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Der Streit um ein paar Schnappschüsse

Eine Lösung im nordirischen Friedensprozess ist an einer Kleinigkeit gescheitert

Vor zwei Wochen scheiterte ein neuer Versuch, eine Lösung im nordirischen Friedensprozess zu finden und die Regionalregierung als Koalitionsregierung der beiden grossen Parteien, der pro-britischen DUP und der irisch-republikanischen Sinn Fein, wieder zu etablieren. Obwohl die IRA die Vernichtung ihrer Waffen bis Ende des Jahres angeboten hatte, verweigerte die DUP ihre Einwilligung in das Kompromiss-Paket. Als Begründung für die Öffentlichkeit gab die DUP an, sie stimme dem Kompromiss nicht zu, weil die IRA sich weigere, die Vernichtung fotographisch festhalten zu lassen.

Im Folgenden dokumentieren wir hierzu drei Kommentare:
  1. Einen Artikel von Brian Feeny aus der Zeitung "Irish News", übersetzt von Uschi Grandel,
  2. einen Artikel von Pit Wuhrer aus der Schweizer Wochenzeitung WoZ vom 16. Dezember,
  3. und einen Leitartikel aus dem britischen "Guardian" vom 9. Dezember 2004

Unmöglich, die Bedingungen zu erfüllen ... Gehen wir weiter!

Von Brian Feeney (für die Irish News)

In der Praxis war Decommissioning (Waffenvernichtung) immer eine unsinnige Forderung. Die Argumente sind bekannt. Waffenvernichtung hindert eine Organisation nicht daran, sich neue und modernere Waffen zuzulegen, wie das Beispiel der Real IRA (einer Mini-Abspaltung der IRA, die den Friedensprozess ablehnt) zeigt. Ganz nebenbei, in den letzten Jahren der IRA Kampagne (vor dem Waffenstillstand 1994) verursachten handgemachte, improvisierte Waffen, die in Schuppen und Garagen hergestellt wurden, mehr Schaden als militärische Fabrikware.

In einem Artikel für die Irish Times weisst der ehemalige Offizier der Irischen Armee, Tom Clonan, darauf hin, dass es eine komplette Waffenvernichtung nie geben könne, da die IRA gar nicht alle Lagerorte ihrer Waffen und Explosivstoffe kennt. Das resultiert aus den Umständen, unter denen sie versteckt wurden. Das ist aber nichts neues: rostige alte Revolver, Bomben aus dem Unabhängigkeitskrieg und dem Bürgerkrieg (Anfang des 20. Jahrhunderts) kommen immer wieder zum Vorschein. Clonan sagt voraus, dass die Armee in den nächsten Jahren immer wieder kleine Lager mit Semtex, AK-47 (Maschinengewehre) und diversen Sprengstoffgrundstoffen vernichten werden wird, die aus Gestrüpp und Gruben auftauchen.

Ausserdem wissen wir, dass einige Verstecke von Individuen geplündert wurden, die zur Real IRA wechselten und diese Verstecke kannten.

Auch Beweisfotos sind unsinnig.

Es ist ein leichtes, Fotos zu fälschen, vor allem Digitalfotos. Warum sollte die DUP jemandem glauben, der Fotos zeigt, die irgendwer irgendwo aufgenommen hat, wenn sie dieser selben Person nicht glaubt, dass sie Zeuge einer Waffenvernichtung war? Tom Conan kommt zu dem Schluss, dass die Forderung der DUP eine politische Scheinforderung sei. Natürlich hat er recht. Jeder, der nur über ein Fünkchen Verstand verfügt, kennt den echten Grund, der sich hinter der Forderung nach Entwaffnung verbirgt.

Michael Oatley, der Offizier des (britischen Geheimdienstes) MI6, der jahrelang als Kontaktperson der britischen Regierung zur IRA agierte, äusserte sich sehr konkret zu den Forderungen der (pro-britischen) Unionisten nach Waffenabgabe (der IRA). Diese Forderung, so sagte er bereits 1999, ist vorgeschoben, um den Friedensprozess aufzuhalten. Und das klappte die letzten 10 Jahre ganz gut. Die Strategie war hauptsächlich deshalb erfolgreich, weil sowohl die britsche als auch die irische Regierung jede kleinste Forderung der Unionisten vorbehaltslos unterstützt haben.

