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Nordirland: Operation Schweiz

Von Pit Wuhrer *


Ein paar Strassenschlachten, Schüsse, Molotowcocktails - in Nordirland geht eine vergleichsweise ruhige Marschsaison zu Ende. Aber sind die Briten wirklich abgezogen?

Zwei oder drei grosse Paraden noch, dann ist die früher so konfliktträchtige Marschsaison vorbei. Die bis vor wenigen Jahren heftig umkämpfte Parade des protestantischen Oranierordens Anfang Juli zur Kirche von Drumcree ver­lief weitgehend friedlich. Der 12. Juli - an ihm feiern die nordirischen Protes­tantInnen den Sieg ihres Königs Wilhelm III. über den Katholiken Jakob II. in der Schlacht am Boyne 1690 - war diesmal ein ruhiger Feiertag mit zahllosen Umzügen und viel Bier. Auch die Demonstrationen der katholischen RepublikanerInnen am 9. August (sie erinnern an den Beginn der britischen Internierungspolitik 1971) wurden nicht behindert. Und der traditionelle Aufmarsch der Apprentice Boys in Derry an diesem Wochenende - er gedenkt des Widerstands von protestantischen Lehrlingen im Jahre 1688 - endete mit einem Lob der Polizei. Sie gratulierte den VeranstalterInnen zu ihrer Disziplin, obwohl sie am Ende des Umzugs von republikanischen Jugendlichen mit Molotowcocktails attackiert worden war.

Alles friedlich in Nordirland? Nicht ganz. In Derry zum Beispiel hatten Ende Juli junge KatholikInnen eine Polizeieinheit mit Molotowcocktails und Feuerwerkskörpern angegriffen; die PolizistInnen antworteten mit CS-Gas. Anfang letzter Woche tobten ebenfalls republikanische Kids in Nordbelfast durch ein protestantisches Wohnquartier und riefen: «Hoch die IRA!» Ende der Woche wiederum warfen katholische Jugendliche Pflastersteine und Flaschen gegen eine Gedenkstätte der radikal-protestantischen Appren­tice Boys. Nun wird dort der Sicherheitszaun erhöht. Laut Polizeiberichten verstärken zudem dissidente republikanische Organisationen, die den Waffenstillstand der IRA nie wirklich mitgetragen haben, ihre Rekrutierungsbemühungen - mit gewissem Erfolg.

Doch die Konflikte mit frustrierten Jugendlichen aus den katholischen Armutsquartieren sind kleine Scharmützel im Vergleich zu den Problemen, die die immer noch vorwiegend protestantische Polizei mit den probritischen Paramilitärs hat. Vor allem die Ulster Defence Association (UDA), mit rund 20 000 Mitgliedern der grösste loyalistische Verband, liefert den PolizistInnen fast regelmässig grössere Strassenschlachten. Vor drei Wochen schoss ein UDA-Mitglied bei Auseinandersetzungen im protestantischen Carrickfergus einen Polizisten in den Rücken; und vor zwei Wochen prügelten sich Loyalisten in Craigavon sowie der ebenfalls vorwiegend protestantischen Stadt Bangor stundenlang mit Polizisten.

Diese Unruhen, über die ausserhalb von Nordirland nur selten berichtet wird, haben viele Gründe: Seit rund einem Jahr herrscht Krieg zwischen zwei UDA-Flügeln um Einfluss und Einkünfte aus Drogenhandel, Prostitution und Schutzgelderpressung. Zudem ist vielen in den protestantischen Arbeitervierteln der plötzliche Friedenskurs der Democratic Unionist Party (DUP) des heutigen Ersten Ministers Ian Paisley nicht geheuer. Und drittens glauben sich die Paramilitärs immer noch von den Geheimdiensten gedeckt, die sie jahrzehntelang ausgerüstet und angeleitet haben. Dass die Polizei im Bemühen, ein unparteiliches staatliches Organ zu werden, deren Handlungen nun ebenfalls kontrollieren will, sorgt für Irritationen. Ausserdem sind sie immer noch bewaffnet: Bisher pochen weder die britische Regierung noch die protes­tantisch-unionistischen Parteien Nord­irlands auf die Entwaffnung der Paramilitärs. Schliesslich waren das ja mal ihre «guten Jungs» gewesen - trotz der von ihnen begangenen Morde und Massaker.

