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Putin: Die Sanktionen schaden der globalen Wirtschaft

Dokumentiert: Der russische Präsident im Interview mit NDR Autor Hubert Seipel in Wladiwostok *


Kurz vor seiner Abreise zum Gipfel der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) in Brisbane hat der russische Präsident Wladimir Putin dem NDR Autor Hubert Seipel ein exklusives Interview gegeben. Es wird am Sonntag, den 16. November 2014, um 21.45 Uhr bei Günther Jauch in der ARD ausgestrahlt.
Am frühen Samstagnachmittag deutscher Zeit hat der Kreml bereits Auszüge des Interviews in englischer Übersetzung veröffentlicht. Diesen thematischen Schwerpunkt des Gesprächs zum bevorstehenden G20-Gipfel und den Folgen der Sanktionen des Westens gegenüber Russland veröffentlichen wir hier im Wortlaut - die russischen Originalantworten Putins samt deutscher Übersetzung. Das Video dieses Interview-Teils gibt es bei tagesschau.de.


Hubert Seipel: Der Westen hat Russland aus dem G8-Club, dem exklusiven Industrieklub, ausgeladen. Und gleichzeitig haben die USA und England massive Sanktionen gegen Russland verhängt. Sie fahren jetzt zum Gipfeltreffen der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer der Welt, zum G20-Gipfel. Und dort ist auf diesem Gipfel vorrangig die Frage nach Wachstum und nach mehr Beschäftigung gestellt worden. Der russische Finanzminister hat, was Russland angeht, gesagt: Hier gibt es nicht mehr Wachstum und es wird auch höhere Arbeitslosigkeit geben. Die Sanktionen fangen durchaus an, zu wirken. Der Rubel ist im Keller. Auch der Ölpreis ist im Keller. Und so ziemlich alles ist das Gegenteil von dem, was hier in Brisbane verhandelt wird gleichzeitig noch einmal. Die Prognose von zwei Prozent Wachstum für Russland für die nächsten paar Jahre ist ziemlich utopisch. Auch für andere Länder wird das wohl so sein. Ist diese ganze Krise sozusagen kontraproduktiv auch für diesen Gipfel?

Wladimir Putin (aus dem Russischen): Meinen Sie die Krise in der Ukraine? (Hubert Seipel: Ja). Ja, natürlich. Wer profitiert denn davon? Sie haben gefragt, wie sich die Lage entwickelt, und, worauf wir bauen. Natürlich bauen wir auf eine Verbesserung der Situation. Natürlich bauen wir darauf, dass diese Krise in der Ukraine zu Ende geht. Natürlich wollen wir normale Beziehungen mit all unseren Partnern, auch in den USA, auch in Europa. Und natürlich schadet das, was im Kontext der sogenannten Sanktionen passiert, der globalen Wirtschaft, sowohl uns als auch der globalen Wirtschaft. Vor allem schadet es den EU-Russland-Beziehungen, und natürlich steht es in diesem Fall im Widerspruch zum Völkerrecht, das die Wirtschaftsbeziehungen regelt, zu den WTO-Grundsätzen und zu den Vereinbarungen, die wir im Rahmen der G20 zu treffen versuchen. Natürlich steht es im direkten Widerspruch.

Übrigens liegen die Kosten, die aufgrund unserer Gegenmaßnahmen zum Schutz der russischen Wirtschaft entstanden sind, nach Schätzungen der EU-Kommission, wenn ich auf dem aktuellen Stand bin, bei 5 bis 6 Milliarden Euro. Kann man die Kosten ausrechnen, die sich für Russland aus den Sanktionen ergeben? Das ist ziemlich schwer. Zum Teil sind sie virtuell, aber es gibt sicherlich Kosten. Es gibt aber auch Vorteile. Denn die Einschränkungen, die in Bezug auf den Kauf bestimmter Waren im Westen, in Europa, in den Staaten für bestimmte russische Unternehmen eingeführt wurden, geben uns Anreize, diese Waren selbst zu produzieren. Es lebt sich so bequem, wenn wir nur verkaufen, wenn wir nur daran denken müssen, mehr Öl und Gas zu fördern, und man den Rest kaufen kann. Dieses Leben gehört teilweise jetzt schon der Vergangenheit an. Jetzt müssen wir uns nicht nur überlegen, wie wir Öl und Gas fördern und verkaufen können; wir müssen auch darüber nachdenken, wie wir Waren selbst produzieren können. Und wir haben hier einen guten wissenschaftlichen und technischen Vorlauf, dank dem wir uns völlig sicher sein können, dass wir alle technologischen Herausforderungen, unter anderem auch im Bereich der Verteidigung, eigenständig meistern können.

