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Portugals blumige Revolution

Vor 40 Jahren stürzte das Militär unter dem Beifall der Bevölkerung die Diktatur

Die Wirtschafts- und Sozialprobleme im Krisenland Portugal treiben vier ältere Herren dieser Tage besonders zur Weißglut. Die noch lebenden Führer der Nelkenrevolution vom 25. April 1974, die die damals älteste Diktatur Westeuropas ohne einen einzigen Schuss in die Knie zwangen, würden am liebsten auch die jetzigen Machthaber in Lissabon davonjagen. »Unsere aktuellen Politiker sind wie kleine Jungs, ungebildet und ohne jede Erfahrung«, klagte kurz vor dem 40. Jahrestag der Revolution der General im Ruhestand Amadeu Garcia dos Santos. Der rüstige 78-Jährige ist davon überzeugt, dass die konservative Regierung von Ministerpräsident Pedro Passos Coelho mit ihrer strengen Sparpolitik Portugal »in ein Loch führt«, aus dem das Land nur schwer herauskommen werde. Als Garcia diese Worte ausspricht, nicken seine drei Putschkollegen von damals, Otelo Saraiva de Carvalho, Vítor Crespo und José Sanches Osório, übereinstimmend. Die portugiesische Nachrichtenagentur Lusa organisierte das Treffen anlässlich des Jahrestages.

Auch die von anderen Teilnehmern des Putsches gegründete »Organisation 25. April« will aus Protest gegen die Regierungspolitik an den offiziellen Feiern unter anderem im Nationalparlament nicht teilnehmen. Die Nelkenrevolution war der Anfang einer neuen Welle von Demokratiebestrebungen in Europa. Bald stürzten auch die Diktaturen in Griechenland und Spanien. Die damaligen Hoffnungen der Portugiesen hätten sich aber letztendlich als zu groß erwiesen, meint heute Revolutionsführer Saraiva de Carvalho. Er wolle nicht in die »schmutzige Politik«. »Ich stehe aber zur Verfügung, um eine Massenbewegung anzuführen, die wirklich Veränderungen erreichen kann«, sagte der 77-Jährige in einem Interview kämpferisch.

* Aus: neues deutschland, Freitag 25. April 2014


Kurze Zeit des Aufbruchs

Wenige Jahre nach der portugiesischen Revolution eroberte das Kapital seine Macht zurück

Von Leila Dregger **


40 Jahre nach der Nelkenrevolution leidet Portugal unter der von der Troika auferlegten Sparpolitik. Doch nicht wenige Portugiesen arbeiten auch an Alternativen von unten.

Die Troika hat in Portugal keinen guten Ruf: Europäische Union, Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds. Sie symbolisiert die Diktatur des Geldes und die seit 2011 gnadenlos durchgezogene Sparpolitik. Es bleibt nicht bei Graffiti und Demonstrationen gegen die Troika. Erste Gruppen gingen aufs Land, um Alternativen für ein Leben nach der Troika aufzubauen. So vorsichtig ihre Versuche noch sind, sie tragen Potenzial in sich. Visionäre sehen bereits eine neue Landkarte Portugals entstehen – regionale Wirtschaftskreisläufe, moderne Subsistenzen, selbstbewusste Ökoregionen und Modelldörfer, die der globalisierten Welt eine andere Wirklichkeit entgegensetzen.

»An jeder Ecke ein Freund. In jedem Gesicht Gleichheit. Es ist das Volk, das bestimmt«, sang der Sänger des Widerstands Zeca Afonso im verbotenen Grandola-Lied. Seine Zeilen sprachen vor allem den Landarbeitern im Alentejo aus dem Herzen. Bei bitterster Armut mussten sie sich als rechtlose Tagelöhner verdingen. Zehntausende kamen ins Foltergefängnis der PIDE-Geheimpolizei, weil sie ihre Meinung geäußert oder Lebensmittel gestohlen hatten. Während im Rest der Welt Studenten und Hippies das Straßenbild prägten, durfte man in Portugal nicht einmal mit zwei anderen ins Gespräch kommen. Bildung gab es nur für Reiche: Ein Drittel der Portugiesen waren Analphabeten.

»Die Großgrundbesitzer holten eher Tierärzte für eine kranke Kuh als einen Arzt für eine gebärende Landarbeiterin. Wir hatten die höchste Kindersterblichkeit Europas«, erinnert sich Cláudio Percheiro, ehemaliger kommunistischer Parlamentsabgeordneter und Bürgermeister.

