000 Syrer sind seit März 2011 getötet worden, über Zehntausend wurden festgenommen.

Baschar al Assad hat die schlimmsten Formen der Folter abgeschafft, ohne die systematischen Menschenrechtsverletzungen aufzuhalten, und kämpft seit seinem Antritt gegen die veralteten Strukturen seines Landes. Er hat sich aber nicht durchgesetzt. Seine letzte Chance besteht darin, das Land durch Wahlen zu reformieren. Es gibt unterschiedliche Einschätzungen darüber, ob er bereit ist, über einen Machtverzicht zu verhandeln oder auch nur ernsthafte Zugeständnisse zu machen.

Wir fordern einen Runden Tisch aller Oppositionsgruppen und der Regierung und dass Konflikte unter Wahrung der Menschenrechte ausgetragen werden.

Eine militärische Intervention würde die Lage hingegen noch schlimmer machen. Sie könnte Assad und die bewaffnete Opposition zu verstärktem Töten von Menschen veranlassen. Sie würde den Konflikt nicht schnell beenden, schon weil die Opposition gespalten ist und die syrischen Streitkräfte zu stark sind. Zudem ist Syrien ein Pulverfass in einer instabilen Region, die mit Europa direkt benachbart ist. Ein Bürgerkrieg könnte auf andere Länder überspringen. Die Bedingungen für eine erfolgreiche Transformation zu einer demokratischen Gesellschaft würden sich verschlechtern. Eine Eskalation mit Beteiligung der Nato könnte zu einer offenen Konfrontation zwischen den atombewaffneten Großmächten führen. Die Militarisierung des Konflikts darf nicht durch Waffenexporte weiter gefördert werden.

Eine Flugverbotszone wäre keine Lösung, weil die syrische Luftwaffe nicht geflogen ist. „Korridore für humanitäre Hilfe“ nahe den Grenzen sind ebenfalls keine Lösung: Sie könnten Zivilisten schützen, aber sie müssten bald verteidigt werden gegen Regierungstruppen. Da die oppositionelle Freie Syrische Armee den Regierungstruppen deutlich unterlegen ist, würden solche Korridore eine militärische Invervention nach sich ziehen, mit den genannten Gefahren.

Die Opposition

Nach allem, was wir wissen, dominiert die Muslimbruderschaft im Syrischen Nationalrat. Entsprechend bleiben säkulare und linksgerichtete Gruppen sowie Kurden diesem fern. Sein Rivale ist der Syrische Nationale Koordinierungsausschuss, der Militäroperationen ablehnt und stattdessen Reformen fordert, um eine Demokratisierung einzuleiten.

Der Nationalrat spricht sich gegen Verhandlungen mit der Regierung aus und hat gefordert, dass die Opposition auf den Einsatz von Gewalt verzichtet. Er hat sich allerdings verbündet mit der Freien Syrischen Armee, die aus bewaffneten Überlaufern aus den Regierungstruppen besteht. Die Opposition ist gespalten zwischen Anhängern des bewaffneten und des gewaltfreien Widerstands. Wir sind Anhänger gewaltloser demokratischer Aufbrüche wie in Tunesien und Ägypten. Auch ein Teil der syrischen Oppositionellen hält an Pazifismus und zivilem Ungehorsam fest als erfolgreichstes Mittel, das nach dem Fall des Regimes noch nützlich sein kann. Diese Oppositionellen arbeiten mit Graffiti gegen das Regime, Pamphleten, Revolutionsliedern und – gedichten und verstecken Lautsprecher an öffentlichen Plätzen, um dort regimekritische Lieder zu übertragen. Wir sind dafür, diesem Teil der syrischen Opposition mit Satellitentelefonen, Laptops, Stromgeneratoren, Digitalkameras und Medizin zu helfen, international sichtbarer zu werden und sich besser zu vernetzen. Nichtregierungsorganisationen zur zivilen Konfliktbearbeitung leisten dazu wichtige Beiträge. Wir fordern die Aufnahme und den Abschiebestopp von Deserteuren und anderen Flüchtlingen in Deutschland.

Wirtschaftssanktionen treffen den Privatsektor und die Mittelklasse und schwächen damit genau die Kräfte, auf denen die Hoffnungen für einen gesellschaftlichen Wandel ruhen. Hingegen begrüßen wir zielgerichtete Kontensperren gegen die führenden Mitglieder der Regierung, um diese an den Verhandlungstisch zu bringen.