Viel Medienbeachtung fand dafür der «Abzug» der britischen Truppen aus Nordirland. Ende Juli endete die «Operation Banner», die mit 38 Jahren Dauer längste «Mission» des britischen Militärs. Seit 1969, als eine hilflose Labourregierung die Armee nach Nordirland schickte, waren dort bis zu 28 000 Soldaten im Einsatz. Insgesamt verrichteten etwa 300 000 Armeeangehörige in den rund hundert Kasernen einen Dienst, der - wie ein ehemaliger Soldat später in einem Roman schrieb - «uns verhasst machte», weil «wir wie die Gestapo agierten» und «morgens um drei Uhr Türen eintraten». Über 700 Soldaten starben in dieser Zeit; mehr als 300 Personen wurden von den britischen Streitkräften getötet, rund die Hälfte davon ZivilistInnen, die mit den Paramilitärs nichts zu tun hatten.

Der Einsatz hat sich aus britischer Sicht gelohnt - die Armee besann sich allmählich auf ihre Erfahrungen aus früheren Kolonialkriegen; sie lernte wie der Gegner zu denken und kontrollierte bald auch dessen Strukturen. Die IRA, das weiss man inzwischen, war seit spätestens Anfang der achtziger Jahre von Spitzeln durchsetzt.

Verschwunden ist die Armee jedoch nicht. Sie hat ihrem Einsatz lediglich einen neuen Namen gegeben: Operation Helvetic heisst die Mission nun bemerkenswerterweise - vielleicht in Anlehnung an die 1762 im aargauischen Schinznach gegründete überkonfessionelle Helvetische Gesellschaft, die für Aufklärung und Toleranz eintrat, vielleicht aber auch als Erinnerung an die «Helvetische Republik» von 1798, die ebenfalls eine Republik von fremden Gnaden war. Zwar hat das Militär die Wachttürme an der inneririschen Grenze geschleift, doch von den zuletzt 5600 in Nordirland stationierten Soldaten bleiben 5000 weiterhin in der Provinz. Sie trainieren dort für den Einsatz im Irak und in Afghanistan - und können jederzeit von der nordirischen Polizei zu Hilfe gerufen werden.

Sollte es zu einem erneuten Einsatz der Truppe in Nordirland kommen, kann sie - wie BürgerrechtlerInnen kritisieren - auf weitgehende Befugnisse zurückgreifen. Anders als in Britannien dürfen Armee und Polizei dann jedeN anhalten und befragen; wer den Soldaten den Namen nicht nennt, riskiert eine Geldstrafe von bis zu 12 000 Franken - und wird womöglich in das neue Hauptquartier des britischen Inlandgeheimdienstes geschleift, das derzeit am Rand von Belfast gebaut wird. Es ist das grösste MI5-Gebäude ausserhalb Londons.

Die Operation Banner sei «einer der erfolgreichsten Einsätze einer entwickelten Nation gegen irreguläre Kräfte» gewesen, sagte der ehemalige britische Oberkommandierende Michael Jackson. Dem widersprechen auch ehemalige Gegner nicht. So sagt etwa Tommy McKearney, der als IRA-Mitglied im Untergrund kämpfte, vom britischen Geheimdienst gefoltert wurde und viele Jahre im Gefängnis sass: «In Nordirland spielt die nationale Frage keine Rolle mehr.» Jetzt gehe es hier wie in andern kapitalistischen Gesellschaften, «vor allem um soziale Ausein­andersetzungen, um den Konflikt zwischen Reich und Arm». Die Immobilienpreise steigen, der Wohlstand nimmt zu, «nur unten herrscht immer noch das blanke Elend».

Bernadette Devlin McAliskey, die sich seit den sechziger Jahren für Bürgerrechte einsetzt, ist derselben Meinung. «Es gibt zwei Friedensprozesse», sagt sie - «der eine oben, gesteuert von den Briten, die alle ihrer Meinung nach relevanten Kräfte zu Verhandlungen zwangen, und der Friedensprozess unten, der zwischen den Gemeinschaften.» Für den aber habe sich London bisher kaum interessiert.

Der Gegensatz, sagt McAliskey, sei so gross wie eh und je - und nicht einmal die vielen osteuropäischen Immigrant­Innen würden davon verschont. «Die Gesellschaft presst sie in ihre Wahrnehmungsform und behandelt sie entsprechend», sagt die Sozialarbeiterin. «Die Polen sind wie die Iren etwas kleinwüchsiger, also gelten sie als Katholiken. Die etwas grösseren Litauer hingegen gehen als Protestanten durch - und bekommen die besseren Jobs.» Dass die LitauerInnen ebenfalls katholisch sind, interessiert dabei niemanden. «Solange man selbst Ausländer in Gut und Böse sortiert, ist der Friedensprozess noch nicht weit gediehen.»

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 16. August 2007


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