Der Estado Novo (»neuer Staat«) – eine Konstruktion des menschenscheuen Volkswirtschaftsprofessors António de Oliveira Salazar – propagierte nationale Autarkie, absolute Zensur und erbitterte Verteidigung des Kolonialreiches. Die Söhne des Landes kämpften in Kolonialkriegen in Mosambik, Angola und Guinea-Bissau, vier Jahre dauerte zuletzt der Kriegsdienst. In den fast fünf Jahrzehnten wurden zahlreiche Widerstandsversuche vereitelt. Dann rebellierte das Militär.

Die »Operation Ende des Regimes« besetzte am frühen Morgen Ministerien, Radiosender und den Flughafen. Anrückende Kompanien solidarisierten sich. Menschenmassen jubelten am Straßenrand, reichten den Soldaten Äpfel, Brot und rote Nelken: So erhielt der Putsch seine Legitimation vom Volk und die Revolution ihren Namen. Am späten Nachmittag gab Salazar-Nachfolger Marcelo Caetano auf. Nur vor der PIDE-Zentrale wurde auf Demonstranten geschossen, vier Menschen starben. Am nächsten Morgen war die Diktatur vorbei.

Sechs Tage später feierte eine halbe Millionen Menschen auf den Straßen von Lissabon zum ersten Mal den 1. Mai. Lastwagen voller Arbeiter fuhren aus den Vororten in die Stadt. Aus Bussen und Bahnen quollen rote Fahnen. Die Gefängnisse waren da bereits geöffnet, die politischen Gefangenen befreit. Dissidenten, Wehrdienstflüchtlinge, sozialistische Führer kehrten in die Heimat zurück. Die Führer von Sozialisten und Kommunisten zogen demonstrativ gemeinsam ins Stadion, begeistert begrüßt von den Menschenmassen: »O povo unido jamais será vencido!« – »Das vereinigte Volk wird niemals besiegt werden!«

Ein ganzes Land schien sich zu radikalisieren. Firmen und Banken wurden verstaatlicht. Studenten und Professoren, bis vor kurzem noch von ihren Direktoren bespitzelt und verfolgt, setzten sie kurzerhand ab und organisierten den Unterricht selbst. Gedanken, Ideen, Gruppierungen, ein halbes Jahrhundert zensiert, explodierten wie ein geistiges Feuerwerk. Linke Splittergruppen hinterließen ihre Ansichten und Parolen auf allen Wänden. Im ganzen Land übernahmen Bürgerkomitees in Selbstorganisation Feuerwehr, Straßenreparaturen und andere vernachlässigte Aufgaben. Arbeiter vertrieben repressive Fabrikbesitzer. Die Agrarreform nach sowjetischem Vorbild verstaatlichte den Landbesitz. Großgrundbesitzer wurden enteignet, Tagelöhner zu Kleinbauern. Landarbeiter gründeten vor allem im Süden Hunderte von Kooperativen, bewirtschafteten die Felder und vermarkteten die Erträge gemeinsam.

Percheiro: »Nie zuvor und nie seitdem war die landwirtschaftliche Produktivität Portugals so hoch.« Freiwillige aus vielen Ländern kamen, um zu helfen. Portugal wurde für kurze Zeit zum Mekka für die Jugend Europas, die vom Sozialismus träumte.

Doch sie hatten die Rechnung ohne die Welt gemacht. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges hatte der Westen nicht vor, ein sozialistisches Land in Westeuropa zu dulden. Ein neues Kuba, Vietnam oder Chile musste unbedingt verhindert werden. So trieb der Ost-West-Konflikt seinen Keil in die gepriesene Einheit des portugiesischen Volkes: Die Sozialisten wurden zunehmend von den Sozialdemokraten Europas, besonders der deutschen SPD, beeinflusst und setzten auf »Reformen statt Revolution«. Die Sowjetunion war Leitbild der Kommunistischen Partei Portugals mit ihren Anhängern im Süden. Im Norden dagegen rollte eine gut geölte antikommunistische Propagandamaschine, finanziert und organisiert, wie viele heute vermuten, aus den USA.

Der andere Grund für das Scheitern der Revolution kam von innen: Es gab keine Vorstellung und keine Erfahrung von einem gelebten Sozialismus. Wie sollte man Kooperativen aufbauen und gemeinsames Eigentum verwalten, wenn man nicht wusste, wie man Vertrauen untereinander erzeugen konnte? Wie traf man basisdemokratische Entscheidungen, ohne sich in tausend Diskussionen zu verstricken? Ungebildete Landarbeiter standen plötzlich vor Aufgaben, auf die sie in keiner Weise vorbereitet waren.