Das Ausland

Iran unterstützt die Assad-Regierung mit Waffen, und die Türkei die Freie Syrische Armee als bewaffneten Teil der Opposition. Letztere erhält Verstärkung durch Söldner aus dem Irak. Al Kaida verübt Terroranschläge. Die USA versuchen, die gegenwärtige Situation auszunutzen und einen Mittleren Osten zu schaffen, in dem sie keine Gegner mehr haben, wie z.B. Assad. Sie versuchen, das Ergebnis des Irakkriegs zu korrigieren. Denn der Krieg hat Iran und Syrien gestärkt.

Wir fordern die Bundeskanzlerin und die Nato auf, den heimlichen Transfer westlicher Waffen nach Syrien umgehend zu unterbinden und die Verständigung mit allen Beteiligten zu suchen, darunter mit Russland.

Russland liefert Waffen an die Assad-Regierung; das syrische Tartus ist die einzige russische Marinebasis am Mittelmeer.

Wir fordern die russische Regierung auf, umgehend einen konsequent friedensorientierten Resolutionsentwurf in den Weltsicherheitsrat einzubringen, der die weitere Bewaffnung sowohl der Assad-Regierung als auch der syrischen Opposition ablehnt.

Die Arabische Liga hat ihre Beobachtermission zuletzt abgebrochen wegen der schwerwiegenden Verschlechterung der Situation und der fortgesetzten Gewalt. Die Assad-Regierung habe sich offensichtlich für die militärische Option entschieden. Es gibt aber keine Alternative zur Deeskalation: Eine Fortsetzung und bessere Ausstattung einer Beobachtermission ist wichtig, denn internationale Beobachter können Schlimmeres verhindern.

Die Arabische Liga hatte zuvor „die fortgesetzte Tötung von Zivilisten“ verurteilt und den syrischen Staat aufgefordert, die Zivilbevölkerung zu schützen, Panzer und alle militärischen Fahrzeuge von den Straßen abzuziehen, die politischen Gefangenen freizulassen, den Dialog mit der Opposition zu beginnen und grundlegende Reformen einzuleiten. Das Regime hatte diese Forderungen akzeptiert, sie aber nicht durchgehend umgesetzt.

Wie im Jemen, soll nach dem Willen der Arabischen Liga eine Regierung der nationalen Einheit gebildet werden, die sich aus Mitgliedern des Regimes und der Opposition zusammensetzt. Zwei Monate nach der Regierungsbildung habe Assad zurückzutreten und die Amtsgeschäfte seinem Stellvertreter Farug al Sharaa zu übergeben.

Demgegenüber gibt es eine beachtliche Mehrheit in Syrien, die sagt, das eigentliche Problem sei nicht Assad. Sie macht einen Unterschied zwischen Assad und dem Regime und stellt fest, dass die Krise nicht allein damit ende, dass Assad geht.

Die Arabische Liga hat eine militärische Intervention der Nato klar abgelehnt, aber Friedenstruppen der Vereinten Nationen gefordert (die allerdings eine Feuerpause und das Einverständnis der syrischen Regierung voraussetzen; beide sind nicht gegeben) und beispiellose Wirtschaftssanktionen gegen Syrien beschlossen: die Aussetzung jeglichen Handels mit Ausnahme von Lebensmitteln, das Einfrieren der Guthaben ranghoher Regimevertreter, den Abzug arabischer Investitionen aus Syrien, ein Reiseverbot für syrische Regierungsvertreter in der arabischen Welt und ein Verbot von Transaktionen mit der syrischen Zentralbank. Saudi Arabien hat seine Hilfszahlungen an Syrien längst eingestellt, und das europäische Ölembargo trifft das Regime hart. Die Steuereinnahmen Syriens sind von 340 Milliarden im Jahr 2010 auf nur noch fünf Milliarden gesunken. Die Wirtschaft ist nahezu komplett gelähmt, die syrische Lira hat seit Beginn des Aufstands mehr als die Hälfte ihres Werts verloren.

Wir fordern die Arabische Liga auf, ihre Beobachtermission wieder aufzunehmen und umgehend alle Aktivitäten zu unterbinden, die die Gewalt in Syrien schüren.

Nach Einreiseverboten und Kontensperren gegen die führenden Vertreter des Regimes bereitet die EU weitere Sanktionen gegen die syrische Zentralbank sowie die Einstellung des kommerziellen Flugverkehrs vor.

Al Jazeera und Al Arabiya produzieren kampagnenartig Meldungen, immer aus Sicht der Opposition. Wir wenden uns gegen die einseitige und eskalationsfördernde Berichterstattung der westlichen Medien, die oft die Meldungen von Al Jazeera und Al Arabiya schlicht wiedergeben.

gez. Bernd Baier, Jürgen Grässlin, Dr. Wolfgang Menzel und Thomas Carl Schwoerer

* Quelle: www.dfg-vk.de


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