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Nordirland: Klare Mehrheit für Friedensprozess

Gerry Adams, Vorsitzender der irischen Partei Sinn Féin, zur Situation nach den jüngsten Wahlen

Im Folgenden dokumentieren wir ein sehr aufschlussreiches Interview mit dem Sinn-Fein-Vorsitzenden Gerry Adams. Dessen Partei war aus den letzten Wahlen gestärkt hervorgegangen. Noch stärker konnte aber die rechtskonservative Partei DUP zulegen, die am liebsten sogar das Karfreitagsabkommen ad acta legen möchte. Aus diesem Grund waren die Kommentare zur Wahl im November 2003 im allgemeinen sehr skeptisch ausgefallen. Gerry Adams verbreitet wieder etwas mehr Optimismus.
Das Interview haben wir dem "Neuen Deutscland" entnommen.



Gemäß dem Karfreitagsabkommen von 1998 soll Nordirland von einer Mehrparteienregierung geführt werden. Der Erste Minister wird von der stärksten Partei im Lager der pro-britischen Unionisten gestellt, sein Stellvertreter von der stärksten Partei aufseiten der pro-irischen Nationalisten. Amtsinhaber waren bisher David Trimble von der Ulster Unionist Party (UUP) und Mark Durkan von der Social Democratic and Labour Party (SDLP). Bei den Wahlen im November 2003 setzten sich jedoch erstmals die Democratic Unionist Party (DUP) und Sinn Féin als stärkste Parteien ihrer jeweiligen Lager durch. Die DUP lehnt den Friedensprozess mehrheitlich ab und will mit dem vermeintlichen katholischen Erzfeind nicht über eine Regierungsbildung sprechen. Nordirland wird deshalb weiterhin von London aus regiert.
Unser Interviewpartner Gerry Adams ist Vorsitzender von Sinn Féin (Wir selbst). Mit ihm sprach für ND Aljoscha Kertesz.

ND: Sinn Féin ist stärkste Partei des irisch-nationalistischen Lagers geworden. Wie erklären Sie sich dieses Ergebnis?

Adams: Sinn Féin hat die Wähler um die Unterstützung unserer Friedensstrategie gebeten. Wir baten sie, unsere Vision eines vereinigten und unabhängigen Irlands zu teilen – eines Irlands der Gleichberechtigten. Wir traten dafür ein, Zusammenarbeit an die Stelle der Konfrontation zu setzen. Unser Mandat wurde erneuert und gestärkt. Sinn Féin ging aus der Wahl mit der zweithöchsten Stimmenzahl hervor. Das Ergebnis bestätigte unsere Position als größte irisch-nationalistische Partei im Norden Irlands und als drittgrößte Partei der Insel. Ich glaube, wir haben dieses Ergebnis erreicht, weil irische Republikaner, irische Nationalisten und einige pro-britische Unionisten unsere Partei als besten Garanten für die Durchsetzung des Karfreitagsabkommens und des Friedensprozesses ansehen. Sie glauben wie wir, dass die Zukunft dieser Insel in einem vereinigten und unabhängigen Staat liegt.

Besonders populär scheint Sinn Féin unter jungen Wählern zu sein.

Junge Leute in Irland haben die abgestandene und sterile Politik der etablierten Parteien satt. Sie wollen Veränderung und haben größere Erwartungen an das Leben als ihre Eltern oder Großeltern. Junge Menschen glauben, dass Sinn Féin die Partei ist, die ihre Ansichten und Meinungen über nationale und internationale Belange am besten vertritt.

Sinn Féin hat während der letzten Monate intensive Gespräche mit der UUP geführt, um das Regionalparlament wieder einzusetzen. Jetzt ist aber die DUP die stärkste pro-britische Partei. Welchen Unterschied macht das für Sie?

Der Stimmengewinn der DUP ist ein direktes Resultat ihrer Fähigkeit, diejenigen Stimmen einzusammeln, die bei der letzten Wahl an kleinere, gegen das Karfreitagsabkommen agitierende Parteien gegangen waren. Über 70 Prozent der Wähler stimmten aber für Kandidaten, die das Friedensabkommen unterstützen. Die Konsequenz ist, dass die Front nun zwischen denen verläuft, die den Friedensprozess unterstützen und Veränderungen vorantreiben wollen – egal ob es sich dabei um pro-britische Unionisten, irische Republikaner oder irische Nationalisten handelt –, und denjenigen, die die Uhr zurückdrehen wollen. Sinn Féins Schwerpunkt ist die Bildung einer Achse der Befürworter des Abkommens. Wesentlich ist der Dialog zwischen Sinn Féin und der pro-britischen UUP, die das Abkommen unterstützt. In diesen Gesprächen wurden in den letzten Monaten bedeutende Fortschritte erzielt. Wir werden sowohl mit der britischen und der irischen Regierung als auch mit den anderen Parteien zusammenarbeiten. Wir erkennen das Mandat all dieser Parteien an und respektieren es – auch das der DUP. Wir sind für Dialog und Engagement. Es ist die DUP, die es ablehnt, mit Sinn Féin zusammenzuarbeiten oder sich in den politischen Institutionen zu engagieren.

