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Kriminelle Kumpanei

Hintergrund. Die Mörder und Strippenzieher vom Massaker des 23. November 2009 sind bis heute nicht bestraft worden. Die Verflechtung des Ampatuan-Clans mit philippinischen Regierungskreisen ermöglicht die Deckelung

Von Rainer Werning *

Wer zu Beginn der 70er Jahre die Philippinen bereiste, staunte nicht schlecht, vor Restaurants und einschlägigen Etablissements landesweit Schilder mit der Aufschrift vorzufinden: Frauen ohne Begleitung und Schußwaffen unerwünscht! Es war die hohe Zeit von Privatarmeen, die sich begüterte Geschäftsleute und karrierebewußte Politiker zugelegt hatten, um sich und ihre Verwandtschaft vor Unbill zu schützen – und notfalls mißliebige Rivalen auf eigene Faust aus dem Weg zu räumen. Es gehörte zum guten Ton der High Society und bezeugte den Grad ihrer Wohlhabenheit, sich einen solchen Luxus der besonderen Art leisten zu können und ihn auch öffentlich zur Schau zu stellen. Mit dem Argument, eben diesen Privatarmeen sowie der »kommunistischen Subversion« und dem »Moro-Sezessionismus« im Süden des Inselstaates ein für allemal einen Riegel vorzuschieben, verhängte der damalige Präsident Ferdinand E. Marcos am 21. September 1972 landesweit das Kriegsrecht. Um dieses zu deodorisieren, sprach der verschlagene Marcos, von Haus aus Jurist, fortan lediglich von »konstitutionellem Autoritarismus«.

Das Land befand sich in Aufruhr: Massive Streik- und Demonstrationswellen richteten sich gegen ein Regime, das tief in den Vietnamkrieg verstrickt war und US-Truppen mit der Subic Naval Base und dem Clark Air Field die größten außerhalb des nordamerikanischen Kontinents gelegenen Militärbasen als logistische Brückenköpfe des Aggressionskrieges in Südostasien garantierte. Anfang der 70er Jahre war auch die Zeit, da die Neue Volksarmee (NPA) als Guerilla der Kommunistischen Partei (CPP) von sich reden machte und die seit langem schwelenden (Land-)Konflikte auf der südlichen Insel Mindanao militärisch eskalierten. Mit Hilfe des Kriegsrechts militarisierte das Marcos-Regime die Politik des Landes, das Militär übernahm zunehmend politische Funktionen – ein Vermächtnis, das auch über ein Vierteljahrhundert nach dessen Sturz im Februar 1986 seinen Schatten wirft. Vor allem und gerade auf Mindanao.

Es war auch in Mindanao, wo ich 1970 das erste Mal den Spruch hörte: »In Zeiten von Wahlen geben die Toten einmal und die Lebenden mehr als zweimal ihre Stimme ab. Und sogar die Schmetterlinge auf Mindanao wählen.« Wahlbetrug, blutige Wahlkämpfe, Stimmenkauf in großem Stil sind auffällige Konstanten in der Landespolitik. Was dafür verantwortlich war und auf beklemmende Weise bis heute fortwirkt, ist die ungebrochene Macht der »3G« – Gauner, Gewehre, Geld. Wer nicht über diese Dreifaltigkeit in dem vorwiegend katholischen Land verfügt, sollte sich ernsthaft überlegen, ob er überhaupt den Sprung in die große Politik wagen will. Wer indes üppig – auf welche Weise auch immer – mit den »3G« gesegnet und ausgestattet ist, hält indes etliche Trumpfkarten in der Hand. Diese befähigen ihn, schon im Diesseits paradiesisch zu leben, Macht, Pfründe, sorgsam geknüpfte Seilschaften und notfalls auch Gesetze nach Gusto auszuschöpfen und den Reichtum der eigenen Großfamilie fortwährend zu mehren. Dies ist der Kern dessen, was in den Philippinen »malakas« genannt wird – die Politik der Stärke. Nur die Starken genießen öffentliches Ansehen, werden hofiert und dienen, so sie denn halbwegs gesittete Umgangsformen und Manieren kultiviert haben, als nachahmenswerte Vorbilder, zu denen man aufschaut.

