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Politisches Gangstertum

Hintergrund. Die Spuren des Massakers in der südphilippinischen Provinz Maguindanao vom 23. November führen zum Präsidentenpalast Malacañang und markieren gleichzeitig den blutigsten Wahlkampfauftakt in der Geschichte des Landes

Von Rainer Werning *

Der 23. November 2009 wird in die Geschichtsannalen der Philippinen als Schwarzer Montag eingehen. An diesem Tag wurden nach bislang vorliegenden Informationen 64 Menschen Opfer eines Massakers, das in dieser Bestialität und kaltschnäuzig exekutierten Art ein Novum darstellt und die Nation zutiefst erschüttert hat. Seither mehren sich die Stimmen ebenso kritischer wie besorgter Personen aus Medien, Universitäten, Kirchen und NGOs, die von den Philippinen als einem »failed state« (»gescheiterten Staat«) sprechen.

An jenem Montag hatte sich in der südphilippinischen Provinz Maguindanao ein Konvoi von Anhängern des Politikers und Vizebürgermeisters von Buluan, Esmael Mangudadatu, auf den Weg in die Provinzhauptstadt Shariff Aguak aufgemacht, um dort in einem Büro der staatlichen Wahlkommission (Comelec) fristgerecht die erforderlichen Unterlagen für seine Kandidatur als Gouverneur bei den Wahlen im Mai nächsten Jahres einzureichen. Gerade weil dieser Sproß des Mangudadatu-Clans wußte, daß Shariff Aguak samt Umgebung seit knapp einem Jahrzehnt vom rivalisierenden Clan der Ampatuans als exklusive politische, militärische und wirtschaftliche Domäne reklamiert wird, entschied er sich, dort nicht persönlich aufzukreuzen. Statt dessen wollten seine Frau und andere weibliche Verwandte und Bekannte in Begleitung mehrerer Journalisten und zweier Menschenrechtsanwältinnen die Reise antreten und die Dokumente den Verantwortlichen übergeben. Doch auf dem Weg zu ihrem Fahrtziel wurden sie von über 100 Bewaffneten blockiert, aus den Wagen gezerrt, schrecklich zugerichtet und schließlich aus nächster Entfernung erschossen. Esmael Mangudadatu und seine engsten Berater hatten sich von der Überlegung leiten lassen, daß die andere Seite wenigstens Frauen kein Haar krümmen und die Präsenz zahlreicher Vertreter lokaler und regionaler Medien respektieren würde. Eine fatale Fehleinschätzung. Bevor der Konvoi seine Todesfahrt begann, hatte Esmael Mangudadatu wiederholt bei den verantwortlichen Kommandeuren der Streitkräfte (AFP) und Polizei (PNP) um Personenschutz gebeten – vergeblich. Diese Einheiten inklusive paramilitärischer Hilfstruppen in Gestalt sogenannter Volunteer Organizations fühlen sich wesentlich einer Person loyal verbunden – Datu Ampatuan sr., in Personalunion Gouverneur, Patriarch und Chef seines Clans, dessen Tentakel weit über die Region hinausreichen.

Daß dieses Massaker von langer Hand geplant und vorbereitet war, ist mittlerweile durch zahlreiche Zeugenaussagen unbestritten. Die Mörder hatten sogar Vorkehrungen getroffen, um schnellstmöglich die Spuren ihrer Tat zu verwischen. Ein zuvor eigens an den Tatort beförderter Bagger hatte bereits Erdlöcher freigeschaufelt, um darin den gesamten Konvoi – die Wagen nebst Insassen – zuzuschütten und verschwinden zu lassen. Dies gelang den Tätern nur teilweise, weil sie vorzeitig flüchteten, nachdem Überlebende und Zeugen des Massakers per Handy um Nothilfe gebeten hatten.

