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Nordirland: Neue Gefahr für den Friedensprozess

Nach dem Mord an Denis Donaldson, dem ehemaligen Büroleiter von Sinn Fein, stellen sich viele Fragen

Am 4. April 2006 wurde bekannt, dass Denis Donaldson, der ehemalige Büroleiter von Sinn Fein im Regionalparlament, der im Dezember als britischer Agent enttarnt und aus der Partei ausgeschlossen wurde, tot aufgefunden wurde. Hr. Donaldson war die einzige Person, bei der im Zusammenhang mit dem angeblichen Spionagering der IRA im Regionalparlament im Jahre 2002 belastendes Material gefunden wurde. Dieser angebliche Spionagering führte damals zur Suspendierung der Regionalregierung durch die britische Regierung und damit zur tiefen Krise, in der der nordirische Friedensprozess seither steckt. Der Tod des (oder Mord an) Denis Donaldson fällt nun gerade in die Woche, in der die Diskussion um ein Ende der Suspendierung und die Bildung einer parteiübergreifenden Regionalregierung neu aufgenommen werden sollte. Das gibt zu vielen Fragen und Vermutungen Anlass.
Im Folgenden dokumentieren wir zu dem Vorfall zwei Artikel, darunter einen aus der irischen Zeitung "Daily Ireland" (in einer deutschen Übersetzung).



Neuer Anlauf in Nordirland

Mord an früherem Sinn-Féin-Führungsmitglied und britischem Spion belastet Friedensprozess

Von Mattes Standke, London*

London will heute das Ende der Direktverwaltung von Nordirland einleiten. Doch der Mord an einem britischen Ex-Spion hat erneut Schatten über den Friedensprozess geworfen.

Nach über drei Jahren Londoner Direktverwaltung soll die Unruheprovinz Nordirland ab Mai erneut über begrenzte Autonomie verfügen. Das wollen der britische Premierminister Tony Blair und sein irischer Amtskollege Bertie Ahern heute in einer gemeinsamen Erklärung bekannt geben. So soll die im Oktober 2002 erfolgte Suspendierung des nordirischen Regionalparlaments in wenigen Wochen aufgehoben werden, um die verfeindeten Parteien Nordirlands politisch zusammenzuführen.

Vorgesehen ist, das Parlament vorerst bis zum 24. November tagen zu lassen. Dann spätestens erwarten Blair und Ahern eine Einigung im Friedensprozess, an dessen Ende die vollständige Aufhebung der britischen Direktverwaltung und die Wahl einer nordirischen Autonomieregierung unter Beteiligung pro-britischer und pro-irischer Parteien stünde, sagten Regierungssprecher im Vorfeld. Anderenfalls würde es eine möglicherweise britisch-irische Direktverwaltung geben. Größtes Hindernis im Friedensprozess ist bisher die Weigerung der wichtigsten pro-britischen Partei Democratic Unionist Party (DUP), eine Regierungskoalition mit der radikal pro-irischen Partei Sinn Féin einzugehen. Diese ist die führende Vertreterin der pro-irischen Katholiken und steht in enger Beziehung zur paramilitärischen Irisch Republikanischen Armee (IRA). Die Mehrheit der politischen Vertreter von Katholiken und Protestanten hatte sich im Karfreitags-Friedensabkommen von April 1998 auf ein Ende der Gewalt und eine gemeinsame Autonomieverwaltung Nordirlands unter vorläufigem Fortbestand der Union mit Großbritannien geeinigt. Das Abkommen wurde dann per Referendum von einer Mehrheit der nordirischen Wähler bestätigt.

Überschattet werden die anlaufenden Gespräche von der am Dienstag bekannt gewordenen Ermordung des früheren parlamentarischen Geschäftsführers von Sinn Féin in Belfast, der jahrelang für die britische Seite spioniert hat. Ohne eine vollständige Aufklärung der Tat könne der Friedensprozess jedoch nicht unbeschadet vorangebracht werden, warnte Premierminister Ahern am Mittwoch in Dublin. Die Leiche des 55jährigen Denis Donaldson war nach Polizeiangaben mit Schusswunden in Kopf und Arm in der irischen Grafschaft Donegal entdeckt worden. Dorthin hatte sich Donaldson zurückgezogen, nachdem er im Dezember seine Tätigkeit als Informant des britischen Geheimdienstes gestanden hatte. Spekulationen zu Folge war Donaldson auch in die Spionagevorwürfe seitens britischer Sicherheitsdienste gegen Sinn Féin und die IRA verwickelt, die im Oktober 2002 eine Vertrauenskrise in der Autonomieregierung auslösten und deren bisherige Suspendierung zur Folge hatte. Die IRA, die in der Vergangenheit wiederholt mutmaßliche Informanten foltern und exekutieren ließ, distanzierte e sich noch am Dienstagabend umgehend von der Tat. Seit 2005 hat die IRA ihren Kampf offiziell eingestellt und sich vollständig von ihrem Waffenarsenal getrennt. Sinn Féins Parteichef Gerry Adams schloss jedoch nicht aus, dass Donaldson von IRA-Dissidenten getötet worden sein könnte, die er als »Feinde des Friedensprozesses« bezeichnete.