Warum aber unterstützten die Regierungen Forderungen, von denen sie wissen, dass sie politisch motiviert und unrealistisch sind?

Unrealistisch sind die Forderungen aus den bereits erwähnten praktischen Erwägungen, aber auch aus einem anderen Grund: es gibt keine Möglichkeit festzustellen, ob die IRA alle ihre Waffen vernichtet hat. Selbst wenn die IRA Beweisfotos erlauben würde, was sie nicht tut, stünden wir schlussendlich vor der absurden Situation, dass die DUP der IRA glauben müsste, wenn diese sagt, sie hätte alle Waffen vernichtet.

Die DUP müsste die Frage "Woher wisst ihr, dass die IRA alle Waffen vernichtet hat?" mit der einfältigen Antwort "Weil die IRA es uns gesagt hat!" beantworten. Oder?

Die Regierungen unterstützen diese Pantomime, weil sie der Selbsttäuschung unterliegen, dass die Unionisten letztendlich keine andere Wahl haben, als sich verständig und rational wie normale Politiker zu zeigen, wenn die Regierungen nur allen Forderungen nachgeben, egal wie dumm, kleinkrämerisch oder provokativ diese auch sein mögen. Falsch! Niemals in der bekannten Geschichte haben Unionisten sich rational verhalten.

Im Gegenteil, alle historische Erfahrung zeigt sie als chronisch irrational und unverständig.

Was resultiert nun daraus, dass die Regierungen als Erfüllungsgehilfen für Forderungen agierten, von denen die Unionisten dachten, dass die irischen Republikaner sie nie und nimmer erfüllen würden? Nun, das Resultat ist, dass die Republikaner Stück für Stück enorme Zugeständnisse (in anderen Bereichen der Umsetzung des Karfreitagsabkommens) durchsetzen konnten als Ausgleich für die Zustimmung zu den unionistischen Forderungen.

Hätten die Republikaner nicht das Entwaffnungsthema, das ihnen die Unionisten gaben, hätten sie wohl die Entlassung der Männer durchgesetzt, die den Polizisten McCabe getötet haben? Hätten sie so einfach Rederecht im (südirischen Parlament) Dail und Mitgliedschaft im (südirischen Senat) Seanad durchgesetzt?

Republikaner haben ein eigenes Interesse, sich der Waffen zu entledigen und die IRA als nicht länger aktiv zu deklarieren, weil sie wissen, dass sie sonst ihren Wahlerfolg im Süden gefährden. Was ist nun aber die Lösung? Ganz einfach.

Die Vorschläge, die Ahern und Blair letzte Woche veröffentlicht haben, sind ein Packet, das alle republikanischen Forderungen addressiert. Die IRA hat ihre Bereitschaft erklärt, ihre Waffen bis Weihnachten in einer Folge grosser Vernichtungsaktionen zu zerstören. Die Waffenverstecke sind nur einigen IRA Leuten, dem irischen Geheimdienst und dem britischen MI5 bekannt.

Die IRA sollte "den Fuchs der DUP erlegen".

Ruft (den Vorsitzenden der Entwaffnungskommission) de Chastelain an, vernichtet die Waffen wie geplant und er wird an die Regierungen und die DUP berichten, dass alles erledigt ist. Alles weg. Entschuldigung, Leute, nichts mehr zu fotographieren. Die IRA hat bereits drei grosse Waffenvernichtungsaktionen durchgeführt. Des Rests müssen sie sich wegen der Politik im Süden Irlands sowieso entledigen. Sinn Fein hat die politischen Aspekte des Vorschlags von letzter Woche akzeptiert. Durch eine Verzögerung der Waffenvernichtung lässt sich nichts weiter gewinnen.

Was kann die DUP tun? Letztendlich muss sie sowieso der IRA glauben. Warum sollte man die DUP nicht lieber früher als später alt aussehen lassen?

