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Zeugnis und Anklage

Der ungesühnte Massenmord von Novi Sad im Winter 1942

Von Ursula Rütten *

Vor 69 Jahren, im Januar und Februar 1942, wurde Novi Sad, die Hauptstadt der serbischen Vojvodina, zum Schauplatz eines abscheulichen Mordfeldzugs. Einer der mutmaßlich Verantwortlichen ist noch immer unbehelligt.

Als »Wannseekonferenz« ging das Treffen in die Geschichte ein: Eine Zusammenkunft hochrangiger Nazis, vom Chef der Sicherheitspolizei Reinhard Heydrich für den 20. Januar 1942 in Berlin einberufen, sollte die sogenannte »Endlösung der Judenfrage in Europa« einleiten. Die Konferenz besiegelte die Deportation »rassisch minderwertiger Menschen« nach Osten und die Ermordung von Millionen Juden, Sinti und Roma. Ob das Geschehen in Novi Sad in direktem Zusammenhang mit dieser Direktive der reichsdeutschen Nazielite stand, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass einen Tag später, am 21. Januar 1942, Rollkommandos des mit Hitlerdeutschland verbündeten ungarischen Pfeilkreuzlerregimes begannen, die von Ungarn okkupierte nordserbische Provinz Vojvodina heimzusuchen. Mit gleicher Zielsetzung.

Zwei Wochen lang wüteten die Gendarmen

Vera Konjovic aus Belgrad erinnert sich ihrer Ankunft im Donauhafen von Novi Sad Ende 1941. Damals trug sie noch ihren Mädchennamen: Vajs. »Ich war etwa sechs Jahre alt« Mit ihrer Mutter war Vera Vajs vor Mussolinis Faschisten aus dem italienisch besetzten Ljubljana geflohen. Nachdem sie sich in Budapest falsche Papiere besorgt hatten, schlugen sich Mutter und Tochter nach Serbien durch, woher Veras Vater stammte. In Novi Sad, der Hauptstadt der Vojvodina, lebte die Großmutter.

Die nordserbische Provinz war zu jener Zeit von den mit Hitler verbündeten Ungarn besetzt. In Belgrad und dem übrigen Serbien herrschten die deutsche Wehrmacht, SS und Gestapo. »Wir waren versteckt im Unterdeck eines Frachtschiffes. Am Ufer patrouillierten die Gendarmen. Die hießen Csendörs, die ungarische Gendarmerie. Auf dem Kopf hatten sie Helme wie die Italiener... Jedenfalls, am Abend sind wir angekommen, und in der Früh hat die Razzia angefangen. Dann haben wir Tag für Tag gewartet, dass diese Leute kommen. Wir haben ja gewusst, was da passiert. Nicht ich, aber meine Mutter und meine Großmutter ganz sicher, und man hat Schüsse gehört, ich auch.«

Die Familie Vajs, als Ungarn legitimiert, blieb von der wütenden Soldateska verschont, die auch ihre Wohnung durchkämmte. Mit dem Geld der Großmutter kaufte sie sich frei. Vera musste im Haus bleiben, um nicht Terror und Tod mit ansehen zu müssen. »In der Razzia sind Juden, Serben und Roma umgekommen. Es war nicht nur eine jüdische Geschichte«, erzählt Vera.

Die Horrornachrichten vom blutigen Geschehen in den Straßen der Stadt drangen in jedes Haus, und blieben auch dem Kind nicht verborgen: »Zwei Wochen haben sie mich nicht hinaus gelassen, aber ich habe immer gelauscht, wenn jemand kam und erzählte, von den Hinrichtungen gleich an Ort und Stelle und auch auf der Donau. Dort, wo wir angekommen waren, am Hafen, da haben sie so ein Brett gehabt und davor sind die Leute Schlange gestanden. Wenn sie an der Reihe waren, sind sie auf dieses Brett gestiegen und die Ungarn haben geschossen, und die Getroffenen sind in die Donau gefallen, die war fast zugefroren in diesem Winter. Und wenn du heute mit jemand Älterem in Belgrad sprichst, hörst du oft noch von den unzähligen Leichen, die nach vielen Tagen noch donauabwärts durch Belgrad geschwommen sind.«

Etwa 1300 Menschen wurden auf diese Weise umgebracht. Allein in Novi Sad und Umgebung kamen in jenen zwei Wochen über 4000 Juden, Serben, Roma, aber auch etliche Ungarn ums Leben. Eindringlich erinnern heute eine Skulptur und die Tafeln mit den Namen hunderter Ermordeter am »Kai der Razziaopfer« gegenüber der Festung Petrovaradin in Novi Sad an diese Verbrechen.