Die sozialistische Regierung, die immer mehr nach rechts driftete, entzog der Landreform die Unterstützung. Nach wie vor funktionierten die Wirtschaftsgeflechte nach den Gesetzen des Kapitalismus. Dieser Zerreißprobe waren Enthusiasmus und guter Wille auf Dauer nicht gewachsen.

Nach einem letzten Aufbegehren im »heißen Sommer von 1976« kippte die Gesellschaft wieder in die Bürgerlichkeit. Das Verfassungsziel Sozialismus blieb eine leere Formel. Das Kapital eroberte Schritt für Schritt seine Macht zurück. Die Landreform wurde zurückgenommen. Bei der Rückgabe von Ländereien kam es zu Polizeieinsätzen und Prügeleien. Kleinbauern wehrten sich, sie verloren ihr Land, die Tiere, die Maschinen und die Früchte ihrer Arbeit. Die ehemaligen Großgrundbesitzer dagegen wurden entschädigt für die Jahre der »Besatzung«. Den verbleibenden Kooperativen – Versammlungsstätten und kulturelle Wohnzimmer der Dörfer, in denen sich die Bewohner gegenseitig versorgen und ihre Produkte lokal anbieten konnten – wurden die Steuervergünstigungen und damit die Arbeitsgrundlage genommen. Das Herzstück der Revolution war verloren.

Der Westen hatte gesiegt. Dem portugiesischen Volk wurde der Beitritt zur EU 1986 als Weg zu Sicherheit und Wohlstand verkauft. Portugal wurde zum Musterschüler Brüssels und erfüllte eifrig alle Auflagen. »In den 90ern rannten uns die Banken geradezu nach mit ihren großzügigen Krediten», erinnert sich Geschichtsprofessor Antonio Quaresma. Das Land war bald voller nagelneuer Autos, moderner Einfamilienhäuser und ungenutzter Autobahnen, hatte aber kaum noch Produktionszweige, die etwas erwirtschaften konnten. Quaresma: »Wir ahnten, dass wir irgendwann die Rechnung dafür erhalten würden, nur noch nicht, in welcher Form. Jetzt wissen wir es.«

Infolge der Weltwirtschaftskrise schnappte die Schuldenfalle zu. Unzählige konnten ihre Kredite nicht zurückzahlen. Ganze Viertel auf Pump gebauter Häuser stehen leer. Familien zerbrachen daran, versuchen aber, wenigstens den Schein aufrecht zu erhalten.

»Sie schämen sich«, weiß Teresa Chaves, Leiterin der Caritas von Beja, der die Krise immer mehr Sozialfälle ins Haus treibt. »Schüler geben ihr letztes Geld für Handys und Markenklamotten aus, um ihr Ansehen nicht zu verlieren, haben aber keinen Euro für die Schulspeisung.« Ihrer Meinung nach sitzt das Land auf einer sozialen Zeitbombe.

** Aus: neues deutschland, Freitag 25. April 2014

Grândola Vila Morena: Die Hymne der Revolution

Von Reinhold Andert

Mitternacht des 24. April 1974. Der katholische Rundfunk Portugals sendete zweimal hintereinander ein und dasselbe Lied: »Grândola Vila Morena«. Es war das verabredete Zeichen. Die Kasernentore öffneten sich. Soldaten rückten aus und besetzten die Schaltstellen der Macht. Auf den Straßen Lissabons wurden sie jubelnd begrüßt. Nelken schmückten Uniformen und Gewehre. Die »Nelkenrevolution« beendete in Portugal die faschistische Diktatur.

Seitdem ging dieses Lied »Grândola Vila Morena« um die Welt und sein Schöpfer José »Zeca« Afonso wurde berühmt. Noch heute hört man es bei Streiks, auf Demonstrationen und Massenkundgebungen rund um den Erdball. Aber alle, die dieses Lied singen oder auch nur mitsummen, denken dabei weniger an die Worte. Sie scheinen auf den ersten Blick eher banal zu sein, haben aber eine poetische Naivität, Voraussetzung für eine breite Wirkung. In diesem Lied heißt es: »Grândola, du sonnige Stadt,/ hier trifft man an jeder Ecke einen Freund, in jedem Gesicht Gleichheit./ Im Schatten einer Eiche, die ihr Alter nicht kennt, leisten wir den Schwur von Grândola.«

Diesem Text ist ein schwerfälliger Marschrhythmus unterlegt. Darüber erhebt sich eine Melodie, die, wie ich las, uralten Wechselgesängen portugiesischer Landarbeiter entlehnt ist. José Afonso hatte dieses Lied bereits zehn Jahre zuvor geschrieben. Es war außerhalb Portugals unbekannt. Erst als Fanal eines Umsturzes ging es um die Welt, und zwar als Sinnbild für »Raus aus den Kasernen und die Schaltstellen der Macht besetzen«, für den Kampf gegen jede Art von Faschismus, für den Kampf um eine bessere Welt.

