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Moskau will kein West-Essen mehr

Russland antwortet auf EU-Sanktionen mit Einfuhrverbot für Lebensmittel

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Moskaus Antwort auf die EU-Sanktionen treffen vor allem die osteuropäischen Mitgliedsstaaten. Denn die exportieren besonders viele Lebensmittel nach Russland.

Mittwochabend schlug der Blitz ein: Per Dekret untersagte Präsident Wladimir Putin die Einfuhr von Agrarerzeugnissen, Lebensmitteln und Rohstoffen für die Nahrungsmittelherstellung aus Ländern, die Wirtschaftssanktionen gegen Russland beschlossen hatten. Das Verbot gilt nicht nur für EU-Mitglieder, sondern auch für Importe aus den USA, der Schweiz, Kanada, Japan und Australien. Es trat mit Verkündung des Erlasses in Kraft und ist zunächst auf ein Jahr begrenzt.

Die Entscheidung, hieß es, habe zum Ziel, »die nationalen Interessen Russlands zu schützen«. Die komplette Liste aller Produkte, die unter das Embargo fallen, reichte die russische Agraraufsichtsbehörde am Donnerstag nach. Obst und Gemüse stehen dabei ganz oben. Damit, so Experten, wolle Moskau vor allem die Osteuropäer treffen, die am lautesten nach verschärften Sanktionen gegen Russland gerufen hatten.

Die baltischen Staaten exportierten bisher reichlich Milch, Molkereierzeugnisse, Frischfisch und Konserven nach Russland, Polen vor allem tiefgefrorenes Obst und Gemüse, das preiswert ist und schon zu Sowjetzeiten einen guten Ruf hatte. Doch auch Deutschland exportierte im Jahr 2013 Lebensmittel im Wert von 1,6 Milliarden Euro nach Russland. Damit ist das Land nach der Schweiz der zweitwichtigste Markt außerhalb der EU für deutsche Agrarprodukte.

Die heimische Lebensmittelbranche fordert deshalb die Politik auf, ihr beim Ausgleichen der Verluste im Exportgeschäft zu helfen. »Handelshemmnisse und Sanktionen verfehlen nachweislich ihr Ziel, wenn sie, wie hier, zu Lasten von Wirtschaft und Verbrauchern gehen«, erklärte der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie, Christoph Minhoff.

Insgesamt versorgte sich Russland bisher bei Obst zu 30 und bei Gemüse zu 20 Prozent aus EU-Importen. Sie werden vor allem von Lebensmittel-Discountern verkauft und sind auch für Menschen mit geringem Einkommen erschwinglich. Wer es sich leisten kann, kauft indes auf den Bauernmärkten ein, die teurer sind, dafür aber statt unreif in Frankreich geernteter Aprikosen und wässeriger Tomaten aus den Niederlanden sonnengereiftes, erntefrisches Obst und Gemüse aus den südlichen Regionen Russlands, dem Kaukasus oder Zen-tralasien im Angebot haben.

Angesichts dieser Alternativen hält sich sogar beim Fachverband der Restaurantbesitzer die Entrüstung über das vom Kreml verhängte Embargo sehr in Grenzen. Echt wehtun, so Verbandssprecher Igor Bucharow beim Morgentalk von Radio Echo Moskwy, werde das Einfuhrverbot nur französischen und italienischen Spezialitätenrestaurants, die sich bisher zu 85 Prozent mit Importen aus Europa versorgten. Die nicht so länderspezifisch festgelegte Konkurrenz dagegen will die drohende Bedarfslücke vor allem durch Importe aus Südafrika und Lateinamerika decken. Und wenn es klappt, aus Iran, was erheblich billiger wäre.

Es könnte klappen. Auch, wenn es nicht in erster Linie um Aprikosen oder Granatapfelsaft-Konzentrat ging, als die Energieminister Russlands und Irans am Dienstag in Teheran eine Absichtserklärung zur Vertiefung der Wirtschaftskooperation unterzeichneten. Sie sieht vor, dass Russland rund 30 Prozent des in Iran geförderten Öls abnimmt, mit dem Recht es auf internationalen Spot-Märkten weiter zu verkaufen. Weitergehende Abkommen sollen im September unterzeichnet werden.

* Aus: neues deutschland, Freitag 8. August 2014


Dürfen die denn das?

