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Abgehängt

In Nordirland eskaliert der Flaggenstreit. Britisch-protestantische Unterschicht sieht sich als Verlierer im Friedensprozeß

Von Florian Osuch *

Gestern zierte erstmalig seit dem im Nordirland entbrannten Flaggenstreit wieder die britische Fahne das Rathaus von Belfast. Anlaß ist der 31. Geburtstag von Kate Middleton, Herzogin von Cambridge und Gattin des englischen Prinzen William. Dies konnte jedoch nicht verhindern, daß es in der sechsten Nacht in Folge zu Ausschreitungen kam. Im mehrheitlich von britischen Protestanten bewohnten Ostbelfast lieferten sich vor allem Jugendliche Krawalle mit der Polizei. Britische Flaggen schwenkende Anwohner blockierten eine zentrale Brücke, später am Abend wurden Steine und Benzinbomben auf Sicherheitskräfte geworfen.

Seit nunmehr fünf Wochen kommt es im Norden Irlands fast jeden Tag zu Protesten. Probritisch eingestellte Einwohner der Provinz kritisieren die Entscheidung des Stadtparlaments von Belfast, den Union Jack nur noch an bestimmten Tagen über dem Rathaus wehen zu lassen und nicht wie bisher das ganze Jahr über. Diese Praxis würde die britische Identität bedrohen, heißt es, obwohl das nordirische Parlament in Stormont ein ganz ähnliches Verfahren praktiziert. Die Entscheidung war ein Kompromiß. Während die irische Linkspartei Sinn Féin am liebsten ganz auf das verhaßte Banner verzichtet hätte, wollten die britischen Parteien am Status quo festhalten. Die Einigung kam nur zustande, weil die kleine liberale Alliance Party für den Kompromiß votierte. Daraufhin entlud sich zunächst der Zorn gegen Einrichtungen dieser überkonfessionellen Partei. Büros wurden verwüstet und Abgeordnete mit dem Tode bedroht. Insgesamt wurden in den vergangenen Wochen rund hundert Randalierer festgenommen, 60 Polizisten verletzt.

Jeden Samstag zogen regelmäßig bis zu 20000 Menschen vor das Belfaster Rathaus, um für die Dauerbeflaggung zu demonstrieren. Gewerbetreibende sprachen bereits von Umsatzrückgängen durch die teilweise unfriedlich verlaufenden Veranstaltungen und die polizeilichen Maßnahmen. Der britische Industrieverband warnte vor dem Fernbleiben von Investoren.

Am vergangenen Sonnabend eskalierte die Situation, als die Demonstranten auf dem Nachhauseweg nach Ostbelfast eine kleine irischen Enklave passierten. In Short Strand leben hinter hohen Mauern geschützt rund 3000 Katholiken, umringt von rund 60000 britischen Protestanten. Obwohl zahlreiche hochauflösende Kameras die Gegend um das Viertel inzwischen überwachen, wird Short Strand regelmäßig attackiert.

Die etablierte Politik reagiert weitgehend hilflos auf die allabendlichen Ausschreitungen, bei denen auch Schüsse auf die Sicherheitskräfte abgefeuert wurden. Parteiübergreifend wird die Randale verurteilt. Dies macht jedoch ein Problem deutlich: Teile der protestantisch geprägten Arbeiterklasse sowie ihre abgehängte Unterschicht fühlt sich offenbar von der Mehrparteienkoalition, die die Provinz mit Umsetzung des nordirischen Friedensabkommen von 1998 regiert, nicht vertreten.

Die zwei dominierenden probritischen Parteien kommen aus dem bürgerlich-konservativen Lager. Eine Ausnahme bildet die kleine Unionist Party, die jedoch in Stormont, dem Sitz des Parlaments, nicht vertreten ist. Die PUP bewegt sich in einem Spannungsfeld, da sie einerseits der paramilitärischen »Ulster Volunteer Force« nahesteht und andererseits sozialdemokratische Positionen vertritt. PUP-Vorsitzender Billy Hutchinson, der wegen Mordes an zwei katholischen Arbeitern eine langjährige Haftstrafe verbüßte, wird für seinen starken Bezug auf die Arbeiterklasse und atheistische Positionen von anderen radikalen Loyalisten heftig kritisiert.

Sinn Féin versucht seit längerem, in den britisch-protestantischen Arbeitervierteln in Belfast Fuß zu fassen, doch die Ablehnung der irische Partei ist weiterhin hoch. Viele Deklassierten fühlen sich ohnehin als Verlierer des Friedensprozesses. Seitdem die jährlichen Milliardensubventionen aus London für die Unruheprovinz abgebaut wurden, halten Leerstand und Arbeitslosigkeit vermehrt auch in den britisch bewohnten Vierteln Einzug. Zwar haben noch immer weniger Katholiken einen Job als umgekehrt, doch der Trend ist eindeutig. Die demographische Entwicklung spricht ebenso für die Iren. Nach einer Volkszählung aus dem Jahr 2011 haben 41 Prozent der Nordiren einen katholischen und 41,8 Prozent einen protestantischen Hintergrund. Formal eine Mehrheit – doch von einem »Protestant State For Protestan People«, wie es bei der Teilung Irlands hieß, kann keine Rede mehr sein

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 10. Januar 2013


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