Bisher wurde bekanntlich aus solch einer besseren Welt noch nichts. Weder 1974 in Portugal noch später in irgendeinem anderen Land der Welt. Damals glaubten wir allerdings, wenn ich mich recht erinnere, Portugal auf dem Weg zum Sozialismus. Dabei hätten wir es besser wissen können: Der Faschismus in Portugal und Spanien war den internationalen Eliten lästig geworden. Er störte beim Erreichen des Maximalprofits und deshalb wurde eine »Revolution« erlaubt. Genauso erlaubt und organisiert wie ein halbes Jahr zuvor die Konterrevolution, der faschistische Putsch in Chile.

Ein Jahrhundert brachte bisher nur vier bis fünf Lieder hervor, die die Zeiten überdauerten. Sie wurden zu Volksliedern und blieben im Gedächtnis der Menschheit. Im letzten Jahrhundert entstanden wahrscheinlich ein paar mehr, so etwa: »We shall overcome«, »Guantanamera«, »Spaniens Himmel«, »Die Moorsoldaten« oder »Sag mir, wo die Blumen sind«.

»Grândola Vila Morena« wird ganz sicher dazugehören. Nicht nur wegen seiner eindringlichen Melodie oder seines schlichten poetischen Textes. Es wird bleiben als Symbol für die uralte Sehnsucht und den Kampf der Menschen für eine friedliche Welt und ein Leben in Gerechtigkeit und Würde.

Der Autor, Liedermacher und Philosoph, war von 1966 bis 1973 Mitglied des legendären Oktoberklubs.

Aus: neues deutschland, Freitag 25. April 2014


Der vollständige Liedtext ist als Zitat Nr. 142 auf der Zitaten-Seite dieser Website zu finden.




Auf seiten des Umsturzes

Als Korrespondent des Neuen Deutschland während der Nelkenrevolution in Portugal

Von Klaus Steiniger ***


Anfang Mai 1974 feierten wir in geselliger Freundesrunde den 60. Geburtstag von Maj. Die schwedische Frau des Schriftstellers Willi Bredel war – von der legendären sowjetischen Botschafterin Alexandra Kollontai zunächst für den Aufklärungsdienst der Kommunistischen Internationale gewonnen – während schwerer Kriegsjahre eine Sprecherin im internationalen Programm von Radio Moskau gewesen. Li Weinert und Lilli Becher saßen uns gegenüber, auch DDR-Vizepremier Alexander Abusch. Plötzlich wurde ich ans Telefon gerufen. Das Neue Deutschland, zu dessen außenpolitischer Redaktion ich von 1967 bis Ende 1991 gehörte, ließ mich wissen, daß ich schon am nächsten Morgen nach Paris fliegen sollte, um dort ein Visum für Portugal zu erwirken. »Aktuelle Berichterstattung als Sonderkorrespondent« lautete die Order. Dauer: »Etwa 14 Tage.« Portugal – nur wenige Tage zuvor hatte dort eine wegen ihres roten Symbols als Nelkenrevolution in die Geschichte eingegangene Erhebung von Teilen der Armee und des Volkes der seit 1926 wütenden faschistischen Diktatur ein Ende bereitet.

Aus den geplanten 14 Tagen wurden fünf spannende und erregende Jahre als Wegbegleiter, Chronist und Mitstreiter der einzigen im Westen Europas so weit vorstoßenden bürgerlich-demokratischen Revolution mit sozialistischer Zielrichtung. Damals vermochte ich das ebensowenig zu ahnen wie eine andere, ganz praktische Tatsache: die Entscheidung der noch mit Faschisten besetzten Botschaft Lissabons an der Seine, mir die erbetene Einreisegenehmigung wegen »Fehlens neuer Instruktionen« zu verweigern. Man hatte nicht die Absicht, den Paß eines roten Reporters zu stempeln. Im vom brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer entworfenen Gebäude des Zentralkomitees der französischen kommunistischen Partei sagte mir Pires Jorge vom Auslandsbüro der portugiesischen KP (PCP), meinem Flug nach Lissabon stünde trotz fehlenden Visums nichts im Weg. Er werde die Genossen am Tejo-Fluß informieren, daß es notwendig sei, mir die Einreise in jedem Fall zu ermöglichen.