Unterdessen hat die britische Armee zu Wochenbeginn den letzten ihrer umstrittenen schwer befestigten Wachtürme an der Grenze zur Republik Irland abgebaut. Als symbolische Geste zur Beendigung des seit mehr als drei Jahrzehnten andauernden Nordirland- Konflikts sollen vor allem in der von Katholiken bewohnten nordirischen Grafschaft Armagh noch weitere Posten geschlossen werden, teilte ein britischer Armee-Sprecher mit. Vertreter der katholischen Bevölkerung Armaghs sowie der irischen Regierung in Dublin begrüßten den Schritt. Die Demontage der Militäranlagen sei ein »konkreter Beleg« für die verbesserte Sicherheitslage und Teil der Normalisierung in Nordirland, sagte der irische Außenminister Dermot Ahern. Die Demilitarisierung der Grenzgebiete ist Teil eines umfassenden Rückzugsplans Londons, nach dem bis zum Sommer 2007 fast die Hälfte der in Nordirland stationierten 9000 britischen Soldaten abgezogen und 26 der insgesamt 40 Militärbasen geschlossen werden sollen.

* Aus: Neues Deutschland, 6. April 2006


Die Mörder wollen den Friedensprozess zu Fall bringen

Daily Ireland Leitartikel; Herausgeber: Colin O’Carroll**

Die Wahrheit über den Tod von Denis Donaldson muss erst noch ans Tageslicht kommen, aber zuallererst ist dies eine fürchterliche Tragödie für die Familie Donaldson, die schon ein schweres Kreuz zu tragen hatte, seit die grimmigen Fakten seines geheimen Lebens im Wirbel des "Stormontgate"-Fiaskos enthüllt wurden.

Die IRA hat in einer Stellungnahme erklärt, sie habe nichts mit dem Mord zu tun, Sinn Féin Präsident Gerry Adams hat die Tat vorbehaltlos verurteilt. Die DUP sagte, die Augen würden sich nun auf "Sinn Féin/IRA" richten. Diese Augen, die sich da in diese Richtung bewegen, haben eine Tradition darin, politisches Kapital aus nicht belegten Beschuldigungen zu schlagen - dass sie sich mit nur schlecht verborgener Häme auf diesen Fall stürzen, wundert kaum. Und trotzdem ist es zutiefst beunruhigend, wie dieser Wirbel aus leerem Geschwätz und verdrehten Darstellungen losbricht, bevor überhaupt die Leiche in Glenties offiziell identifiziert wurde. Im Moment weiss keiner, wer Denis Donaldson umgebracht hat, keiner ausser seinem Mörder und dessen Auftraggebern. Aber auch wenn harte Fakten fehlen, haben wir das Recht zu fragen "cui bono"? Wem nützt der Tod eines Mannes, der den irischen Republikanern, für die er offen arbeitete und den britischen Spitzeln, für die er geheim arbeitete, so viel Ärger machte?

Den Friedensprozess in eine nächste lähmende Runde von gegenseitigen Beschuldigungen über solch ein hochpolitisches Verbrechen hineinziehen zu lassen, ist das allerletzte, was die Republikaner derzeit wollen. Die Modalitäten für die Wiederaufnahme der politischen Institutionen in Irlands Norden sind noch nicht festgelegt, aber eine wachsende Dynamik in Richtung des Wiederbelebens der Regionalregierung ist nicht zu leugnen. Hinzu kommt die wachsende Zuversicht über die Chancen von Sinn Féin im Süden, wo die hysterische Ablehnung der Partei als möglicher Koalitionspartner gerade durch leise aber unmissverständliche Töne Stück für Stück zurückgenommen wird. Warum um alles in der Welt sollten die Republikaner in dieser Situation alles aufgeben, nur um eine alte Rechnung zu begleichen? Das heisst nicht, dass nicht die Möglichkeit besteht, dass die Wut und Feindseligkeit eines republikanischen Individuums tief genug war, um diesen Mord zu begehen.

Aber wir sollten auch darüber nachdenken, wie sehr der britische Geheimdienst, der langjährige Auftraggeber des Herrn Donaldson, von seinem Tod profitiert haben könnte. Seit dem Waffenstillstand des IRA (im Jahr 1997) ist die Verlustrate der Paramilitärs - hauptsächlich Loyalisten, muss man dazusagen - die im Sold des britischen Staates standen, erschreckend. Und wie die anderen Agenten vor ihm (die in den letzten Jahren auf ungeklärte Weise ums Leben gekommen sind) nimmt Denis Donaldson seine Geheimnisse mit ins Grab. Wie so oft wurde ein hochkarätiges Verbrechen zu einer Zeit ausgeführt, als gerade eine wichtige politische Initiative anstand - in diesem Fall eine wichtige gemeinsame Ankündigung von Bertie Ahern und Tony Blair am Donnerstag in Armagh , wie der Stillstand im Friedensprozess überwunden werden kann.

Die Gegner des Friedensprozesses im britischen Sicherheitsapparat, (die 2002 bereits die Regionalregierung zu Fall brachten und ) die Fortschritt im Friedensprozess verhindern wollen, werden sich freuen.

** Aus: Daily Ireland, 5. April 2006

Übersetzung: Uschi Grandel (www.info-nordirland.de
(Erläuterungen der Übersetzerin in Klammern)



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