Aber jetzt zum Wachstum. In diesem Jahr haben wir ein bescheidenes Wachstum, aber immerhin ein Wachstum von 0,5 bis 0,6 Prozent. Für das nächste Jahr gehen wir von einem Wachstum von 1,2 Prozent aus, für das übernächste Jahr von 2,3 Prozent und für das Jahr darauf von 3 Prozent. Im Großen und Ganzen würden wir am liebsten zwar andere Zahlen sehen, aber es ist ein Wachstum, und wir sind uns sicher, dass wir diese Zahlen erreichen können.

Hubert Seipel: Ein anderes Thema in Brisbane ist die Frage der finanziellen Stabilität. Für Russland dürfte das auch ziemlich schwierig werden in Zukunft. Russische Banken und Firmen dürfen sich nicht längerfristig über den europäischen oder amerikanischen Finanzmarkt refinanzieren. Jetzt gibt es weitere Planspiele, Russland möglicherweise von dem internationalen Zahlungsverkehr abzuschneiden. Und glauben Sie, dass dieses auch ein Thema auf dem Gipfel wird? Welche Erwartungen haben Sie an diesen Gipfel?

Wladimir Putin: Natürlich erwarte ich, dass es zu offenen Gesprächen mit Kollegen kommt und dass nicht nur um den heißen Brei herumgeredet wird. Aber solche Foren, die Entscheidungen, Diskussionen auf diesen Foren sind nicht verbindlich und werden oft leider nicht eingehalten. Unter anderem der Beschluss, die internationale Finanzarchitektur zu ändern und die Rolle der Entwicklungsstaaten im Einklang mit deren Position in der Weltwirtschaft generell zu stärken. So haben wir auf einem G20-Gipfeltreffen beschlossen, dass die Entwicklungsstaaten im IWF mehr Gewicht bekommen sollen, aber der US-Kongress hat diese Entscheidung blockiert, und das Ganze geriet ins Stocken. Durch den Kongress kommt das einfach nicht durch. Und das war's. Wir sehen also, was in Wirklichkeit passiert. Aber natürlich rechnen wir mit offenen Gesprächen und mit genügend Objektivität.

Was die internationale Finanzarchitektur angeht, so ist die heutige Problematik nicht erst heute entstanden. Sie besteht darin, dass es in Industriestaaten einen Kapitalüberschuss gibt, da die westlichen Volkswirtschaften für ihr Kapital nicht genug effiziente und sichere Investitionsmöglichkeiten finden. Und Entwicklungsländer haben einen Überschuss an Waren, da sie mit der billigen Arbeitskraft und sonstigen Produktionsfaktoren, die im Vergleich zu Europa und den USA günstiger sind, Waren produzieren und verkaufen. Auf der einen Seite ein Kapitalüberschuss, und auf der anderen Seite ein Warenüberschuss. Und es ist nicht einfach, zu vereinbaren, wie man die Zusammenarbeit gestaltet, denn Entwicklungsländer sind misstrauisch in Bezug auf die Spielregeln, nach denen Kapital angelegt werden soll. Diese Sanktionen, die Sie erwähnt haben, sind ein deutliches negatives Beispiel für das Verhalten unserer Partner.