Auf dem Flugplatz Portela ließ mich ein Major aus der antifaschistischen Bewegung der Streitkräfte auf Bitten der PCP durch eine Seitentür passieren. Nur zwei Stunden nach der Ankunft in Lissabon überfiel ich bereits die PCP-Genossen, die gerade mit dem Einräumen des Mobiliars in ihr erstes Büro des Zentralkomitees (ZK) beschäftigt waren. Das vormalige Sturmlokal der SA-ähnlichen Portugiesischen Legion befand sich in der Avenida António Serpa in unmittelbarer Nähe der Stierkampfarena Campo Pequeno. Der Zufall wollte es, daß unsere ND-Vertretung später ausgerechnet am Ende dieser Straßenflucht ihren Sitz hatte.

Aufstandssignal: Das Grândola-Lied

Im ZK arbeiteten die aus tiefer Illegalität heraustretenden, kurz zuvor nach oftmals langjähriger Haft entlassenen oder aus der Emigration zurückgekehrten Genossen der PCP. Unter ihnen der stellvertretende Generalsekretär Octávio Patobe, der mich nun für die erste Zeit betreute. Ein Jahr darauf wurde er von seinen Genossen zum Präsidentschaftskandidaten nominiert. Damals schätzte man die einzige antifaschistische Partei Portugals, die 48 Jahre der Gewaltherrschaft António de Oliveira Salazars und Marcelo Caetanos getrotzt hatte, auf höchstens 3000 Genossen unter etwas mehr als zehn Millionen Portugiesen. Wer konnte ahnen, daß die kommunistische Partei nur zwei Jahre später, als die Revolution ihren Scheitelpunkt bereits überschritten hatte und sich immer stärker gegenläufigen Tendenzen ausgesetzt sah, einmal 200000 eingetragene Mitglieder ausweisen würde. Diese waren ganz überwiegend klassische Fabrikarbeiter aus den Industriegürteln um Lissabon, Setúbal und Porto, Agrarproletarier aus dem südlichen Alentejo und Teilen des mittelportugiesischen Ribatejo, aber auch Studenten und Intellektuelle aus der geistigen Hochburg Coimbra.

Die Spaltung Portugals in ein hochgradig mobilisierbares rotes und zwei weiterhin weiße Landesdrittel mit einer überwiegend klerikal-faschistisch abgerichteten, noch mehrheitlich analphabetischen Bevölkerung sowie die Grenze zum faschistischen Franco-Spanien trugen ebenso wie die massive Intervention von NATO und Sozialistischer Internationale zur späteren Niederlage der Revolution bei.

Zunächst aber ging es vorwärts. José Afonsos bewegendes Lied »Grândola, Vila Morena«, das als vereinbartes Aufstandssignal für die antifaschistischen Teile der Armee in der Nacht des 25. April von einem Sender übertragen worden war, gab nun den Takt ebenso vor wie das allenthalben gespielte und gesungene »Avante, Camarada!« der Kommunisten. Binnen weniger Wochen wurde die von ihnen in Untergrund und Halblegalität formierte Gewerkschaftszentrale Intersindical zur weitaus größten Massenorganisation Portugals. So war der in den ersten fünf Monaten als provisorischer Staatspräsident amtierende frühere faschistische Vizegeneralstabschef General António de Spínola – ein monokeltragender Militarist und Gewährsmann des großen Geldes – gezwungen, die PCP und andere Linkskräfte in die erste provisorische Regierung und ihr folgende Übergangskabinette einzubeziehen. Ich genoß es dabeizusein, als Spínola nur zwei Tage nach meiner Ankunft neben tatsächlichen Widerständlern und Halbgewalkten im Schlößchen Queluz bei Lissabon den Minister ohne Geschäftsbereich Álvaro Cunhal und einen von der PCP gestellten Arbeitsminister vereidigen mußte.

Es folgte eine unter strengster Absicherung und nur im Beisein weniger Journalisten abgehaltene Pressekonferenz mit Cunhal. Kurz darauf führte ich ein erstes, noch über den Dolmetscher vermitteltes Gespräch in einem – der latenten Attentatsgefahr wegen geheimgehaltenen – Nachtquartier des tagsüber als Minister tätigen Politikers. Bereits damals war sein außergewöhnliches Format zu erahnen. Kurz darauf ging es – oft in Begleitung Cunhals und seiner Sicherheitskohorte – ins Land.

