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Die Stadt des Optimismus

Die Morde an drei Sicherheitskräften in Nordirland stellen den Friedensprozess in Belfast und im ganzen Land auf die Probe

Von Thomas Hinrichsen, Belfast *

Belfast war während des Bürgerkriegs in No-Go-Areas unterteilt. Die einen waren tabu für die Republikaner, die anderen für die Loyalisten. Seit dem Karfreitagsabkommen 1998 blühte die Stadt auf. Nun steht der Friedensprozess durch die Ermordung zweier britischen Soldaten und eines Polizisten durch IRA-Splittergruppen auf dem Prüfstand.

»Wir liegen in der Rangordnung der Markthallen in Großbritannien ganz vorn und wollen diese Position ausbauen.« Eugene Brady, Leiter des in frischem Glanz strahlenden Belfaster St. George's Market, stellt dies mit einer Mischung aus stolzem Optimismus und Sinn für Humor fest, die für viele Menschen in Belfast typisch geworden ist. Während des Krieges, verharmlosend »troubles« genannt, führte der Markt eine Nischenexistenz, als Kaufhalle für arme Leute, in einem unrenovierten historischen Bau. Die gesamte Gegend ringsum, die Ormeau Road entlang zu den Markets, kam herunter. Die Kieze waren segmentiert: republikanische Festungen Naht an Naht mit loyalistischen Hochburgen, sektiererische Morde waren an der Tagesordnung.

Belfasts Rückkehr zur Normalität

Davon ist nichts mehr zu bemerken. Menschen spielen mit ihren Kindern, toben mit Hunden, die Befangenheit ist fort. Neubauten, Grünanlagen, für Events hergerichtete Altbauten, Hotels am Fluss Lagan zeugen von Normalität und moderner Stadtentwicklung. Aggressive Wandparolen fehlen. Die Tradition der »murals« wird aber fortgesetzt: Ein als Projekt der »community arts« entstandenes Wandgemälde erzählt die Geschichte der Markets. Kiezidentität wird gefördert.

Eugene Brady sieht im St. George's Market die »Perle der Gegend«. In der lichten Halle herrscht reges Treiben. Die Hauptmärkte finden Freitag und Sonnabend statt, der Sonntag bietet ausbaufähiges Potenzial. Freitags kommen Ältere, sonnabends zum »Bauernmarkt« Familien mit Kindern, die sich für die zahlreichen Ökoprodukte interessieren. Immer dabei sind opulente Stände mit frischem Fisch, deren Angebot sich mit dem französischer Märkte messen kann. »Es kommen immer noch die einfachen Leute aus der Umgebung, aber es hat sich durch den Wiederaufbau eine neue Mittelschicht etabliert, Touristen reisen mit Bussen an. Wir brauchen hier mehr Parkplätze«, fasst Eugene Brady zusammen. Er selbst stammt aus einer Markthändlerfamilie und hat »liebend gern« die Leitung von St. George's übernommen.

Nicht nur das Marktgeschehen hat sich gewandelt. Frühere Erzfeinde, ein britischer Unionist und ein irischer Republikaner, reden inzwischen vertraulich miteinander. »Ich unterstütze das Karfreitagsabkommen von 1997 hundertprozentig«, sagt Brady. »Es war der einzige Weg zu Frieden und Fortschritt. Sinn Féin und die IRA haben damals festgestellt, dass die Mehrheit der Bevölkerung den Krieg nicht mehr will. Jetzt haben wir soziale Gerechtigkeit in die Wege geleitet. Wir haben unser eigenes lokales Parlament. Natürlich war es komisch, dass Sinn Féin sogar mit Ian Paisley als Ministerpräsidenten und nun mit Peter Robinson in der Regierung sitzt. Aber wir lernen alle dazu.

Sinn Féin und auch die Unionisten machen einen guten Job.«

Peter Robinson (Demokratische Unionistische Partei) kommt auch als Ministerpräsident häufig ins Herz der loyalistischen Shankill, das durch eine Friedenslinie vom republikanischen Nachbarviertel Falls getrennt ist. Das dortige Büro seiner Partei nennt sich »Advice Centre« (Beratungszentrum). Dieses Konzept der Bürgerberatung haben die Unionisten von Sinn Féin übernommen.

Zu Beginn der 80er Jahre, als die britische Besatzung und die Gewalt sich verfestigten, gaben sich die irischen Republikaner ein sozialistisches Programm, griffen durch Bürgerberatung alle Belange der bedrängten katholischen Bevölkerung auf und erzielten grandiose Wahlerfolge durch die Doppelstrategie »Wahlurne und Maschinenpistole«.

Erfolgreiche Politik der Bürgernähe

Die Unionisten kopierten dieses Prinzip der Beratung. Ergebnis heute: Nordirland, mit einer Bevölkerung unter zwei Millionen Menschen, hat europaweit das bürgernahste politische System. Die Großbritannien gegenüber loyalistische Bevölkerung der Shankill, deutlich erkennbar an im Überfluss gehissten »Union Jacks«, steht mehrheitlich hinter dem Friedensprozess. Die gemeinsame Regierung von irischen Republikanern und Demokratischen Unionisten, dazu im Parlament die Liberalen (Alliance) und Sozialdemokraten (SDLP), wird Normalität.