»Er ist wie ein Pharao«

Die Ampatuans brüsten sich mit ihren vermeintlichen arabischen Wurzeln. Der Clan gewann durch sein Mitglied Datu Mamasapano Ampatuan ersten politischen Einfluß, als dieser Mitte der 1930er Jahre einen Beraterposten in der von den USA dominierten Kolonialadministration erhielt. In den 1990er Jahren war Andal Ampatuan sr. Vizebürgermeister und Bürgermeister seines Ortes und gewann im Jahre 2001 – mit Unterstützung der Mangudadatus – gegen den Herausforderer Zacaria Candao die Gouverneurswahl in Maguindanao. Seitdem benannten die Ampatuans mehrere Orte in der Provinz nach ihren Vorfahren und Kindern. Bürgermeister von Datu Unsay und Hauptbeschuldigter des Massakers ist Datu Andal Ampatuan jr., während weitere Clanmitglieder insgesamt ein Drittel aller Gemeinden und Städte Maguindanaos als feudale Land- und Warlords regieren und diese vollständig ihrer direkten Kontrolle unterworfen haben. Ein anderes Mitglied der Großfamilie, Zaldy Ampatuan, schaffte es überdies im Herbst 2005, als damals gerade einmal 38jähriger zum jüngsten Gouverneur der Autonomen Region in Muslim Mindanao (ARMM)[1] aufzusteigen. Datu Michael Mastura, ein ehemaliger Kongreßabgeordneter des ersten Distrikts in Maguindanao und selbst Sproß einer alteingesessenen, angesehenen Moro-Familie, hat das Treiben von Ampatuan sr. auf den Punkt gebracht: »Er ist wie ein Pharao – und so nennen die Leute ihn auch. Wer gegen seinen Willen handelt, sollte sich das vorher sehr genau überlegen«. Demgegenüber starteten die Mangudadatus ihre politische Karriere in Maguindanao, als die Nachfolgerin von Ferdinand Marcos, Präsidentin Corazon C. Aquino (1986–1992), den Patriarchen der Familie, Datu Pua Mangudadatu, 1986 als Bürgermeister von Buluan, Maguindanao, einsetzte. Zu der Zeit unterhielten die beiden Clans noch enge, gar freundschaftliche Beziehungen.

Während der letzten Präsidentschaftswahl im Mai 2004 zeigte sich Maguindanaos Gouverneur Andal Ampatuan sr. als verläßlichster Regionalverbündeter von Frau Arroyo, die nicht zuletzt mit den dort errungenen Stimmen die durch massiven Betrug und Fälschungen gekennzeichnete Wahl für sich entschied. Ampatuan sorgte dafür, daß der Arroyo-Herausforderer, der populäre und überaus beliebte Exschauspieler Fernando Poe jr. weit abgeschlagen auf den hinteren Plätzen landete. In einigen Orten wurde dermaßen kraß manipuliert, daß Poe dort nicht einmal eine einzige Stimme für sich verbuchen konnte. Nicht anders verhielt es sich bei den Senatswahlen im Sommer 2007, als das Arroyo-nahe Senatorenteam sämtliche Stimmen einheimste und die Opposition eine vernichtende Schlappe erlitt. Schließlich waren und sind die Ampatuans stärkster Stützpfeiler der Präsidentin und ihrer herrschenden Partei (der Koalition aus Lakas-Kampi-CMD/Christian Muslim Democrats) in Mindanao.

Straffreiheit für Mörder

»Welche Sorte Tier sind diese Killer? Wir sind schockiert und wütend. Dies ist unbeschreiblich und zutiefst verabscheuungswürdig. Dies ist ein bestialischer Akt der widerwärtigsten Art. So etwas habe ich bislang noch nicht erlebt – brutalste Rücksichtslosigkeit im Namen von Macht. Es ist dies ein Affront gegen jedwede Form von Menschlichkeit.« Diese erste Reaktion auf das Massaker aus dem Munde der Vorsitzenden der staatlichen Menschenrechtskommission (CHR)[2], Leila de Lima, brachte die Grundstimmung der Filipinos auf den Punkt. Zumal sie von einer Person geäußert wurde, die als integer gilt und sich nicht scheute, mehrfach mächtige politische Clans im Lande und das Treiben der von ihnen unterhaltenen Privatarmeen öffentlich anzuprangern. De Lima war es auch, die die zuvor von internationalen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch sowie die vom UN-Sonderberichterstatter für außergerichtliche Hinrichtungen und willkürliche Exekutionen, Professor Philip Alston, geäußerte Kritik an der Amtsführung der Arroyo-Administration aufgriff und ein Ende der in ihrem Land praktizierten Politik der Straffreiheit forderte. Seit dem Amtsantritt von Frau Arroyo Ende Januar 2001 bis zum Massaker in Maguindanao sind über 1000 Menschen Opfer außergerichtlicher Hinrichtungen geworden und über 200 Personen »spurlos verschwunden« – allesamt Opfer, die im Rahmen des staatlichen Aufruhrbekämpfungsprogramms »Oplan Bantay Laya« (Operationsplan Freiheitswacht) als vermeintliche Kommunisten oder Terroristen gebrandmarkt und buchstäblich liquidiert wurden. Bislang ist keiner der Täter, die in Kreisen staatlicher Sicherheitskräfte und/oder von diesen gedungenen Schergen vermutet werden, zur Rechenschaft gezogen, geschweige denn gerichtlich belangt oder abgeurteilt worden.