Am wohl bewegendsten empfand ich die Umbettung der sterblichen Reste Catarina Eufémias auf den Friedhof ihres Heimatdorfes Baleizão. Das war am 17. Mai 1974 – zwei Jahrzehnte nach dem politischen Mord. Die damals 29jährige Streikführerin und erneut schwangere Mutter dreier Kinder, die den jüngsten im Augenblick des Todes auf dem Arm trug, wurde vom faschistischen Gendarmerieleutnant João Tomás Carrajola erschossen. Bis heute verehren nicht nur ihre einstigen Dorfgenossen aus der roten Hochburg, sondern auch Hunderttausende portugiesische Arbeiter – allen voran die Frauen des Alentejo – Catarina wie eine proletarische Madonna. Als auch die gesamte Armeegarnison aus der nahen Bezirkshauptstadt Beja – der vermutlich nicht ganz freiwillig erschienene Regimentskommandeur vorneweg – unter roten Fahnen mit Hammer und Sichel über den Kabinendächern der Militärlaster zu Ehren Catarinas in Baleizão anrückte, war das eine Sternstunde der portugiesischen Revolution.

Äußere Grenzen der Revolution

Die Revolutionäre stießen im Verlauf der Jahre 1974/75 kühn und entschlossen vor. Obwohl im NATO-Mitbegründerstaat Portugal weder das nationale noch das kontinentale Kräfteverhältnis für sie günstig war, vermochten sie die Tatsache zu nutzen, daß die Reaktion durch den völlig unerwarteten Sturz des Caetano-Regimes anfangs wie gelähmt erschien. Letzteres galt auch für die Totschläger der faschistischen Geheimpolizei PIDE, deren zeitweiliges Los ich in Begleitung junger Militärs in den beiden großen Zuchthäusern Peniche und Caxias in Augenschein nehmen konnte. Später spielten sie sich in den vormals von Kommunisten und anderen Widerstandshelden belegten Zellen als Rächer der gerade erst Besiegten auf. Doch vorerst duckten sich die in Einzelzellen untergebrachten hohen Chargen wie PIDE-Chef Silva Pais beim Öffnen des »Spions« weg oder verdeckten ihre Gesichter – während die im Gemeinschaftsraum Rotwein trinkenden Durchschnittsagenten schon auf ihre künftige Rückkehr in die »Zivilgesellschaft« anstießen.

Einst waren Álvaro Cunhal und zehn andere mit Hilfe eines Wachpostens aus Peniche ausgebrochen. Sie mußten dabei eine zwölf Meter hohe Festungsmauer überwinden. Die Fischer verbargen dann die Führer der PCP vor den Häschern. Sie versteckten auch den nach langer Haft und seinem Ausbruch aus einer Sonderzelle vom Felskap in den Atlantik gesprungenen Avante!-Direktor António Dias Lourenço. Schon beim ersten Besuch in den provisorischen Räumen des PCP-Organs, das seit 1934 ohne eine einzige Unterbrechung in illegalen Druckereien hergestellt worden war, hatte mir António, der 17 Jahre Gefangener der Faschisten war, ein Foto von dem Hochsicherheitsgefängnis an der Steilküste geschenkt, auf dem er seinen Fluchtweg exakt verzeichnete.

Die portugiesische Revolution war – nach der Pariser Commune, dem Spanischen Bürgerkrieg und dem durch die Briten und die hellenische Reaktion blutig beendeten Heldenepos der griechischen Befreiungsarmee ELAS – erst der vierte Versuch, dem Kapital im Westen und Süden Europas eine Niederlage zu bereiten. Sie stieß indes weiter als alle anderen Bemühungen vor.

Der drei Provisorische Regierungen anführende General Vasco Gonçalves, mein langjähriger persönlicher Freund, lud mich und zwei meiner Kinder im Mai 1988 zu einem vierwöchigen Aufenthalt in sein Haus an der Stierkampfarena von Cascais ein. Ein Blick in seine Bibliothek mit der 30bändigen französischen Ausgabe der Werke Lenins von 1948 mit zahlreichen, ein gründliches Studium verratenden Anmerkungen von der Hand des Besitzers gestatteten mir ein Urteil über die ideologische Verfaßtheit dieses antifaschistischen Militärs. Obwohl die Revolution unter seiner Führung sämtliche 245 inländischen Konzerne, Banken und Versicherungen verstaatlichte und eine Arbeiterkontrolle einführte, während das Agrarproletariat des Südens auf 1,2 Millionen Hektar Gutsherrenland 550 ausbeutungsfreie Kollektive Produktionseinheiten (UCP) schuf, vermochte sie nicht zu siegen. Die Überleitung der weit vorangetriebenen bürgerlich-demokratischen Umwälzung in die sozialistische Revolution blieb aus. Durch eine alle Dimensionen sprengende Einmischung vor allem auch der BRD – die USA schickten sogar ihren späteren CIA-Vizedirektor Frank Carlucci als Botschafter nach Lissabon – wurde der Revolution der Weg verlegt.