Wichtigen Anteil daran hat der Belfaster Stadtrat, der unter Mitwirkung aller Parteien ein »Komitee für gute Beziehungen« eingerichtet hat. Ziel dieser überparteilichen Einrichtung ist es, dauerhafte nachbarschaftliche Beziehungen zwischen den Angehörigen der irischen und der britischen Traditionen, den katholischen und protestantischen Gemeinschaften zu schaffen. Anne Deaghan führt die Grundanliegen aus: »Wir setzen feste Regeln, nach denen wir Geld für soziale und kulturelle Zwecke vergeben. Zum Oranientag am 12. Juli, an dem traditionell Freudenfeuer entfacht werden, gilt: Das findet erst im Juli statt, Reifen dürfen nicht angezündet werden, paramilitärische Demonstrationen sind untersagt. Im Gegenzug verzichten Katholiken zu den Karnevalsparaden am St. Patrick's Day darauf, irische Trikoloren zu zeigen. St. Patrick kam ja als Christ nach Irland, das verbindet hier doch die Glaubensgemeinschaften, wenn sie politische Erwartungen herauslassen. Neuerdings bemühen wir uns, mit der wachsenden muslimischen Gemeinschaft einen geeigneten Ort für einen islamischen Friedhof zu finden. Da unsere Wirtschaft immer noch boomt, ziehen wir viele Wanderarbeiter an. Hier wollen wir einen gerechten Mindestlohn durchsetzen.«

Schwarzafrikaner am Zapfhahn von Kelly's

Nicht jeder Wanderarbeiter hat es so gut wie »The Mingo« Peter. Als erster Schwarzafrikaner steht er als Barmann am Zapfhahn von Kelly's, dem Belfaster Pub mit legendärer Tradition, und kommandiert von dort in perfektem nordirischen Englisch den Touristenstrom. Billy Dunlop (86) und Doreen Corcoran (79) freuen sich darüber. Billy war Anfang der Siebziger Streikführer der Postgewerkschaft, ist heute ehrenamtlich Präsident der Ulster Archäologischen Gesellschaft. Doreen unterstützt die Linen Hall Library, die gegenüber dem Rathaus liegt und einen weltweit führenden Bestand an irischer Literatur beherbergt. Normalerweise gehen sie mittags immer in den »John Hewitt's Pub«. Nicht nur wegen der guten Speisekarte und des brandenburgischen Dunkelbieres »Märkischer Landmann«, das dort läuft wie Guinness, sondern weil sie den aus protestantischer Tradition stammenden Poeten John Hewitt noch Pfeife rauchend erlebt haben.

Hewitt war ein unermüdlicher Verfechter einer eigenen Identität der Menschen in Ulster, also Nordirland, einer Versöhnung unterschiedlicher Traditionen. Sein literarisches Vermächtnis wird durch kulturelle Veranstaltungen im John Hewitt's fortgeführt. Im City Centre und im Queen's Quarter, benannt nach der Queen's University of Belfast, entwickelt sich eine junge, weltoffene Szene. Ein Schwulen-Club gehört dazu.

Es ist nicht erstaunlich, dass angesichts dieser Entwicklungen die jüngsten Anschläge sektiererischer Splittergruppen auf Abscheu stoßen. Die absolute Mehrheit will nicht zurück in die Zeit schrecklicher Gewalt. Sowohl die links stehenden Republikaner wie die eher rechten Unionisten ziehen hier an einem Strang.

Jim Neeson (69), jahrzehntelang Geschäftsführer der Kooperative »Black Taxis«, die in den Siebzigern den zusammenbrechenden öffentlichen Nahverkehr ersetzte, verurteilt die Provokationen rückwärtsgewandter Splittergruppen wie der »Wahren IRA«. Unter den 3500 Toten, die der Krieg in Nordirland gekostet hat, beklagt er sieben seiner Taxifahrer. Sein Sohn wäre fast gestorben, als ihn eine Einheit der IRA auf der Falls Road mit einem unliebsamen Gegner verwechselte und in den Kopf schoss. Neeson wurde auf dem Höhepunkt des Krieges sogar Mitgliedschaft in der IRA unterstellt, er stand unter Mordanklage und wurde freigesprochen. Aufgrund loyalistischer Morddrohungen trug er eine kugelsichere Weste. »Jetzt bewege ich mich hier in gewissen Grenzen frei und erneuere frühere Bekanntschaften.« Er genießt einen aktiven Lebensabend mit seiner Frau, ist stolz auf die Errungenschaften der irischen Republikaner und wünscht seinen Kindern und Enkeln eine friedliche Zukunft. »Wenn das hier so weiter geht, werde ich richtig stolz auf Belfast.«

* Aus: Neues Deutschland, 19. März 2009


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