Signale aus München
Tagung mit Juden, Israelis, Palästinenser und Deutschen. Tagungsbericht und Abschlusserklärung
Die Tagung am 16. und 17. November stand unter schwierigen Vorzeichen. Als sich rund vierzig Vertreterinnen und Vertreter jüdisch-palästinensischer Dialoggruppen aus Basel, Berlin, Brüssel, Frankfurt am Main, Leipzig, München, Solothurn, Wien und Zürich in München trafen, waren gerade die hiesigen "Palästina-Tage" zu Ende gegangen, die in der Stadt strittige Aufmerksamkeit erregt hatten. Zur gleichen Zeit kamen aus dem Nahen Osten verheerende Nachrichten über die Ermordung von zwölf Israelis in der Nähe von Hebron, die die Regierenden in Jerusalem zu den üblichen Reaktionen veranlassten: Das Militär schlug mit der ihm zu Gebote stehenden Feuerkraft zurück, und Sharon distanzierte sich von dem "Hebron-Protokoll", das sein innerparteilicher Rivale Netanyahu Anfang 1997 unter starkem Druck aus Washington unterzeichnet hatte. Eine weitere Runde des Blutvergießens zeichnete sich ab.
Es war deshalb alles andere denn selbstverständlich, dass sich die Teilnehmer durch diese Vorgänge in ihrem Willen nicht beirren ließen, diese Belastungen zumindest für die Stunden der gemeinsamen Arbeit hinter sich zu lassen und nach ersten Ansätzen eines Leitbildes zu suchen, das die Menschen im Nahen Osten bei der Suche nach Frieden und Koexistenz ermutigt. Dabei untermauerten schon die Berichte aus der Arbeit vor Ort das Misstrauen und die Blockaden aus jüdischen Gemeinden und palästinensischen Vereinen, aber auch die Gefahr des Beifalls von der falschen Seite. Manche der Angereisten mögen sich gefragt haben, wie stark sie daheim aufgrund ihrer Beteiligung an einer internationalen Dialogtagung unter Rechtfertigungsdruck geraten. Würden Probleme wie der Anspruch auf ein Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge und die Forderung nach dem Ende der palästinensischen Selbstmordattentate alle Vorsätze der Zusammenarbeit zum Scheitern bringen und jenen Recht geben, die schon immer zu wissen glauben, dass mit "der anderen Seite" nicht zu reden sei? Welche Rolle würde in den Diskussionen die Neigung zum Missbrauch des Holocaust für die Begründung der aktuellen Politik spielen?
Doch Sorgen und Ängste, die gewöhnlich zur Errichtung von inneren Blockaden führen, können unter dem Druck kritischer Verhältnisse auch neue Kräfte entwickeln, über die eigene Tellerwände zu schauen und das übergeordnete Interesse in den Blick zu nehmen. Genau dies gelang in München, trotz kontroverser Diskussionen und trotz mancher Versuche, den Verlauf der Tagung mit den eigenen Themen zu dominieren. Der auf Vertrauensbildung und Kooperation setzende Diskurs entwickelte sich zu einem Erfahrungsaustausch und einer Programmdebatte, die bei Respektierung der Pluralität politischer Überzeugungen die Energien zu bündeln suchten, um die Zuversicht auf einen bescheidenen Friedensbeitrag nicht untergehen zu lassen. Der Fundus reicht von Mahnwachen und öffentlichkeitswirksamer Lobbyarbeit über Veranstaltungsreihen mit Vorträgen, Filmen, Ausstellungen und Benefizkonzerten bis zur Finanzierung und Unterstützung von israelisch-palästinensischen Langzeitseminaren mit Jugendlichen und Erwachsenen, der Bereitstellung von Medikamenten für Ärzte und Krankenstationen sowie zum stellvertretenden Verkauf von Olivenöl für palästinensische Bauern, die aufgrund der israelischen Blockadepolitik um ihre Absatzmärkte im Ausland gebracht worden sind.
Tastsächlich scheinen sich besonders die Form einer alternativen Solidaritätsarbeit als öffentlich honorierte Sympathieträger zu erweisen. Die auf Aktualität und Quoten bedachten Medien sorgen zwar dafür, dass die Katastrophen umgehend bekannt werden, aber sie tragen kaum zu einem gesicherten politischen Urteil in der Öffentlichkeit bei. Daran ändern auch die unzähligen Talkshows nichts, die die Verwirrung eher fördern. Während es der Politik nicht gelingt, den Gordischen Knoten im Nahen Osten durchzuschlagen, wächst in der Bevölkerung die Bereitschaft zur praktischen Hilfe. Diese Schubkraft gilt es zu nutzen. Dass sie besonders den Palästinensern zugute kommt, verwundert unter den Bedingungen der israelischen Besatzung nicht, vielmehr werden sie von israelischen Friedensgruppen mitgetragen.