Innere Widerstände

Neben äußeren Faktoren ergaben sich die Niederlage der Nelkenrevolution und der Sieg der Konterrevolution in erster Linie daraus, daß die Kernfrage jeder sozialen Umwälzung – die Frage der politischen Macht – nicht zugunsten der Ausgebeuteten und Aufbegehrenden entschieden werden konnte. Die Revolution besaß Verbündete in Zentren der Macht, hatte jedoch keinen bestimmenden Einfluß auf so entscheidende Sektoren des Staatsapparats wie die konservativen Bereiche der Armee, auf die Polizei und die Gendarmerie.

Beim Putsch am 11. März 1975, als Spínola seine Fallschirmjäger gegen das der Revolution ergebene Lissabonner Artillerieregiment (RAL-1) in Sacavém vorgehen ließ, war ich Ohrenzeuge des scharfen Disputs zweier Kommandeure im Niemandsland. Für die Revolution verhandelte Hauptmann Dinis de Almeida vom RAL-1, für die Putschisten ein Offizier der Paras. Schließlich gelang es dem vermittelnden Avante!-Direktor Dias Lourenço, dafür zu sorgen, daß an diesem Tag kein Blut floß und die Fallschirmjäger aufgaben. Wiederholt war ich bei den revolutionären Arbeitern des später verstaatlichten Chemiegiganten CUF in der kommunistischen Hochburg Barreiro, die ihre Arbeitsplätze mit Kampflosungen und Transparenten buchstäblich bepflastert hatten – darunter auch einer Fahne der DDR.

Niemals vergesse ich die kaum zu zählenden Fahrten, die ich im weithin bekannten roten Renault des ND unternahm, um die Landarbeiter so erfolgreicher Kooperativen wie »1. Mai« in Avis, »Rote Nelke« in Montemor-o-Novo und »Die Linke wird siegen!« in Pias in ihrem Kampf zu bestärken. Für immer bleiben mir die grandiosen Kundgebungen alentejanischer Landarbeiter und ihrer den klassenbewußtesten Teil des portugiesischen Proletariats vertretenden Gewerkschaft in Erinnerung. Besonders bewegte mich eine Szene im Sommer 1975: Bei einem Meeting Zehntausender in Évora würdigte Álvaro Cunhal den persönlichen Einsatz des von der Reaktion zu Fall gebrachten und später sogar ins Gefängnis geworfenen Alentejo-Beauftragten der »Bewegung der Streitkräfte« (Movimento das Forças Armadas, MFA), Hauptmann Andrade da Silva, als plötzlich ein Mann in Zivil von der Menge in die Höhe geworfen und mit stürmischen Ovationen bedacht wurde. Es war da Silva.

Auch der Konterrevolution bin ich immer wieder hautnah begegnet. Als Vorstandsmitglied der Auslandspressevereinigung war ich 1978 in kleiner Runde zu Gast in São Bento, wo Mário Soares als Chef einer schlecht getarnten rosa Regierung residierte. Der Rechtssozialist blinkte damals links und wählte für seine Sozialistische Partei (Partido Socialista, PS) sogar die geballte Faust als Symbol. Übrigens steckte mich Soares unverdrossen in die falsche Kiste. Seinem Pressereferenten trug er auf, dem ND-Korrespondenten zu Neujahr ausdrücklich ein kräftiges »Weiter so, Klaus!« zu übermitteln.

Als im »heißen Sommer« 1975 in Portugals Norden vielerorts Parteihäuser der PCP brannten und mancherorts das Blut von Kommunisten vergossen wurde, besuchte ich die Attackierten des öfteren an Ort und Stelle. Unvergeßlich ist mir eine stürmische Nacht in dem vom weißen Mob umzingelten Portoer PCP-Hauptquartier, wo das im antifaschistischen Widerstand erfahrene ZK-Mitglied José Carlos die Verteidigung leitete. Auch an das eingekreiste PCP-Zentrum von Barcelos erinnere ich mich noch sehr genau. Dort begegnete ich einem der Barden der Nelkenrevolution – dem Lissabonner Philosophen und späteren Universitätsrektor José Barata Moura – zum ersten Mal.