Verurteilt, geflohen, zurückgekehrt

Der Verantwortliche ist bekannt. Sándor Képíró, damals Offizier der ungarischen Gendarmerie in Novi Sad. Képíró wurde noch 1944, während des Krieges, in Ungarn für dieses Verbrechen verurteilt. Aber kurz nach dem Prozess besetzten die Nazis Ungarn und ließen ihn frei. 1946 – nach dem Krieg – verurteilte ihn ein ungarisches Gericht in Abwesenheit noch einmal zu 14 Jahren Haft. Képíró hatte sich nach Österreich abgesetzt, 1948 floh er nach Argentinien, wo er – vermutlich unter anderem Namen – Jahrzehnte unbehelligt lebte. 1996 erst kehrte er ins »gewendete« Ungarn zurück. Man hatte ihm zugesichert, dass er nicht belangt werde, denn das Urteil von 1944 sei annulliert worden.

Gescheitertes Auslieferungsgesuch

Aber auch das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Jerusalem hatte ihn im Visier. Beweise für eine Klage wurden zusammengetragen, vor allem aus Serbien. Doch der gegenwärtige Direktor des Zentrums, Dr. Efraim Zuroff, konnte erst handeln, nachdem er Képíró ausfindig gemacht hatte: in einer Wohnung gleich gegenüber einer Synagoge in Budapest.

2006 wandte sich Zuroff mit seinem Material an die ungarische Justiz. Dr. Ana Frenkel, bis vor kurzem Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde von Novi Sad, repräsentiert das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Serbien. Sie war von Anfang an mit dem Fall vertraut und weiß ebenso gut um die Schwierigkeiten, den mutmaßlichen Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen. Abgesehen davon, dass Képíró alle Anschuldigungen leugnet.

»Man kann ihn nicht der Verbrechen überführen, die er mit eigenen Händen begangen hat, denn die meisten Opfer sind tot«, sagt Ana Frenkel. »Konkret kann ihm zur Last gelegt werden, als kommandierender Gendarmerieoffizier sowohl den Befehl ausgegeben zu haben, die Häuser systematisch zu durchsuchen, als auch zugelassen zu haben, dass seine Leute die Menschen massenweise ermordeten. Er kam doch nur mit dem Ziel nach Novi Sad, diese Großrazzia durchzuführen. Er gab die Schießbefehle. Er suchte diejenigen aus, die exekutiert werden sollten und die man laufen ließ.«

Vergeblich habe sich Serbien um eine Auslieferung Képírós bemüht. So habe die serbische Justiz den ungarischen Strafverfolgungsbehörden alle belastenden Dokumente zur Verfügung gestellt, auch in ungarischer Übersetzung. Darüber hinaus habe man auch außerhalb der Grenzen Serbiens noch Überlebende gefunden, die ihre Zeugenaussagen zu Protokoll gegeben haben. Die lägen dem zuständigen Gericht in Budapest ebenfalls schon seit Jahren vor. »Aber man kann sich leicht denken, dass so etwas gerne unter den Tisch fällt oder vergessen werden könnte. Das ist das Problem«, weiß Ana Frenkel, »Also, es ist in jeder Hinsicht fünf Minuten vor Zwölf, um ein Verfahren mit allem Material und mit Zeugen eröffnen zu können.«

Zynische Justizposse in Budapest

Derweil spielte sich in Budapest eine zynische Justizposse ab. Ein Jahr nachdem Efraim Zuroff, der »Nazijäger« aus Jerusalem, seine Klage gegen Képíró eingereicht hatte, 2007, reagierte der Beschuldigte – promovierter Rechtswissenschaftler – seinerseits mit einer Verleumdungsklage gegen seinen Verfolger. Was geschah? Das Budapester Gericht zog Képírós Klage derjenigen Zuroffs vor. Das Verfahren zog sich bis Mitte Dezember vorigen Jahres hin. Immerhin endete es mit einem Freispruch für Zuroff. Aber der Kriegsverbrecherprozess gegen Képíró lässt noch immer auf sich warten, ebenso wie die demokratische Götterdämmerung in Ungarn.

Dennoch ist Ana Frenkel zuversichtlich, dass sich die ungarische Justiz und die Regierung ihrer Verantwortung gegenüber der Vergangenheit und ihres heutigen Status als Mitglied der Europäischen Union bewusst ist: »Képíró ist 96 Jahre alt, aber er ist in einer sehr guten Verfassung. Und so könnten sie ihn vor Gericht bringen. Ich glaube, dass sie Anklage erheben werden. Denn wenn Képíró stürbe, müssten sie vor aller Welt ihre Unfähigkeit eingestehen.«

»Wie könnten die Ungarn Mitglied der europäischen Gemeinschaft sein, wenn sie sich nicht ihrer kriminellen Vergangenheit bewusst würden?«, fragt sich Ana Frenkel. »Ich spreche von der Justiz und deren faschistischer Vergangenheit. Wie können sie sich davon distanzieren? Indem sie Képíró den Prozess machen. Niemand wird ihn zum Tode verurteilen, er dürfte sein Leben im Gefängnis beenden. Herr Orbán (Ungarns gegenwärtiger Regierungschef – d. Red.) sollte sich all dessen bewusst sein und handeln, sonst ist es um die Zukunft Ungarns schlecht bestellt.«

* Aus: Neues Deutschland, 31. Januar 2011


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