Die ersten Reaktionen seitens der Regierung auf das Massaker waren – gelinde formuliert – befremdend. Zwar wurde es als »barbarisch« verurteilt. Doch der AFP-Sprecher Oberstleutnant Romeo Brawner und Arroyos Pressesprecher Cerge Remonde sprachen in diesem Zusammenhang lediglich von einem »Vorfall«. Lorelei Fajardo, die stellvertretende Pressesprecherin der Präsidentin, zitierte ihre Vorgesetzte mit den Worten: »Das ist ein Vorfall zwischen zwei Familien in Mindanao. Wir sind davon nicht betroffen«. Natürlich war man später im Präsidentenpalast Malacañang bemüht, diese Aussagen zu relativieren und Donnerstag, den 26. November, im Gedenken an das Massaker als kurzfristig dekretierten nationalen Trauertag zu begehen. Die Präsidentin begründete dies mit den Worten: »Die Verpflichtung, die Menschenrechte und menschliche Würde zu achten, wird sich auf den Philippinen durchsetzen!« Um ihren Worten Taten folgen zu lassen, sandte sie ihren Berater für den Friedensprozeß in Mindanao, Jesus Dureza, nach Maguindanao, um dort den Ampatuan-Clan zur Kooperation bei der Aufklärung des Massakers zu bewegen. Zeugen dieses Treffens berichteten, die Atmosphäre habe eher der einer familiären Teeparty geglichen. Dureza begleitete sodann Andal Ampatuan jr., den Hauptverdächtigen des Massakers, nach Manila, wo dieser der Nationalen Untersuchungsbehörde (NBI) überstellt wurde. Auf Anraten von Dureza und anderen Arroyo-Vertrauten verhängte die Präsidentin schließlich das Kriegsrecht über die beiden Provinzen Maguindanao und Sultan Kudarat sowie über Cotabato City, den Sitz der ARMM-Regierung, und beauftragte Innenminister Ronaldo Puno, einstweilen deren Amtsgeschäfte zu übernehmen (siehe den untenstehenden Beitrag). Der PNP-Chef, Generaldirektor Jesus Verzosa, »beurlaubte« mehrere hochrangige regionale Polizeibeamte, die bei dem Massaker zugegen waren. Frau Arroyos ehemaliger Verteidigungsminister, Gilbert Teodoro, frisch gekürter Spitzenkandidat der herrschenden Kampi-CMD bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2010, holte daraufhin unverzüglich die Mangudadatus in sein Boot, während zuvor drei Mitglieder des Ampatuan-Clans aus der Partei ausgeschlossen wurden.

Arroyos Rücktritt gefordert

Diese Reaktionen gossen reichlich Öl ins ohnehin lodernde Feuer. Täglich wächst die Schar derer, die Frau Arroyos Rücktritt fordern. Die in Umfragen unbeliebteste Politikerin nach Marcos ist in zahlreiche Korruptionsaffären verwickelt, mußte mit Hilfe ihrer Seilschaften mehrere Amtsenthebungsverfahren parieren, und sie verdankt ihren Sieg bei der letzten Präsidentschaftswahl 2004 einzig der Manipulation seitens der staatlichen Wahlkommission (Comelec).[3] Deren damaliger Chef, Virgilio Garcillano, hatte dafür gesorgt, daß Frau Arroyo die Wahl auch mit dem von ihr gewünschten Stimmenvorsprung gewann. Pikanterweise wurden die kompromittierenden Telefongespräche zwischen den beiden von Sicherheitskräften aufgezeichnet, in denen die Präsidenten ihren Freund (»Hello Garci«) um diese Schützenhilfe bat. Im Sog des von ihr bewunderten US-Präsidenten George W. Bush ordnete Frau Arroyo ein Bündel von Maßnahmen an, um Dissens und Kritiker zu kriminalisieren und in die Nähe von »Terrorismus« zu rücken. Eine diese Maßnahmen war die im Juli 2006 unterzeichnete Exekutivorder 546, die es lokalen Beamten und Politikern nunmehr auch de jure gestattete, privates bewaffnetes Personal im Kampf gegen den »Terrorismus« als »Verstärkungselement« der staatlichen Sicherheitskräfte einzusetzen. Den eigentlichen Anlaß dazu bildete, wie Jaileen F. Jimeno in einer Anfang September 2008 veröffentlichten Recherche des Philippinischen Zentrums für investigativen Journalismus schrieb, ausgerechnet ein Wochen zuvor mißglückter Anschlag auf Andal Ampatuan sr. in Shariff Aguak, Frau Arroyos treuesten Gefolgsmann und politischen Stallgefährten in Mindanao.