Geplantes Massaker

Die schmutzigste Schaumkrone von »malakas«-Politik entfaltete sich am 23. November 2009. Dieser Tag wird in die Annalen der Philippinen als Schwarzer Montag eingehen. An diesem Tag wurden 57 Menschen Opfer eines Massakers – die sterblichen Überreste eines 58. Todesopfers konnten nicht gefunden werden –, das in dieser Bestialität und kaltschnäuzig exekutierten Art ein Novum darstellte, die Nation zutiefst erschütterte und ebenso kritische wie besorgte Personen aus Medien, Universitäten, Kirchen und NGO in den Chor einstimmen ließ, von einem »failed state«, einem gescheiterten Staat zu sprechen.

An jenem Montag hatte sich in der südphilippinischen Provinz Maguindanao auf der Insel Mindanao ein Konvoi von Anhängern des Politikers und Vizebürgermeisters von Buluan, Esmael Mangudadatu, auf den Weg in die Provinzhauptstadt Shariff Aguak gemacht, um dort in einem Büro der staatlichen Wahlkommission fristgerecht die erforderlichen Unterlagen für seine Kandidatur als Gouverneur bei den Wahlen im Mai 2010 einzureichen. Gerade weil ¬Mangudadatu wußte, daß Shariff Aguak samt Umgebung seit knapp einem Jahrzehnt vom rivalisierenden Clan der Ampatuans als exklusive politische, militärische und wirtschaftliche Domäne reklamiert wurde, hatte er entschieden, dort nicht persönlich aufzukreuzen. Statt dessen wollten seine Frau und andere weibliche Verwandte und Bekannte in Begleitung mehrerer Journalisten und zwei Menschenrechtsanwältinnen die Reise antreten und die Dokumente den Verantwortlichen übergeben. Doch auf dem Weg zu ihrem Fahrtziel wurden sie von über 100 Bewaffneten blockiert, aus den Wagen gezerrt, schrecklich zugerichtet und schließlich aus nächster Nähe erschossen.

Esmael Mangudadatu und seine engsten Berater hatten sich von der Überlegung leiten lassen, daß die andere Seite wenigstens Frauen kein Haar krümmen und die Präsenz zahlreicher Vertreter lokaler und regionaler Medien respektieren würde. Eine fatale Fehleinschätzung. Bevor der Konvoi seine Todesfahrt begann, hatte er wiederholt vergeblich bei den verantwortlichen Kommandeuren der Streitkräfte (AFP) und Polizei (PNP) um Personenschutz gebeten. Diese Einheiten inklusive paramilitärische Hilfstruppen in Gestalt sogenannter Citizens’ Armed Force Geographical Units und Civilian Volunteers Organizations fühlten sich wesentlich einer Person loyal verbunden – Andal Ampatuan Senior, in Personalunion Provinzgouverneur, Patriarch und Chef seines Clans, dessen Tentakeln weit über die Region hinausreichten.

Daß dieses Massaker von langer Hand vorbereitet und geplant war, ist durch zahlreiche Zeugenaussagen unbestritten. Die Mörder hatten sogar Vorkehrungen getroffen, um schnellstmöglich die Spuren ihrer Tat zu verwischen. Ein zuvor eigens an den Tatort beförderter Bagger hatte bereits Erdlöcher freigeschaufelt, um darin den gesamten Konvoi – die Wagen samt Insassen – zuzuschütten und verschwinden zu lassen. Dies gelang den Tätern nur teilweise, weil sie vorzeitig flüchteten, nachdem Überlebende und Zeugen des Massakers per Handy um Hilfe gebeten hatten. Über Nacht rangierten die Philippinen laut dem in New York ansässigen Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) weltweit auf Platz eins, was die für diesen Berufsstand gefährlichsten Länder betrifft. Zuvor hatte das Land in der CPJ-Rangliste hinter Somalia, Irak und Pakistan noch den vierten Platz belegt.