Sie haben ja die Ukraine angesprochen. Hier gibt es ein konkretes und deutliches Beispiel für das, was in diesem Bereich geschieht. Sehen Sie her: Unsere Banken, die russischen Banken, haben der ukrainischen Wirtschaft bisher Kredite in Höhe von 25 Milliarden Dollar gewährt. Wenn unsere Partner in Europa und den USA der Ukraine helfen wollen, warum möchten sie dann das Finanzsystem untergraben, indem sie für unsere Finanzinstitute den Zugang zu internationalen Kapitalmärkten beschränken? Was wollen sie erreichen? Den Zusammenbruch unserer Banken? Dann wird auch die Ukraine zusammenbrechen. Überlegen sie sich überhaupt, was sie da tun? Oder macht sie die Politik blind? Die Augen sind ja bekanntlich ein außen liegender Teil des Gehirns. Ist vielleicht dort etwas ausgefallen, in ihrem Gehirn?

Die Bank, die ich erwähnt habe, die Gazprom-Bank, die alleine im laufenden Kalenderjahr der Ukraine in der Energiebranche Kredite in Höhe von 1,4 und 1,8 Milliarden Dollar gewährt hat, insgesamt also 3… 3,2 Milliarden, ja? So viel wurde gewährt. In einem Fall wurde der Kredit an die Nationale Aktiengesellschaft der Ukraine, NAK vergeben, das ist ein staatliches Unternehmen, und im anderen Fall wurden 4,1 Milliarden einem Privatunternehmen gewährt. Zu einem günstigen Gaspreis, um die Chemiebranche zu unterstützen. Somit hat die Bank in beiden Fällen das Recht, heute eine vorzeitige Tilgung zu fordern, da die ukrainischen Partner ihren Verpflichtungen aus dem Kreditvertrag nicht nachkommen. Was die NAK angeht …

Hubert Seipel: Die Frage ist, ob sie bezahlen?

Wladimir Putin: (auf Deutsch) Sie zahlen im Moment. (auf Russisch weiter) [hier wieder in der Übersetzung]: Sie bedient den Kredit, ein Kredit wird von der NAK der Ukraine bedient. Aber es gibt Vertragsbestimmungen, die trotzdem verletzt werden. Und die Bank hat formal das Recht, eine vorzeitige Tilgung zu fordern. Im zweiten Fall - es geht um 1,4 Milliarden - wird gar nichts zurückgezahlt. Die Regierung beschlagnahmte dieses Gas im Untergrundspeicher und gibt es nicht für die eigene Industrie heraus. Dass sie der Chemieindustrie das Wasser abgräbt, ist ihre Sache. Menschen arbeitslos zu machen, ist schlimm genug, aber es ist ihre Sache. Aber da das Gas nicht zu den Endkunden gelangt und nicht bezahlt wird, bekommt unsere Bank ihr Geld nicht zurück und kann auch eine vorzeitige Tilgung fordern. Aber wenn wir das tun, bricht das ganze Finanzsystem der Ukraine zusammen. Und wenn wir es nicht tun, kann unsere Bank zusammenbrechen. Was sollen wir tun?

Außerdem hatte der Kredit in Höhe von 3 Milliarden Dollar, der vor genau einem Jahr gewährt wurde, unter der Bedingung, dass wenn die Gesamtschuld der Ukraine 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes übersteigt, haben wir, also das russische Finanzministerium, das Recht, eine vorzeitige Tilgung zu fordern. Wenn wir das tun, wird wiederum das gesamte Finanzsystem zusammenbrechen. Wir haben schon beschlossen, dass wir es nicht tun werden. Wir wollen die Situation nicht verschärfen, wir wollen, dass sich die Ukraine wieder erholt. Aber im Fall der Bank geht es um ein Finanzinstitut, um eine Aktiengesellschaft, auch mit ausländischen Anteilseignern. Das ist im Prinzip die Antwort auf Ihre Frage: Jegliche Einschränkungen sind kontraproduktiv und schaden im Endeffekt allen internationalen Wirtschafts- oder Finanzakteuren.

Hubert Seipel: Nun stimmen ja nicht alle Länder in der G20-Runde mit Europa und den USA überein. Länder wie Brasilien, Indien, China und Südafrika, mit denen sich Russland zu den sogenannten BRICS-Staaten zusammengeschlossen hat, um die wirtschaftliche Kooperation zu fördern, lehnen die Sanktionen ja massiv ab in dem Zusammenhang. Sie haben zudem im vergangenen Jahr eine eigene Entwicklungsbank gegründet, um dem Westen auf dem internationalen Finanzsektor in Zukunft möglicherweise Paroli bieten zu können. Ist das eine weitere Spaltung dieser Auseinandersetzung dieses Marktes?