Rußlands Regierung veröffentlicht Boykottliste für Waren aus EU und USA. Westmedien tun so, als sei das überraschend oder empörend **

EU und USA müssen sich neue Abnehmer für Fleisch und Milchprodukte suchen. Waren dieser Art, die bislang in die Russische Föderation verkauft wurden, werden dort nicht mehr abgenommen. Von einem bereits am Mittwoch angekündigten einjährigen Einfuhrverbot sind auch Obst und Gemüse betroffen, teilte Regierungschef Dmitri Medwedew am Donnerstag in Moskau mit. Die Maßnahmen gelten auch für Produkte aus Australien, Kanada und Norwegen.

Die politische Führung in Moskau hatte bisher nur verbal auf die westlichen Sanktionen reagiert. Und sie scheint sich die praktische Antwort nicht leichtgemacht zu haben. Seine Regierung habe die Sanktionen sehr lange nicht erwidert, sagte Medwedew laut der russischen Nachrichtenagentur Interfax. Das Land habe bis zuletzt gehofft, daß der Westen begreife, daß seine Politik in die Sackgasse führe. »Jetzt mußten wir antworten«, so Medwedew.

Es ist Rußlands bisher schärfste Reaktion auf die Wirtschaftssanktionen des Westens im Ukraine-Konflikt. Gegen das Nachbarland erließ die Regierung in Moskau außerdem ein Überflugverbot über russischen Luftraum. Ukrainische Fluglinien können nun nicht mehr auf dem kürzesten Weg zum Beispiel in die Türkei oder in die Südkaukasusregion fliegen. Medwedew sagte, der Importstopp werde streng überwacht. Zudem solle durch Kontrollen verhindert werden, daß für die weiter verkauften Waren die Preise steigen.

In Rußland weiß man, daß die Gegenmaßnahmen auch für das eigene Land »äußerst schmerzhaft« werden. Die EU verliere viele Milliarden Euro aus dem Obst- und Gemüsehandel mit Rußland, sagte der Wirtschaftswissenschaftler Sergej Sutyrin von der Universität St. Petersburg am Donnerstag laut dpa. Zudem müßten die US-Produzenten auf einen lukrativen Markt für Rindfleisch und Geflügel verzichten. Der Moskauer Analyst Dmitri Polewoj sprach dpa zufolge von einer »Schocktherapie« für die russische Lebensmittelbranche. »Das Verbot betrifft zehn Prozent des Agrarimports, die jetzt schnell ersetzt werden müssen«, betonte er. Russische Medien werteten die Strafmaßnahmen aber auch als Chance für die heimische Industrie. »Das Verbot kann der Lebensmittelbranche endlich jenen Impuls verleihen, den sie für eine stärkere Entwicklung braucht«, kommentierte die Wirtschaftszeitung Wedomosti.

So will Rußland beispielsweise Geflügelimporte aus den USA einstellen. Dafür springt anscheinend Brasilien ein. Der Branchenverband des BRICS-Mitgliedes erklärte umgehend, man sei bereit zu helfen, um die entstehende Angebotslücke zu schließen. Brasilien könnte 150000 Tonnen Geflügel pro Jahr liefern. Doch nicht nur auf neue Geschäfte mit den BRICS-Staaten will man in Moskau setzen (neben Rußland gehören Brasilien, Indien, China und Südafrika zu dem Verbund der großen Schwellenländer). Medwedews Regierung will offenbar infolge des vom Westen angezettelten Wirtschaftskrieges mehr Waren aus südamerikanischen Ländern importieren. Gespräche waren nach dem gestrigen Donnerstag mit den Botschaftern Ecuadors, Brasi­liens, Chiles und Argentiniens geplant, meldete Interfax unter Berufung auf die Lebensmittelaufsicht.

Im Westen kommentiert man das mit einer Mischung aus Selbstgerechtigkeit und Empörung. »Putin verhängt Importstopp – und schadet Rußlands Bürgern« titelte Spiegel online. Auf faz.net zeigte man sich erstaunt über »das Ausmaß« des Importstopps. Dieses »übersteigt die Erwartungen vieler Beobachter enorm«. Und US-Präsident Barack Obama wurde von den Agenturen mit der Feststellung zitiert, daß Rußland zunehmend isoliert dastehe.