Feudal- und Kriegsherrentum

Die Ampatuans brüsteten sich stets damit, verwandtschaftliche Wurzeln in Arabien zu haben, und verdienten sich durch ihren Sproß Mamasapano Ampatuan die ersten politischen Sporen. Dieser erhielt Mitte der 30er Jahre einen Beraterposten in der damaligen US-Kolonialadministration. In den 90er Jahren war Andal Ampatuan Senior Vizebürgermeister und Bürgermeister seines Ortes und gewann im Jahre 2001 – mit Unterstützung der Mangudadatus – gegen den Herausforderer Zacaria Candao die Gouverneurswahl in der Provinz Maguindanao. Seitdem benannten die Ampatuans mehrere Orte in der Provinz nach ihren Vorfahren und Kindern. Bürgermeister in Datu Unsay – und Hauptbeschuldigter des Massakers – ist Andal Ampatuan Junior. Weitere Clanmitglieder regieren insgesamt ein Drittel aller Gemeinden und Städte Maguindanaos als feudale Land- und Warlords und unterwerfen sie ihrer direkten Kontrolle. Ein anderes Mitglied der Großfamilie, Zaldy Ampatuan, schaffte es überdies im Herbst 2005, als damals gerade einmal 38jähriger zum jüngsten Gouverneur der Autonomen Region in Muslim Mindanao (ARMM) aufzusteigen. Michael Mastura, ein ehemaliger Kongreßabgeordneter, hatte lange vor der Tat das Treiben von Andal Ampatuan Senior auf den Punkt gebracht: »Er ist wie ein Pharao – und so nennen die Leute ihn auch. Wer gegen seinen Willen handelt, sollte sich das vorher sehr genau überlegen.«

Demgegenüber starteten die Mangudadatus ihre politische Karriere in Maguindanao, als die Nachfolgerin des Diktators Marcos, Präsidentin Corazon C. Aquino (1986–1992), den Patriarch der Familie, Pua Mangudadatu, 1986 zum Bürgermeister der Stadtgemeinde Buluan in Maguindanao ernannte. Zu der Zeit unterhielten die beiden Clans noch enge, gar freundschaftliche Beziehungen.

Das Verhältnis änderte sich mit der Präsidentschaft von Gloria Macapagal-Arroyo (2001–2010). Während der Präsidentschaftswahl im Mai 2004 zeigte sich Maguindanaos Gouverneur Andal Ampatuan Senior als verläßlichster Regionalverbündeter der Präsidentin. Sie entschied nicht zuletzt mit den dort errungenen Stimmen die durch massiven Betrug und Fälschungen gekennzeichnete Wahl für sich. Ampatuan sorgte dafür, daß der Arroyo-Herausforderer, der populäre und überaus beliebte Exschauspieler Fernando Poe Junior, weit abgeschlagen auf den hinteren Plätzen landete. In einigen Orten wurde dermaßen stark manipuliert, daß Poe dort nicht einmal eine einzige Stimme für sich verbuchen konnte. Nicht anders verhielt es sich bei den Senatswahlen im Sommer 2007, als das Arroyo-nahe Senatorenteam sämtliche Stimmen einheimste und der Opposition eine vernichtende Niederlage zufügte. Schließlich waren die Ampatuans der stärkste Stützpfeiler der Regierung in Mindanao. Noch wenige Tage vor dem Massaker hatte sich der ARMM-Chef Zaldy Ampatuan auf einer Parteiversammlung damit gebrüstet, dem ehemaligen Verteidigungsminister Gilbert Teodoro und Protegé der Präsidentin bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2010 sämtliche Stimmen seiner Region zu bescheren. Der Ampatuan-Clan hatte daher kein Verständnis für die politischen Ambitionen des bis dahin befreundeten Mangudadatu-Clan.