Für die wachsende Schar der Kritiker und Gegner der Präsidentin steht außer Frage, daß sie und ihre Administration als letzte legitimiert sind, die Hintergründe und den Verlauf des Massakers vom 23. November aufzuhellen und sämtliche Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen. Warum, so fragen sie, sollte das ausgerechnet jetzt geschehen, da es in all den über 1000 Fällen außergerichtlicher Hinrichtungen und bei über 200 »spurlos Verschwundenen« seit ihrem Amtsantritt keinerlei Aufklärung gab und die Täter frei herumlaufen. Tatsächlich verkörpern die Ampatuans und Frau Arroyos Klientel politische Kongenialität par excellence. Die Existenz des einen Lagers ist ohne die des anderen nicht denkbar – ein Gangstertum auf Gegenseitigkeit.

Spirale der Gewalt

Die zahlreichen nationalen und internationalen säkularen und kirchlichen Institutionen, Organisationen und Hilfswerke, die sich seit langem im Verbund mit lokal und regional verankerten engagierten NGOs für eine Deeskalation der Konflikte in Mindanao engagierten, haben es heute noch schwerer, eine diesen Namen verdienende Friedensarbeit zu leisten. Viele ihrer Mitglieder sind zutiefst verunsichert, betrachten das Massaker vom 23. November als herben Rückschlag für ihre bisherige Arbeit und befürchten, daß sich in der Hochphase des Wahlkampfs die Spirale politisch motivierter Gewalt immer schneller dreht. Da staatlicherseits kein adäquater (Rechts-)Schutz ihres Engagements zu erwarten ist, ist es höchste Zeit, daß sich die Vereinten Nationen darüber verständigen, wie die Administration in Manila durch politisch-diplomatische Maßnahmen dazu bewegt werden kann: einen umfassenden Schutz der Zivilbevölkerung zu gewährleisten; wirksamen Zeugenschutz bei kriminellen und terroristischen Straftaten zu garantieren; sämtliche Privatarmeen und paramilitärischen Verbände aufzulösen und zu entwaffnen sowie den ins Stocken geratenen Friedensprozeß mit der Moro Islamischen Befreiungsfront (MILF) ernsthaft fortzusetzen. Sollte Manila auch weiterhin an seiner bislang verfolgten Politik der Straffreiheit festhalten, so kann das im Sinne einer notwendigen juristischen Strafverfolgung und angemessenen Entschädigung der Massakeropfer vom 23. November nur bedeuten, dies vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu bringen und dort verhandeln zu lassen.

Fußnoten
  1. die ARMM mit Hauptsitz in Cotabato City entstand im August 1989 und umfaßt heute die Provinzen Lanao del Sur, Maguindanao, Basilan (ohne die Hauptstadt Isabela City), Sulu und Tawi-Tawi
  2. die CHR hat allerdings nur beratende, keine exekutive Funktion; sie kann lediglich Untersuchungen durchführen und Empfehlungen aussprechen
  3. die Comelec ist keine Wahl(aufsichts)kommission im eigentlichen Sinne, sondern traditionell eine der korruptionsanfälligsten Behörden des Landes, um deren personelle Besetzung und politische Einflußnahme unter den Eliten stets heftig gefeilscht wird
* Der Autor befaßt sich seit 1970 intensiv mit der Konfliktlage im Süden der Philippinen. Seine jüngste Publikation zum Thema ist der von ihm mitherausgegebene Band »Conflict in Moro Land – Prospects for Peace?«, der in diesen Tagen von der Universiti Sains Malaysia in Penang veröffentlicht wurde.

Aus: junge Welt, 2. Dezember 2009


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