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Brutale Britenherrschaft

Vor 40 Jahren reorganisierte sich in Nordirland die Widerstandsbewegung gegen die seit Jahrhunderten währende englische Besatzung

Von Florian Osuch *

Die Schlagstöcke der britischen Polizei Royal Ulster Constabulary (RUC) hinterließen Prellungen und Platzwunden, als sie am 5. Oktober 1968 auf die Köpfe der Demonstranten in Derry niedergingen. Mehrere Wochen hatte die Bürgerrechtsbewegung Northern Ireland Civil Rights Association (NICRA) sowie lokale Komitees den Marsch der damals in der Minderheit lebenden Iren in der zweitgrößten Stadt Nordirlands vorbereitet. Als ein protestantischer Traditionsverein für den gleichen Tag einen Umzug ankündigte, wurde die Demonstration der NICRA von einem britischen Minister für illegal erklärt. Empört über das Verbot ihrer Veranstaltung versammelten sich die Aktivisten trotzdem in Derry und bekamen die gesamte Härte der britischen Besatzungspolizei zu spüren.

Damit eskalierte in Nordirland der Konflikt um Bürgerrechte und Zivilgesellschaft im spätkolonialen Zweiklassenstaat. Inspiriert durch den US-amerikanischen Bürgerrechtler Martin Luther King schlossen sich Ende der 60er Jahre Menschen mit verschiedenen politischen und weltanschaulichen Ansichten zur NICRA zusammen. In einem ersten Komitee saßen Vertreter liberaler, sozialdemokratischer, kommunistischer, gewerkschaftlicher sowie irisch-republikanischer Organisationen.

Damals nahmen an der Demonstration auch Mitglieder des britischen Parlaments aus Belfast sowie Vertreter der sozialdemokratischen Labour Party aus England teil. Ein Kamerateam des irischen Staatsfernsehens RTÉ war zugegen, und die aufgezeichneten Bilder niedergeknüppelter Bürgerrechtler gingen um die Welt.

Irische Minimalforderung

Die Aktivitäten der NICRA, ihre Forderungen und das brutale Vorgehen der britischen Sicherheitskräfte waren Auslöser für die Revolte der irischen Unterschicht in den Ghettos von Nordirland. Auf die Repression folgten weitere Demonstrationen und die Reorganisation der Irish Republican Army (IRA), die Großbritannien in einen fast 30jährigen Guerillakrieg verwickelte.

NICRA stellte fünf Minimalforderungen auf: 1. Eine Wahlstimme pro Person (One man one vote), 2. die Abschaffung diskriminierender Wahlkreismanipulationen zuungunsten der Arbeiterklasse, 3. Gesetze gegen Diskriminierung durch öffentliche Verwaltungen, 4. die Zuweisung von Sozialwohnungen nach einem Punktesystem sowie 5. die Auflösung der Sonderpolizei »B-Specials«.

Gerade die beiden ersten Forderungen nach einer transparenten und gleichberechtigten Wahlgesetzgebung sollten zur späteren Popularität irisch-republikanischer Organisationen führen. Ende der 60er Jahre war das individuelle Wahlrecht in Nordirland an Haus- oder Grundeigentum geknüpft. Dies hatte zur Folge, daß die britisch-protestantische Mittel- und Oberschicht bei Wahlen mit bis zu zehn Stimmen votierten konnte und die verarmte irisch-katholische Unterschicht mit nur einer Stimme pro Haushalt auskommen mußte. Zudem waren die Grenzen von Wahlkreisen teilweise so diskriminierend gezogen, daß selbst in Städten und Gemeinden mit einer irischen Bevölkerungsmehrheit die Parlamente stets von Vertretern britischer Parteien dominiert waren. So etwa in der 100000 Einwohner zählenden Stadt Derry, in der es einen irischen Großbezirk sowie eine Vielzahl von kleinen Stadtteilen mit britischer Bevölkerung gab, welche stets eine probritische Mehrheit im Stadtrat sicherten.

Die Repression gegen die zivilgesellschaftlichen Kräfte ging mit Überfällen gegen die irische Bevölkerungsminderheit einher. Den Höhepunkt erreichten diese Pogrome im Sommer 1969. Im Anschluß an einen Marsch der protestantischen Apprentice Boys in Derry versuchten diese am 12. August 1969, das irische Viertel Bogside zu stürmen. Die Polizei schritt nicht ein, und die Bewohner verteidigten in einem dreitägigen Battle of the Bogside ihr Leben. Aus dieser Zeit stammt auch das berühmte Wandbild an einem weißen Giebel »You are now entering Free Derry«. Von den Angriffen der Apprentice Boys angeheizt, schwappte eine Welle der Gewalt über Nordirland. Noch während der Battle of the Bogside tobte, wurden in Belfast hunderte Häuser irischer Familien niedergebrannt und deren Bewohner vertrieben. Teilweise wurden ganze Straßen, wie etwa die Bombay Street in West-Belfast in Brand gesteckt. Mehrere Menschen wurden bei den Angriffen getötet und unzählige verletzt.