Straffreiheit als Staats»tugend«

»Welche Sorte Tier sind diese Killer? Wir sind schockiert und wütend. Dies ist unbeschreiblich und zutiefst verabscheuenswürdig. Dies ist ein bestialischer Akt der widerwärtigsten Art. So etwas habe ich bislang noch nicht erlebt – brutalste Rücksichtslosigkeit im Namen von Macht. Es ist dies ein Affront gegen jedwede Form von Menschlichkeit«. Diese erste Reaktion auf das Massaker aus dem Munde der damaligen Vorsitzenden der staatlichen Menschenrechtskommission und heutigen Justizministerin Leila de Lima brachte die Grundstimmung der Filipinos auf den Punkt. Zumal sie von einer Person geäußert wurde, die sich nicht scheute, mehrfach mächtige politische Clans im Lande und das Treiben der von ihnen unterhaltenen Privatarmeen öffentlich angeprangert zu haben. De Lima war es auch, die die zuvor von internationalen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch sowie die vom UN-Sonderberichterstatter für außergerichtliche Hinrichtungen und das Verschwindenlassen von Personen, Professor Philip Alston, geäußerte Kritik an der Amtsführung der Arroyo-Administration aufgriff und ein Ende der in ihrem Land praktizierten Politik der Straffreiheit forderte.

Seit dem Amtsantritt von Arroyo Ende Januar 2001 bis zum Massaker in Maguindanao sind etwa 1200 Menschen Opfer außergerichtlicher Hinrichtungen geworden und über 200 Personen »spurlos verschwunden« – allesamt Opfer, die im Rahmen des staatlichen Aufruhrbekämpfungsprogramms »Oplan Bantay Laya« (Operationsplan Freiheitswacht) als vermeintliche Kommunisten oder Terroristen gebrandmarkt und buchstäblich liquidiert wurden. Bislang ist keiner der Täter, die allesamt in Kreisen staatlicher Sicherheitskräfte und/oder von diesen gedungenen Schergen vermutet werden, zur Rechenschaft gezogen, geschweige denn gerichtlich belangt und abgeurteilt worden.

Die ersten Reaktionen seitens der Regierung auf das Massaker waren – gelinde formuliert – befremdend. Zwar wurde es als »barbarisch« verurteilt, doch AFP-Sprecher Oberstleutnant Romeo Brawner und Arroyos Pressesprecher Cerge Remonde redeten in diesem Zusammenhang lediglich von einem »Vorfall«. Lorelei Fajardo, die stellvertretende Pressesprecherin der Präsidentin, zitierte ihre Vorgesetzte mit den Worten: »Das ist ein Vorfall zwischen zwei Familien in ¬Mindanao. Wir sind davon nicht betroffen.« Natürlich war man später im Präsidentenpalast Malacañang bemüht, diese Aussagen zu relativieren und den 26. November 2009 im Gedenken an das Massaker als kurzfristig dekretierten nationalen Trauertag zu begehen. Die Präsidentin begründete dies mit den Worten: »Die Verpflichtung, die Menschenrechte und menschliche Würde zu achten, wird sich in den Philippinen durchsetzen!«

Um ihren Worten Taten folgen zu lassen, sandte sie ihren Berater für den Friedensprozeß in Mindanao, Jesus Dureza, nach Maguindanao, um dort den Ampatuan-Clan zur Kooperation bei der Aufklärung des Massakers zu bewegen. Zeugen dieses Treffens berichteten, die Atmosphäre hätte eher der einer familiären Teeparty geglichen. Dureza begleitete sodann Andal Ampatuan Junior, den Hauptverdächtigen des Massakers, nach Manila, wo dieser der Nationalen Untersuchungsbehörde überstellt wurde. Auf Anraten von Dureza und anderen Arroyo-Vertrauten verhängte die Präsidentin schließlich das Kriegsrecht über die beiden Provinzen Maguindanao und Sultan Kudarat sowie über Cotabato City, dem Sitz der ARMM-Regierung, und beauftragte Innenminister Ronaldo Puno, einstweilen deren Amtsgeschäfte zu übernehmen. Der PNP-Chef, Generaldirektor Jesus Verzosa, »beurlaubte« mehrere hochrangige Polizeibeamte aus Shariff Aguak, die ebenfalls bei dem Massaker zugegen waren. Frau Arroyos ehemaliger Verteidigungsminister und enger Vertrauter, Gilbert Teodoro, holte unverzüglich die Mangudadatus in die regierende Parteienkoalition, während gleichzeitig drei Mitglieder des Ampatuan-Clans aus dieser ausgeschlossen wurden.

