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Mord in Belfast

Ehemaliger IRA-Kommandeur getötet. Attacken und Drohungen gegen Sinn Féin vor Parlamentswahl

Von Florian Osuch *

In Nordirland ist am Dienstag morgen der ehemaliger Kommandeur der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), Gerard »Jock« Davison, von einem Unbekannten erschossen worden. Der Anschlag ereignete sich gegen 9.15 Uhr im Market-Viertel nahe dem Stadtzentrum von Belfast. Der Familienvater war auf dem Weg zur Arbeit in einem Nachbarschaftszentrum. Niemand bekannte sich bisher zu dem Attentat.

Davison war einst ein hochrangiges Mitglied der IRA in Belfast. Ende der 1990er Jahre gehörte er zu den Unterstützern des Friedenskurses seiner Guerilla und der mit ihr verbündeten irischen Linkspartei Sinn Féin.

Gerry Adams, Vorsitzender von Sinn Féin, sagte BBC, der Mord werde »von allen sensiblen Menschen verurteilt«. Derlei Aktionen hätten in Nordirland »keinen Platz«. Adams, der sich während der Bombenkampagne der IRA von 1969 bis 1996 zumeist schützend vor die Guerillatruppe gestellt hatte, forderte dazu auf, die Polizei bei ihren Ermittlungen zu unterstützen.

Alex Maskey, Abgeordneter von Sinn Féin im nordirischen Regionalparlament, sagte dem Belfast Telegraph, der Getötete war als langjähriger irisch-republikanischer Aktivist »hochgeschätzt«. Maskey und andere Mitglieder der Partei sowie ehemalige Mitglieder der IRA versammelten sich am Dienstag in der Nähe des Tatorts, der von einem Großaufgebot der Polizei abgeschirmt wurde.

Die Polizei ermittelt in alle Richtungen. Der leitende Polizeiführer Justyn Galloway sagte der Irish Times, es werde nichts ausgeschlossen. Er deutete jedoch an, dass er eine Verwicklung der probritischen UVF-Miliz für nicht sehr wahrscheinlich hält – er »glaube nicht an einen konfessionsgebundenen Mord«. Ein Onkel Davisons war 1988 von einem Killerkommando der Ulster Volunteer Force in derselben Gegend erschossen worden. Auch eine Verstrickung irisch-republikanischer Splittergruppen sei laut dem Polizeisprecher unwahrscheinlich.

Gegen den getöteten 47jährigen war vor einigen Jahren selbst wegen Mordes ermittelt worden. Der Tod Robert McCartneys im Jahr 2005 hatte den Friedensprozess kurzzeitig ins Stocken gebracht. Mehrere ehemalige IRA-Männer sollen in den Mord in einer Bar in Belfast verwickelt gewesen sein.

Unterdessen häufen sich vor der Wahl zum britischen Parlament am heutigen Donnerstag Attacken und Drohungen gegen Sinn Féin. Die nordirische Polizei warnte mehrere Politiker der Partei. BBC berichtete, Beamte hätten bereits am Montag den Kandidaten Mickey Brady aufgesucht und vor Angriffen gewarnt. Am Dienstag seien Drohanrufe eingegangen und ein Bombenanschlag angekündigt worden.

Martina Anderson, Mitglied im Europaparlament für Sinn Féin, ließ über das Internet verbreiten, gegen ihr Wohnhaus habe es vier Bombendrohungen gegeben. Bedroht wurde auch ein Sinn-Féin-Funktionär in Derry. Bereits am Sonntag abend war auf das Wohnhaus von Sinn-Féin-Vize Martin McGuinness ebenfalls in Derry ein Farbanschlag verübt worden. In der Woche zuvor war laut BBC der Pkw eines Parteimitglieds in der gleichen Stadt in Brand gesetzt worden.

Aus Nordirland werden 18 Abgeordnete ins britische Unterhaus gewählt. Die irische Linkspartei Sinn Féin konnte bei den letzten Wahlen mit 171.942 Stimmen die meisten Voten auf sich vereinen. Knapp dahinter lag die christlich-fundamentalistische Democratic Unionist Party (DUP) mit 168.216 Stimmen. Bei der Anzahl der erlangten Sitze hatte jedoch die DUP die Nase vorn und schickte acht Abgeordnete nach London. Sinn Féin gewann fünf Wahlkreise. Ihre Abgeordneten blieben dem britischen Parlament allerdings wie zuvor fern. Sinn Féin hält britische Institutionen grundsätzlich für nicht legitimiert, über irische Belange zu entscheiden.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 7. Mai 2015


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