Die IRA befand sich zu dieser Zeit in einem desolaten Zustand, und die irischen Menschen waren den Pogromen schutzlos ausgesetzt. Die inzwischen nach Nordirland entsandte britische Armee schritt mehrheitlich nicht ein, obwohl die Soldaten von Teilen der irischen Bevölkerung zunächst als Schutzmacht empfangen wurden.

Im Dezember 1969 kam es zu einer Spaltung innerhalb der irisch-republikanischen Bewegung aufgrund des offensichtlichen Versagens während der sommerlichen Attacken. Eine Minderheit schloß sich zur Provisional IRA und wenig später auch zu Provisional Sinn Féin zusammen. Beide traten für eine aktive Verteidigung der irischen Bevölkerung ein. Zu den »Provos« von Sinn Féin gehörte damals auch Gerry Adams, der heutige Vorsitzende der Linkspartei Sinn Féin.

Blutig niedergeschlagen

Während die britische Regierung auf einige wenige Forderungen der NICRA einzugehen versuchte – so wurde etwa die Sonderpolizei B-Special durch das Ulster Defence Regement (UDR) ersetzt –, konnte die provisorische IRA einen starken Zustrom verzeichnen. Sie konzentrierte sich zunächst auf die Verteidigung der irischen Viertel, wobei sich abzeichnete, daß auch die britische Armee ein Repressions- und Besatzungsorgan war. Im Februar 1971 kam es erstmals zu einem schweren Feuergefecht zwischen der IRA und der britischen Armee. Die Regierung in London reagierte erneut mit Härte. Es kam zu Massenverhaftungen und zur Internierung von Hunderten Verdächtigen ohne Gerichtsverfahren. Die IRA war von der Repression nicht betroffen und antwortete mit einer weiteren Bombenkampagne gegen Polizei und Militär.

In dieser eskalierenden Situation mobilisierte die NICRA erneut zu einem Marsch in Derry. Die Demonstration am 30. Januar 1972 endete im Bloody Sunday. Ein britisches Fallschirmjägerregiment eröffnete das Feuer auf die unbewaffneten Demonstranten. Die IRA unter der lokalen Leitung von Martin McGuinness, heute zweiter Vorsitzender von Sinn Féin, hatte sich bewußt zurückgehalten, um keine Krawalle bei dem Bürgerrechtsmarsch zu provozieren. Vierzehn Personen, darunter sieben Jugendliche, starben im Kugelhagel der Soldaten. Der Bloody Sunday brannte sich in das kollektive Gedächtnis der irischen Bevölkerung ein und ließ den Krieg in Nordirland offen aufbrechen.

In diesem Krieg konnte sich die NICRA nicht behaupten; sie zerfiel. Es gründeten sich Parteien, wie die bis heute im Parlament vertretene Social Democratic and Labour Party (SDLP) und die liberale Alliance Party. Ebenso begann der Aufstieg von Sinn Féin, die ihren Stimmenanteil schnell auf zwölf bis 15 Prozent ausbauen konnte. Sie ging gestärkt aus dem Friedensabkommen vom Karfreitag des Jahres 1998 hervor und ist heute die größte irische Partei in Nordirland.

* Aus: junge Welt, 4. Oktober 2008

Nordirland: Gelingt Sinn Féin der Durchbruch?

Heute schweigen die Waffen in Nordirland. Die IRA hat den bewaffneten Kampf für beendet erklärt, die britische Armee hat im Sommer 2007 fast alle Truppen aus Nordirland abgezogen, und die berüchtigte Polizei RUC befindet sich in einem Reformprozeß. Einzig die probritischen Paramilitärs verweigern eine Waffenabgabe. Sie sehen ihre Vormachtsstellung bedroht und beäugen ängstlich, daß ehemalige IRA-Angehörige Ministerämter und Bürgermeisterposten bekleiden. Es gibt einen Friedensprozeß, der maßgeblich von der irisch-republikanischen Bewegung initiiert und vorangetrieben wurde.

Sinn-Féin-Chef Gerry Adams sieht die »Wiedervereinigung Irlands näher als jemals zuvor«. Sollte sich eine Mehrheit der Nordiren per Referendum dafür entscheiden, könnte dies auch tatsächlich gelingen. Anvisiertes Ziel ist der 100. Jahrestag des irischen Osteraufstandes von 1916, bei dem ein freies und sozialistisches Irland proklamiert worden war.

Es bedarf jedoch zweier Voraussetzungen, damit Sinn Féin der politische Durchbruch gelingt und einen allumfassenden gesellschaftlichen Transformationsprozeß auslösen kann. Im Süden Irlands muß die Linkspartei das Potential innerhalb der Arbeiterschicht sowie in ärmeren Landregionen ausschöpfen, die maßgeblich für das irische »Nein« zum Lissabon-Vertrag der Europäischen Union gestimmt hatten. Im Norden muß sich Sinn Féin bemühen, endlich auch von der britisch-protestantischen Unterschicht als politische Vertretung anerkannt zu werden. (junge Welt)




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