Gangstertum auf Gegenseitigkeit

Die Zögerlichkeit, mit der Arroyo diese Schritte einleitete, brachten die Öffentlichkeit noch mehr in Rage. Täglich wuchs die Schar derer, die Frau Arroyos Rücktritt forderten. Die in Umfragen unbeliebteste Politikerin nach Marcos war in zahlreiche Korruptionsaffären verwickelt, mußte mit Hilfe ihrer Seilschaften mehrere Amtsenthebungsverfahren parieren und verdankte ihren Sieg bei der Präsidentschaftswahl 2004 einzig der Manipulation seitens der staatlichen Wahlkommission. Deren damaliger Chef, Virgilio Garcillano, hatte dafür gesorgt, daß Arroyo die Wahl auch mit dem von ihr gewünschten Stimmenvorsprung gewann. Pikanterweise wurden die inkriminierenden Telefongespräche zwischen den beiden von Sicherheitskräften aufgezeichnet, in denen die Präsidenten ihren Freund – »Hello Garci« – um eben diese Schützenhilfe gebeten hatte.

Im Sog des von ihr stets bewunderten US-Präsidenten George W. Bush ordnete Arroyo ein Bündel von Maßnahmen an, um Kritiker zu kriminalisieren und in die Nähe von »Terroristen« zu rücken. Eine diese Maßnahmen war die im Juli 2006 unterzeichnete Exekutivorder 546, die es lokalen Beamten und Politikern fortan auch de jure gestattete, privates bewaffnetes Personal im Kampf gegen den »Terrorismus« als »Verstärkungselement« der staatlichen Sicherheitskräfte zu unterhalten und einzusetzen. Den eigentlichen Anlaß dazu bildete, wie Jaileen F. Jimeno in einer Recherche des Philippinischen Zentrums für investigativen Journalismus schrieb, ausgerechnet ein Wochen zuvor mißglückter Anschlag auf Andal Ampatuan Senior in Shariff Aguak, Frau Arroyos treuesten Gewährsmann in Mindanao.

Tatsächlich verkörperten die Ampatuans und Frau Arroyos Klientel politische Kongenialität par excellence. Die Existenz des einen Lagers war ohne die des anderen nicht denkbar. Erst unter Arroyo erlangte der Ampatuan-Clan jene Machtfülle, die er bis Ende November 2009 genoß – ein Gangstertum auf Gegenseitigkeit.

Kein Wunder, daß die zahlreichen Kritiker der Expräsidentin und die Hinterbliebenen der Opfer ihrer Gewaltpolitik auch mit der Menschenrechtslage im Lande unter dem seit Ende Juni 2010 amtierenden Präsidenten Benigno S. Aquino III. unzufrieden sind. Sie drängen darauf, daß den Verantwortlichen des Maguindanao-Massakers und den dahinterstehenden politischen Drahtziehern dieses Verbrechens endlich zügig der Prozeß gemacht und ein wirksamer Zeugenschutz garantiert wird. Bis heute genießen die Hauptangeklagten indes privilegierte Haftbedingungen, 94 weitere Tatverdächtige werden noch gesucht und bereits sechs Zeugen sind ermordet und Rechtsanwälte der Kläger schikaniert und massiv bedroht worden. Vielleicht werden ja jene Pessimisten Recht behalten, die davon ausgehen, daß die Verbrechen des 23. November 2009 nie gesühnt werden, solange nicht die Expräsidentin Arroyo selbst vor den Kadi zitiert und in einem ordentlichen Gerichtsverfahren zur Rechenschaft gezogen wird. Dies ist nach wie vor schwierig, denn Frau Arroyo hat sich in den Kongreß wählen lassen und wahrt so ihre Immunität.