** Aus: junge Welt, Freitag 8. August 2014

Rheinmetall macht sich zum Opfer

Rüstungskonzern will Entschädigung von Gabriel

Rheinmetall aus Düsseldorf will das von Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) verkündete Lieferverbot Richtung Russland nicht hinnehmen. Der Rüstungskonzern arbeitet »intensiv daran, unter Ausnutzung aller uns zur Verfügung stehenden rechtlichen Mittel, die finanzielle Belastung so gering wie möglich zu halten«. Klartext: Der Konzern erwartet Entschädigungen. Wegen des Exportstopps für ein Gefechtszentrum bei Mulino an der Wolga, das zum Gutteil längst in Betrieb ist, müsse man mit bis zu 20 Millionen Euro weniger Gewinn im Rüstungsgeschäft rechnen. Nach einer Gewinnwarnung rutschte die Aktie um 5,7 Prozent und übernahm die rote Laterne im MDAX-Ranking. Experten meinen, dass Rheinmetall versucht, Strukturprobleme hinter den Russland-Sanktionen zu verstecken.

Das Gefechtsübungszentrum für Russland basiert auf dem Übungsplatzkonzept der Letzlinger Heide in Sachsen-Anhalt. Es wurde dank Bundeswehrunterstützung mehrfach als eine Art Messegelände genutzt. Nach der Vertragsunterzeichnung mit Russland träumte Rheinmetall von Anschlussgeschäften. Die jedoch wären auch bei einer normalen bilateralen Entwicklung zwischen Berlin und Moskau Illusion geblieben. hei

(nd, 08.08.2014)



Sanktionen: Verhärtete Fronten zwischen EU und Russland ***

Die EU ist beunruhigt über das von Russland verhängte Importverbot für Agrarprodukte, schreibt die Zeitung „Kommersant“ am Freitag.

Die EU-Kommission halte Moskaus Gegenmaßnahmen auf die westlichen Sanktionen für politisch motiviert und behält sich das Recht vor, ähnliche Maßnahmen zu ergreifen, so der Sprecher der EU-Kommission Frederic Vincent. Auf Russland entfallen rund zehn Prozent des europäischen Exports von Agrarerzeugnissen. 2013 wurde ein Umsatz von zwölf Milliarden Euro verbucht. Viele Lebensmittelproduzenten in der EU schlagen Alarm. „Das ist eine höchst alarmierende Situation. Ich habe bereits um ein Treffen mit Francois Hollande gebeten“, sagte der Chef des französischen Bauernverbandes FNSEA Xavier Beulin. Die französische Agrarindustrie will genau wissen, welche Lebensmittel nicht mehr nach Russland geliefert werden dürfen und welche Bedingungen für eine Aufhebung des Verbots notwendig sind. „Das alles war eine Überraschung für uns“, sagt Beulin.

Laut den „Kommersant“-Quellen sei man in den europäischen Wirtschaftskreisen davon ausgegangen, dass Russland vor allem Gegenmaßnahmen gegen widerspenstige Länder wie Polen und die baltischen Staaten ergreifen würde. Deswegen waren sie überrascht, dass das Importverbot auch Länder traf, die die Sanktionen gegen Russland abschwächen wollten. „Frankreich ist einer der wichtigsten Exporteure von Landwirtschaftsprodukten in der EU. Beschränkungen würden das Land natürlich treffen“, sagte David Lasfargue, Präsident der Assoziation der französischen Außenhandelsberater in Russland. „Jetzt warten alle Akteure darauf, wie die Beschränkungen die Wirtschaft tatsächlich treffen. Doch das ganze Sanktionssystem schadet natürlich sowohl dem europäischen als auch dem russischen Geschäft“.

„Für die Lebensmittelwirtschaft ist Russland einer der wichtigsten Exportmärkte außerhalb der EU. Wir exportieren im Wert von etwa 1,5 Milliarden Euro nach Russland, und es wird unsere Exporteure aus diesem Bereich natürlich schon sehr treffen“, sagte Michael Harms, Vorsitzender der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer in Moskau. Harms zufolge war die deutsche Wirtschaft immer kritisch gegenüber den Sanktionen eingestellt, wandte sich an politische Entscheidungsträger und suchte nach Wegen zur Vertiefung der Zusammenarbeit mit Russland.

Europäischen Experten zufolge helfen die Sanktionen zwischen der EU und Russland nicht der Beilegung der Ukraine-Krise. Bei der Verhängung der Sanktionen gegen Russland wolle die EU zeigen, dass sie nicht bereit sei, alles zu verzeihen. Putin zeige als Reaktion ebenfalls Stärke. Doch diese Spirale der gegenseitigen Sanktionen führe zur Konfrontation und Entfremdung und fördere nicht die Lösung der Ukraine-Krise, so Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik.

*** Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 8. August 2014; http://de.ria.ru


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