Übersetzung: Uschi Grandel

Quelle: http://www.info-nordirland.de

Schuld und Sünde

Von Pit Wuhrer

Der Mann versteht es, immer noch einen draufzusetzen. Natürlich sei er bereit, Gerry Adams zu treffen, sagte Ian Paisley, Vorsitzender der radikal-protestantischen Partei DUP, am letzten Wochenende. Wenn Adams, Chef der IRA-nahen Partei Sinn Féin, «morgen zu mir in die Kirche kommt, um über die Sünde zu reden und darüber, wie man davon wegkommt, werde ich mit ihm sprechen. Sonst aber nicht.» Ist es Chuzpe oder die reine Bigotterie, die den Sektengründer Paisley solche Sprüche klopfen lässt - und das ausgerechnet in diesen Tagen, in denen eine Einigung der Konfliktparteien so nahe schien wie selten zuvor?

Noch Mitte letzter Woche schien ein Abkommen der beiden grössten Parteien in Nordirland in greifbarer Nähe. Nach Jahren des politischen Stillstands - das Regionalparlament war zwar gewählt, trat aber nicht zusammen, weil sich die Kontrahenten nicht auf eine Regionalregierung einigen konnten - haben die protestantischen Hardliner der DUP und selbst ihr mittlerweile 78 Jahre alter Chef etliche Zugeständnisse gemacht. Sie sind nun bereit, das Prinzip der Machtteilung zu akzeptieren und mit ihren alten Widersachern von Sinn Féin die Regierungsverantwortung zu teilen - eine Haltung, die sie vor der letzten Wahl noch heftig bekämpft hatten. Sinn Féin erklärte sich im Gegenzug damit einverstanden, die ehemalige Untergrundorganisation IRA ein für alle Mal zu entwaffnen, und die neue, wenngleich noch immer protestantisch dominierte Polizeiorganisation von Nordirland zu unterstützen. Tony Blair und Bertie Ahern, die Premiers von Britannien und Irland, hatten bereits die Weltmedien aufgeboten, um ihnen freudestrahlend den so lange erwarteten Durchbruch im blockierten Friedensprozess zu verkünden. Doch dann platzte die Feier.

DUP und Sinn Féin konnten sich in einem winzigen Detail nicht einigen: Wer überprüft die endgültige Entwaffnung der IRA? Sinn Féin war bereit, die Zerstörung des IRA-Arsenals vor den Augen einer Internationalen Entwaffnungskommission, eines katholischen Priesters und eines protestantischen Pfarrers vorzunehmen. Die DUP hingegen bestand auf fotografischen Dokumenten: Sie müssten ihrer Gefolgschaft zeigen können, dass die IRA keine Gefahr mehr darstelle. Paisley, der vor vierzig Jahren bereits gegen eine IRA gewettert hatte, die es damals in dieser Form nicht gab, fordere jetzt die bedingungslose Kapitulation seines Erzfeindes, schrieben manche Kommentatoren. Da ist was dran. Erst müsse die IRA in Sack und Asche durch Belfasts Strassen ziehen, bevor er mit Sinn Féin verhandele, hatte der Prediger vor nicht allzu langer Zeit erklärt.

Dies aber erklärt noch nicht die schroffe Ablehnung, auf die Paisleys Ultimatum stiess. Auch die Sinn-Féin-Führung weiss, dass der Krieg seit langem vorbei ist, dass die Waffen nicht mehr gebraucht werden, dass die IRA nur noch Geschichte ist. Demütigungen in der Art, wie Paisley sie jetzt mit seiner Forderung nach Fotos von der Waffenabgabe verlangt, hatten Gerry Adams, Martin McGuinness und all die anderen arrivierten ehemaligen IRA-Führer in den letzten Jahren klaglos hingenommen. Sie liessen sich auf ihrem Weg nach oben von einer Einbahnstrasse in die nächste führen, sprangen durch jeden Reifen und hüpften über jedes Stöckchen, das man ihnen hinhielt. Sie hatten den Staat, den sie aus guten Gründen von unten bekämpft hatten, nicht besiegen können, und arrangierten sich mit dem Gegner.

Aber ihre Geschichte haben sie nicht vergessen. Und sie wissen um die Macht der Bilder. Die Fotos, die die Kapitulation der IRA dokumentieren sollen, könnten nicht nur für allerlei Propagandazwecke genutzt werden. Sie wären auch Beleg dafür, dass der bewaffnete Widerstand gegen die protestantischen Pogrome und die Unterdrückung durch die britische Kolonialmacht von Anfang an falsch gewesen war. Sie würden auch in allen künftigen Geschichsbüchern abgedruckt - möglicherweise mit dem Hinweis darauf, dass Sinn Féin wie so viele andere irische Parteien vor ihr einen schlechten Frieden mit den Briten geschlossen hatte, der irgendwann später neue Konflikte erzeugte.