Dr. Rainer Werning, Politikwissenschaftler und Publizist mit dem Schwerpunkt Südost- und Ostasien, ist Mitherausgeber des »Handbuch Philippinen – Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur«

Reiche Eliten – öffentliche Armut

Die Verhältnisse in Maguindanao sind beileibe keine regionale Besonderheit. Das an der staatlichen University of the Philippines angesiedelte Forschungsinstitut Center for People Empowerment in Governance (CenPEG) hatte Ende 2009 ermittelt, daß landesweit etwa 300 Familiendynastien wie die Ampatuans existierten. Laut CenPEG waren im Jahre 2007 von den 265 Kongreßabgeordneten 160 von ihnen solchen mächtigen Clans zuzuordnen. Diese schufen auf je unterschiedliche Weise eine Kultur des systematischen Wahlbetrugs, wodurch sie sich recycelten und an der Macht hielten. Das Resultat: Über Generationen entstand so eine Politikerkaste von Betrügern und Manipulatoren, ebenso korrupten wie mittelmäßigen und geschmierten Beamten, die zudem durch häufige Abwesenheit bei Kongreßsitzungen auffallen und Pfründe notfalls mit Waffengewalt absichern. Landesweit gibt es schätzungsweise 1,1 Millionen nicht lizensierte Schußwaffen, wovon allein in Mindanao etwa 110000 zirkulieren. Arroyo selbst, Tochter des früheren Präsidenten Diosdado Macapagal (1962–1965), war integraler Bestandteil dieser Maschinerie. Ihre beiden Söhne sowie eine ihrer Schwägerinnen und ein Schwager gehören wie sie (seit Juni 2010) ebenfalls dem Kongreß an – von Intimfreunden ganz zu schweigen.

So mächtig und wohlhabend die Ampatuans waren und noch sind, so auffällig kontrastiert deren Privatvermögen mit der öffentlichen Armut und Rückständigkeit in »ihrer« Provinz. Amtlichen Statistiken ist zu entnehmen, daß dort die Armutsrate von 59,3 Prozent im Jahre 2000 auf 60,4 (2003) anstieg und 2006 62 Prozent betrug. Maguindanao ist gegenwärtig die landesweit zweitärmste Provinz und die »Autonome Region in Muslim Mindanao« (ARMM) die ärmste Region. Kein Wunder, daß der Philippine Human Development Report (PHDR) konstatiert, daß nur 39,7 Prozent der Erwachsenen in Maguindanao sechs Jahre lang die Grundschule besuchten, während es im Landesdurchschnitt 84 Prozent waren. Laut PHDR weist Maguindanao zudem mit durchschnittlich 52 Jahren die zweitniedrigste Lebenserwartung im Lande auf – nur in einer anderen ARMM-Provinz, in Tawi-Tawi, lag diese mit 51,2 Jahren noch darunter. Laut Nationaler Statistikkoordinationsbehörde ist die Zahl der Gesundheitsstationen in Maguindanao von 2000 bis 2006 mit 163 konstant geblieben. Trotz alledem leisteten sich die Provinzoberen aus staatlichen Zuwendungen und ausländischen Investitionen neue Rathäuser. Allein der Bau des Kapitolgebäudes in der Hauptstadt Shariff Aguak verschlang nahezu 116 Millionen Peso (2,4 Millionen Euro) – etwa das Doppelte der anfangs mit 60 Millionen Peso veranschlagten Summe.

* Aus: junge Welt, Freitag, 23. November 2012

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