Die Signale aus München berechtigen zur Hoffnung. Juden und Palästinenser sowie Israelis und Araber, die im deutschsprachigen Mitteleuropa leben, den Mut besessen, haben den Versuch unternommen, zueinander Vertrauen zu fassen, statt sich voneinander abzugrenzen. Dass dabei nicht alle strittigen Probleme geklärt, ja dass manche sogar bewusst ausgeklammert wurden, muss kein Zeichen der Schwäche bedeuten. Wichtig bleibt freilich, dass sich die zutage tretenden Chancen und Erwartungen nicht in Ideologien erschöpfen, die nach Klarheit statt Einheit rufen, sondern dass sie in eine langfristige Programmplanung übergehen. Alle Beteiligten waren sich darin einig, dass die Menschen im Nahen Osten zur Regelung ihrer Konflikte nach Zeichen der aktiven Verbundenheit und der praktischen Hilfen von außen rufen. Eine erste gemeinsame Plattform ist erstellt. Das nächste Treffen soll im Frühjahr 2003 in Berlin stattfinden.
Reiner Bernstein
Dokumentation:
Schlusserklärung vom 17. November 2002
Auf Initiative der Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe München, die 1985 von Juden aus dem deutschsprachigen Raum und aus Israel sowie von Palästinensern gegründet wurde, trafen sich am 16/17. November in München 2002 Vertreterinnen und Vertreter 13 Gruppen sowie Einzelpersonen aus Deutschland, der Schweiz, Österreich und Belgien mit dem Ziel, sich näher kennenzulernen, Arbeitserfahrungen auszutauschen und gemeinsame Aufgaben abzusprechen.
Sie sind sich darin einig, mit ihren Mitteln zu einer friedlichen Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts beitragen zu wollen. Für das Verhältnis zwischen Israel und den Palästinensern muss eine friedliche Lösung auf der Grundlage der UNO-Resolutionen und des Völkerrechts gefunden werden. Nach unserer Überzeugung müssen die im Völkerrecht vorgesehenen Mittel eingesetzt werden, um die entsprechenden UN-Resolutionen durchzusetzen damit ein gerechter Frieden in folgenden, zeitlich abgestimmten Schritten herbeigeführt wird:
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Beendigung der israelischen Besatzung, Auflösung der nach den Junikrieg 1967 errichteten Siedlungen und Gründung eines souveränen Staates Palästina in der Westbank, im Gasastreifen und in Ost-Jerusalem als Hauptstadt auf der Basis der Grenzen vom 4. Juni 1967;
- Lösung des palästinensischen Flüchtlingsproblems auf der Grundlage der UN-Resolution 194 (III) vom 11. Dezember 1948 sowie bilateraler und multilateraler Vereinbarungen;
- sofortiges Ende der ständigen Menschenrechtsverletzungen und der Strangulierung der Bevölkerung, denen die palästinensische Bevölkerung durch Israel ausgesetzt ist;
- Herstellung der individuellen und kollektiven Ebenbürtigkeit der arabischen Staatsbürger Israels in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur;
- Normalisierung der Beziehungen zwischen den arabischen Staaten und Israel.
Wir verurteilen jede Anwendung von Gewalt und Terror, sei es von Seiten der Staaten, Individuen oder Organisationen gegen Unschuldige. Die palästinensischen Selbstmordattentate sind auf die israelische Politik zurückzuführen.
Wir appellieren an die USA und die Europäische Union, ihr politisches und wirtschaftliches Gewicht stärker als bisher für friedliche und gerechte Lösungen im Nahen Osten einzusetzen. Dazu gehört vor allem der israelisch-palästinensische Konflikt.
Wir unterstützen voll die Aktivitäten von israelischen und palästinensischen Friedensgruppen, die sich für die Zivilgesellschaft einsetzen.
Die in München versammelten Gruppen haben beschlossen, in ständigem Kontakt zu bleiben, um verstärkt ihre Erfahrungen auszuwerten und punktuelle Aktivitäten zu koordinieren.
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