Von solchen Konflikten kann heute keine Rede sein - obwohl die katholische Minderheit in Nordirland heute auf dem Arbeitsmarkt noch stärker diskriminiert wird als früher. Daher trauen auch viele dem Frieden nicht so recht. So manche würden die Waffen gern behalten, zur eigenen Sicherheit - und intern hatte das die Sinn-Féin-Führung ihrer Gefolgschaft auch versprochen, allerdings nur, um diese zu beschwichtigen.

Von den protestantischen Paramilitärs, die in den letzten fünfzehn Jahren weitaus mehr Menschen in Nordirland getötet haben als die IRA und die eine Entwaffnung strikt ablehnen, spricht übrigens niemand - nicht Ian Paisley und schon gar nicht die britische Regierung, die bei vielen Mordanschlägen ihre Finger im Spiel hatte.

Aus: Wochenzeitung WOZ vom 16. Dezember 2004

Reasons to be cheerful

The pessimist, Winston Churchill once observed, sees difficulty in every opportunity. But the optimist, he continued, sees opportunity in every difficulty. On the face of it, yesterday in Northern Ireland was a great day for the pessimists. Not for the first time in this process, difficulty snatched the prize from opportunity's fumbling hands. A year's patient political work in London, Dublin and Belfast had gone into the difficult task of bringing the Democratic Unionists and Sinn Fein together to govern Northern Ireland on the basis of the Belfast agreement. Defying the sceptics, by last month this had produced a series of draft solutions to some of the most intractable issues in the province, including paramilitary weapons, policing and political power sharing. Yet by Tuesday it had become clear that this wide-ranging deal was unravelling because of a single cause - the photographic record of the arms decommissioning process. The DUP wanted publishable pictures and to make political capital out of them. Sinn Fein, fearful of public humiliation by the DUP, refused. Yesterday, for want of a photo, the peace deal was lost.

Northern Ireland politics have made mugs of the optimists before. A year and a half ago, George Bush - no less - flew to Belfast to announce that the province's parties had "agreed to put hatreds in the past." History, the president concluded, was "just that - history." The following day, instead of falling into line with the president's pronouncements, history escaped from its box and forced Bertie Ahern and Tony Blair to abandon plans to announce another power-sharing deal. Eighteen months later, things have gone slightly better than in that earlier debacle. At least the two prime ministers actually made it to Belfast to make their announcements yesterday. But they had to announce Plan B not Plan A when they got there. There was plenty of talk of the progress that had been made, of the short distance that remained to be travelled and of the two men's positive moods. The two leaders smiled a lot and put on a good show. Mr Ahern even suggested it could all still be done and dusted by Christmas. But the effort did not convince. The Belfast event felt too much like a wedding to which the beaming and excited relatives had come from all corners of the globe, but at which the bride and groom had decided at the last minute not to show up.

Yet perhaps it is not merely the season of the year that suggests the optimists may yet get the last laugh this time. One of the biggest reasons for that feeling could be seen in the elegantly redeveloped Victorian backdrop to the Blair/Ahern press conference in the Waterfront Hall yesterday. Belfast is a prosperous city again these days. Ten years of paramilitary ceasefires have allowed Northern Ireland's wider economy to flourish too. Ulster is currently the UK's fastest growing region. Joblessness, for so long the discriminatory scourge of Northern Ireland life, is now close to the UK national average and is half of the level in many of the less dynamic parts of the European Union. The old idea that nothing of lasting good could happen in Northern Ireland without political progress is hard to sustain these days. Politicians of all stripes are under pressure to get real.

That pressure is not going to change. And, as the documents published yesterday show, it has already carried the once irreconcilable DUP and Sinn Fein far closer than before towards a historic compromise. Mr Blair and Mr Ahern were right to stress how much has been achieved and Mr Blair was right to say that DUP talk of humiliating the IRA is as absurd as overreaction to such talk. Deals on issues that for years have seemed incapable of resolution came tantalisingly close this week. Real difficulties remain. But real opportunities are still there too. Don't give up on optimism.

Leader, Thursday December 9, 2004
The Guardian



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