Wladimir Putin: Nein, nein, das sollte man nicht so auffassen. Es geht um Folgendes. Tatsächlich haben wir auf dem letzten Gipfeltreffen der aufstrebenden Wirtschaftsstaaten BRICS in Brasilien die Einrichtung mehrerer Finanzinstrumente beschlossen. Genauer gesagt, sind es zwei Instrumente. Es ist die Entwicklungsbank der BRICS-Staaten und ein Pool der Devisenreserven. Der Pool der Reservewährungen wird zweifelsohne auf denselben Grundsätzen wie der IWF beruhen, und insofern kann man diese Institutionen als Pendants begreifen. Aber er wird für vollkommen andere Ziele, nur für die Entwicklung der BRICS-Staaten geschaffen. Vor allem für die Entwicklung der BRICS-Staaten. Und damit sollen keine globalen Institutionen wie der IWF ersetzt werden.

Aus meiner Sicht ist es gefährlich, in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen einen Separatismus zu verfolgen. Das betrifft nicht nur die Währungs- sondern auch die Handelskomponente.

Bekanntlich sind die WTO-Verhandlungen, die sogenannte Doha-Runde, praktisch in einer Sackgasse. Die Länder, die Industriestaaten und Entwicklungsländer, kommen in Bezug auf die Spielregeln zu keinem Kompromiss: in der Landwirtschaft, in einigen anderen Aspekten. Und heute hören wir von unseren Partnern, vor allem von den USA, irgendwelche Andeutungen, dass auf der einen Seite eine Atlantische Allianz, auf der anderen Seite eine pazifische Allianz geschaffen werden soll. Unter Beteiligung der Akteure, die nach Meinung unserer Partner bestimmte Anforderungen erfüllen. Und die WTO scheint an Bedeutung verloren zu haben. Ich glaube aber, dass dieser Weg ziemlich gefährlich ist, da Entwicklungsländer eine immer größere Rolle in der Weltwirtschaft generell spielen und es sehr gefährlich wäre, sie zu vernachlässigen.

Denn nach Kaufkraftparität ist das Bruttoinlandsprodukt aller BRICS-Staaten bereits höher als das der sogenannten G7-Staaten. Während es bei den BRICS-Staaten nach Kaufkraftparität schon über 37 Billionen Dollar sind, so hat die G7, glaube ich, 34,5 Billionen Dollar. Und der Wachstumstrend liegt zugunsten der BRICS-Staaten und nicht umgekehrt. Deswegen sollte man meiner Meinung nach nicht versuchen, starke, aber nichtsdestotrotz lokale Zusammenschlüsse einzurichten, sondern im Rahmen globaler Institutionen zum Konsens zu kommen.

Wir haben darüber gesprochen, was im Handel passiert, ob die aktuellen Ereignisse dort einen Schaden anrichten oder nicht. Wissen Sie, wenn man unsere Banken auch nur teilweise von der internationalen Finanzierung abkoppelt, so erhalten sie weniger Ressourcen. Das bedeutet aber, dass unsere Wirtschaftsakteure bei Ihnen weniger einkaufen können. Denn unsere Zusammenarbeit, beispielsweise zwischen der Bundesrepublik und der Russischen Föderation, sorgt für Hunderttausende von Arbeitsplätzen in Deutschland. Einige Experten schätzen, dass bis zu 300.000 Arbeitsplätze durch unsere Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, durch unsere russischen Großaufträge, durch Gemeinschaftsunternehmen aufrechterhalten werden. Wenn aber die finanziellen Möglichkeiten unserer Finanzinstitute beschnitten werden, können sie den Wirtschaftsakteuren in Russland, die mit deutschen Partnern zusammenarbeiten, weniger Kredite gewähren, [sodass ihre Zahl] sinken wird. Das wird früher oder später nicht nur bei uns, sondern auch bei Ihnen Auswirkungen haben.

Aus: NDR / schriftliche Version vor der Ausstrahlung des Interviews: www.ndr.de [externer Link]


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