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Kurze Freiheit

Nordirland: Richter läßt sechs Festgenommene auf freien Fuß – Polizei setzt sich über den Beschluß hinweg

Von Jürgen Schneider *

Seltsames tut sich im Zusammenhang mit den Ermittlungen in Sachen der jüngsten Anschläge in Nordirland. Das betrifft insbesondere den polizeilichen Umgang mit dem 42jährigen Colin Duffy, dem Ende vergangener Woche vorgeworfen wurde, für den tödlichen Angriff auf zwei Soldaten am 7. März verantwortlich zu sein. Zuvor war bereits ein 17jähriger wegen Mordes an dem Polizisten Stephen Carroll am 9. März angeklagt worden – ebenso wie nun auch Brendan McConville. Der 37jährige McConville war von 1993 bis 1997 für Sinn-Féin-Stadtrat von Craigavon. Danach trat er aus der Partei aus, weil er mit deren im Rahmen des nordirischen Friedensprozesses gemachten Zugeständnissen nicht einverstanden war.

Keinerlei Beweis

Unterdessen mußten sechs weitere Festgenommene zunächst auf freien Fuß gesetzt werden. Sie hatten wegen der Fortdauer ihres Gewahrsams Beschwerde eingelegt, und der Belfaster High Court hatte dieser stattgegeben. In dem richterlichen Beschluß dazu heißt es, daß die Verhöre der Verhafteten ebenso abgeschlossen seien wie die meisten forensischen Untersuchungen und Analysen. Dabei habe sich keinerlei Beweis ergeben, der auf eine Beteiligung der Beschuldigten an der Erschießung von zwei britischen Soldaten vor der Massareene-Kaserne in der Grafschaft Antrim oder des Polizisten Stephen Carroll in Craigavon hinweisen würde.

Nach dem Richterspruch wurden alle sechs Festgenommenen auf freien Fuß gesetzt, Colin Duffy jedoch – der einzige, dessen Name nicht anonym blieb – wurde vom Police Service of Northern Ireland (PSNI) sofort wieder festgenommen. Duffy hatte 2007 Sinn Féin den Rücken gekehrt, weil er mit der Entscheidung der Partei, die nordirische Polizei als Instanz zu akzeptieren, nicht einverstanden war.

Als Mitglied der sozialistischen Organisation éirígí hatte er zudem gegen die unter den britischen Antiterrorgesetzen geplante Ausweitung der Gewahrsamsdauer auf 42 Tage, ohne daß Anklage erhoben werden muß, protestiert. Seit 1990 hatte die nordirische Polizei, die damals nach Royal Ulster Constabulary (RUC) hieß, wiederholt versucht, Colin Duffy etwas anzuhängen. 1990 wurde er beschuldigt, im Besitz von zehn Patronen gewesen zu sein. Als er gegen Kaution freigelassen wurde und das Polizeirevier gemeinsam mit zwei weiteren Beschuldigten verließ, eröffneten Mitglieder der loyalistischen Terrorgang Ulster Volunteer Force das Feuer auf die drei. Duffy überlebte den Mordanschlag, sein Mitbeschuldigter Sean Marshall wurde getötet.

1996 wurde Duffy nach drei Jahren Haft von einem Berufungsgericht freigesprochen. Er war wegen des Mordes an einem Exsoldaten verurteilt worden. Das Urteil wurde verworfen, weil der maßgebliche Belastungszeuge sich als Mitglied einer loyalistischen Terrororganisation erwies. 1997 wurde Duffy wegen des Vorwurfes, er habe zwei RUC-Polizisten erschossen, drei Monate lange inhaftiert. Der Vorwurf erwies sich als völlig haltlos. Duffys damalige Rechtsanwältin Rosemary Nelson wurde von einem loyalistischen Killerkommando ermordet.

Baldiges Treffen?

Unter der Überschrift »Leiden unter staatlicher Unterdrückung« berichtete Sinn Féins Zentralorgan An Phoblacht/Republican News am 18. Dezember 1997 über den täglichen Terror, dem Colin Duffy an seinem Wohnort Lurgan ausgesetzt war. Klickt man heute die Website von Sinn Féin an, findet sich zu dem Vorgehen der nordirischen Polizei gegenüber Colin Duffy kein Wort, sondern nur der Hinweis, man werde auf ein baldiges Treffen mit dem PSNI drängen, um über den Polizeigewahrsam in Antrim zu reden, der offenbar nicht dem höchsten Standard der Menschenrechte entspreche.

Zu den aktuellen Anschlägen hatten sich mit der »Real IRA« und der »Continuity IRA« zwei Organisationen bekannt, die sich von der Irisch Republikanischen Armee (IRA) nach der Waffenruhe von 1997 abgespalten hatten.

* Aus: junge Welt, 30. März 2009


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