Unter Konterrevolutionären

Anderswo gab es illustre »Kontakte« mit dem Feind. So saß ich im alentejanischen Gutsbesitzercafé mitten unter den enteigneten Latifundistas und ließ mir von diesen ihr Leid über die Bodenreform klagen. Ein ganzes Rudel blutrünstiger Faschisten »besuchte« ich mit einem Kameramann des DDR-Fernsehens, dessen Korrespondenten ich vorübergehend vertrat, in Santa Comba Dão. Es hatte sich aus Wut über die Sprengung eines Salazar-Denkmals zusammengerottet. Hier stellte ich mich – die Adlershofer Frequenz benutzend – korrekt als »Mann vom fünften Kanal« vor, was großen Anklang fand, da man dabei an Frankreichs TV dachte. Auf der Azoreninsel São Miguel saß ich zwei Stunden mit dem Führer der separatistisch-faschistischen Bombenlegerriege FLA in deren Hauptquartier zusammen. Und auf Madeira interviewte ich genüßlich den rechtsextremen Regierungschef Alberto João Jardim, der erst Tage zuvor auf einer »Konferenz über die russische Gefahr« feierlich versichert hatte, niemals einen »Korrespondenten aus dem Sowjetblock« zu empfangen.

Ab Spätsommer 1975 lauerten überall Gefahren. Immerzu explodierten Autobomben und wurden terroristische Attentate verübt. In Lissabon jagte man Kubas Botschaft in die Luft. Auch auf den Sitz der Freundschaftsgesellschaft Portugal–DDR gab es einen Anschlag, der nur deshalb keine Opfer forderte, weil der deponierte Sprengsatz während der Mittagspause hochging.

Unvergeßlich bleibt mir der Abend des 25. November 1975. Unter dem Vorwand, eine ultralinke Provokation abwehren zu wollen, unternahm die Konterrevolution einen weißen Putsch. Er richtete sich vor allem gegen die PCP, die besonnen den Rückzug der revolutionären Kräfte organisierte. Für 22 Uhr war eine Ausgangssperre verhängt worden. Gegen 21 Uhr begab ich mich zur Avante!-Redaktion. Die Genossen dort waren auf alle Eventualitäten vorbereitet. In einem der Räume erläuterte gerade Ruben de Carvalho, ein namhafter Journalist mit Armeerfahrung, wie man sich im Falle eines Angriffs auf die Zeitung verhalten solle, wobei auch Waffenkunde vermittelt wurde.

Es sei noch eines hinzugefügt: Um ein Haar hätte ich das hier Dargestellte gar nicht zu Papier bringen können. Im Herbst 1974 – ich war bereits einige Monate als Sonderkorrespondent in Lissabon tätig gewesen – lud die PCP eine SED-Delegation zu einem Freundschaftsbesuch ein. Ihr gehörten Hermann Axen und Joachim Herrmann, der frühere und der damals aktuelle ND-Chefredakteur, an. Am letzten Abend ihres Aufenthalts sollte in Amadora ein Solidaritätsmeeting beider Parteien stattfinden. Offizieller Beginn war 21.30 Uhr, was real 22.30 Uhr bedeutete. Da schon am nächsten Tag auf der Titelseite des ND über das Ereignis groß berichtet werden sollte, der Redaktionsschluß aber um 22 Uhr erfolgte, mußte ich das Geschehen »vorempfinden«. Axens Text hatte ich, von Cunhal keine Zeile. So stützte ich mich auf ein von ihm gerade erst gehaltenes Grundsatzreferat zur portugiesischen Revolution. Den Auszügen fügte ich Worte der Verbundenheit zwischen PCP und SED hinzu. Doch ich hatte Pech. Cunhal war im letzten Moment durch eine Kabinettssitzung verhindert. Ein anderer Genosse sprach statt seiner. Am Ende geschah allerdings ein Wunder. Um 23.30 Uhr erschien der PCP-Generalsekretär doch noch, eilte sofort ans Mikrofon und hielt »meine« Rede.

Am nächsten Morgen brachte die Maschine der Regierungsstaffel, welche die Delegation abholen sollte, aus Berlin druckfrische ND-Exemplare mit. Joachim Herrmann überschlug sich geradezu vor Begeisterung, daß ich alles »doch noch ins Blatt gebracht« hätte. Aber schon bald folgte die Ernüchterung. »Wie hast Du denn das nach Redaktionsschluß gemacht?« wurde ich barsch gefragt. »Ich schrieb auf, was Genosse Cunhal unbedingt sagen mußte«, erwiderte ich. Die Schilderung dessen, was folgte, verschweige ich der Höflichkeit halber. Jedenfalls rechnete ich mit meinem Rausschmiß aus der Redaktion. Später legte sich Herrmanns Wut. So wurde ich doch noch ständiger ND-Korrespondent in Portugal.

*** Aus: junge Welt, Freitag 25. April 2014


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