Was passiert Ihrer Meinung nach, falls die DUP es ablehnt, mit Sinn Féin über eine Regierungsbildung zu verhandeln? Was ist die Aufgabe der britischen und der irischen Regierung?

Die Menschen haben vor fünf Jahren eindeutig für das Karfreitagsabkommen gestimmt. Diese Haltung hat sich im November bestätigt. Kann die britische Regierung uns unsere Rechte und Ansprüche als Bürger absprechen, weil die DUP eine vorsintflutliche Einstellung vertritt? Es gibt ein kleines Zeitfenster, in dem die britische und die irische Regierung ausloten können, ob die DUP bereit ist, sich konstruktiv am Prozess zu beteiligen. Über einen längeren Zeitraum hinweg ist die Suspendierung der nordirischen Institutionen durch die britische Regierung allerdings nicht tragbar. Was auch immer die DUP macht, die beiden Regierungen tragen eine Verantwortung, der sie nachkommen müssen. Sie müssen die vollständige und gewissenhafte Umsetzung des Karfreitagsabkommens vorantreiben.

Die DUP will über das Karfreitagsabkommen neu verhandeln. Wo sehen Sie Verhandlungsspielraum und welche Teile würde Sie selbst gerne verändern?

Es wird keine neuen Verhandlungen über das Abkommen geben. Seine Grundsätze, Strukturen und Verpflichtungen können und dürfen nicht untergraben werden. Wir sind fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass dieses Abkommen umgesetzt wird und eine neue Ära von Frieden und Gerechtigkeit auf der Insel einzieht. Die DUP will keine erneuten Verhandlungen über das Abkommen, sondern ein völlig neues Abkommen, das die Errungenschaften der letzten Jahre untergräbt. Eine Rückkehr zur Vorherrschaft eines konservativen Unionismus ist jedoch inakzeptabel.

Welche politischen Ziele verfolgen Sie bis zur nächsten Wahl?

Wir werden weiterhin unsere politische Stärke ausbauen, die organisatorische Effizienz entwickeln und für Einheit und Unabhängigkeit Irlands eintreten. Kurzfristig werden wir uns darauf konzentrieren, die beiden Regierungen zu überzeugen, ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Im Juni tritt Sinn Féin im Norden und im Süden Irlands bei der Wahl zum Europäischen Parlament an. Am gleichen Tag nehmen wir an den Kommunalwahlen im Süden Irlands teil. Das ist eine gewaltige Aufgabe, auf die wir uns vorbereiten.

Neuere Umfragen deuten an, dass eine kleine Mehrheit der katholischen Bevölkerung Vertrauen in den Polizeidienst von Nordirland (PSNI) fasst. Wann wird Sinn Féin dem Polizei-Board beitreten?

Bei der Wahl am 26. November gewann Sinn Féin 24 Sitze, die SDLP erhielt 18 Sitze. Ist das nicht eine viel präzisere Aussage über die Einstellung der irisch-nationalen Bevölkerung zur PSNI? Sollten die Ergebnisse einer Wahl zugunsten einer Meinungsumfrage ignoriert werden? Sinn Féin wird dem Polizei-Board beitreten, sobald wir mit voller Überzeugung für die im Abkommen vorgesehenen Visionen einer neuen Polizei eintreten können und sobald wir glauben, dass diese Visionen erreichbar sind. In unseren Verhandlungen mit der britischen Regierung haben wir im Laufe des vergangenen Jahres enorme Fortschritte zum Thema Polizeireform erzielt. Jetzt muss das umgesetzt werden, was die britische Regierung versprochen hat. Erst wenn die Übergabe der Polizeigewalt von London an eine Exekutive im Norden Irlands geklärt ist, wird Sinn Féin in Betracht ziehen, eine Parteikonferenz zu diesem Thema einzuberufen.

Aus: ND, 14. Januar 2004


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