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"Neue Optionen für die friedliche Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts" / "New options for a peaceful solution to the Israeli-Palestinian conflict"

Reiner Bernstein legt ein Buch über die "Genfer Friedensinitiative" von Israelis und Palästinensern vor. Epiloge von Yasser Abed Rabbo und Yossi Beilin / Epilogues by Yasser Abed Rabbo and Yossi Beilin

Buchankündigung:

Reiner Bernstein: „Von Gaza nach Genf. Die Genfer Friedensinitiative von Israelis und Palästinensern.“ Mit einem Vorwort von Ralf Fücks und Epilogen von Yasser Abed Rabbo und Yossi Beilin.
Wochenschau-Verlag, Schwalbach/Ts., Oktober 2005. 182 S., € 19,80. ISBN 3-89974236-2


Mit der israelischen Räumung des Gazastreifens und von vier Siedlungen im Norden der Westbank im August 2005 ergeben sich neue Optionen für die friedliche Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Die Behauptung von der Unumkehrbarkeit der „vollendeten Tatsachen“, welche die israelische Politik nach 1967 in den palästinensischen Gebieten schaffen wollte, gehört der Vergangenheit an. Eine Dynamik beginnt sich abzuzeichnen, die Befürchtungen hinter sich lässt, wonach „Gaza zuerst Gaza zuletzt“ bleiben könnte.

Heute nehmen die detaillierten Regelungsvorschläge der Genfer Initiative vom Dezember 2003, nachdem die anfänglich großen Widerstände überwunden worden sind, in der israelischen und der palästinensischen Öffentlichkeit einen festen Platz ein – der Entwurf für die Zweistaatenlösung entlang der Grenzen vor dem Junikrieg 1967, für die Auflösung der jüdischen Siedlungen in der Westbank, für die Etablierung Jerusalems als Doppelhauptstadt, für die Regelung der palästinensischen Flüchtlingsfrage sowie für bilaterale Sicherheitsvereinbarungen. Die Menschen beginnen zu verstehen, dass weitere Interimsvereinbarungen nur dann von Nutzen sind, wenn sie von der Überzeugung getragen werden, dass die Beendigung des Konflikts von der nationalen Ebenbürtigkeit des palästinensischen Volkes an der Seite des Staates Israel abhängt. Deshalb werden nach dem Abzug aus Gaza politische Verhandlungen unumgänglich, damit der Friedensprozess eine neue Chance erhält.

Dann steht auch die Bedeutung der Religionskulturen auf der Tagesordnung. Wenn es der demokratischen Willensbildung auf beiden Seiten gelingt, sich gegen den Mythos religiös überhöhter nationaler Territorialansprüche durchzusetzen, werden die Lösungsvorschläge der Genfer Initiative eine herausragende Rolle bei den Schlussverhandlungen über den Frieden zwischen den zwei Völkern einnehmen. Das Buch wird durch ein Vorwort von Ralf Fücks, Vorstand der „Heinrich-Böll-Stiftung“, und Epilogen der beiden Hauptakteure der Genfer Initiative, Yasser Abed Rabbo und Yossi Beilin, durch den Text der Genfer Initiative, eine Karte zur künftigen Grenzregelung, die Namen der beteiligten Israelis und Palästinenser, durch ein Literaturverzeichnis sowie ein Namensregister und ein Glossar ergänzt.


From Gaza to Geneva

The Peace Initiative of Israelis and Palestinians

In the summer of 2005, Israelis evacuated the Gaza Strip and four settlements in the northern parts of the West Bank. This recent development provides new options for a peaceful solution to the Israeli-Palestinian conflict. The status that the Israeli policy wanted to create after 1967 in both territories is no longer irreversible.

Reiner Bernstein is engaged in past and present Middle East affairs, especially in the relations between Israel and the Palestinians. His main interest is the evaluation of Israeli-Jewish and Arab-Islamic narratives on political decisions in both societies. In his new book he defends the notion that the hundred-year-old conflict is based on an absolute struggle about history, geography, and religious symbols. Social justice and willingness to work for political peace with the neighbouring people have only recently become understood as more worthy than messianic passions.

At the beginning of the book, the author analyses the failures of the Oslo agreements of 1993/95 and the collapse of the Camp David summit talks in July 2000. Afterwards he discusses the inherent indecisiveness of the “Road Map.” Against this backdrop he addresses in detail the Geneva peace initiative that Israelis und Palestinians presented to the international public in December 2003 under the leadership of Yossi Beilin und Yasser Abed Rabbo. It attracted much international attention all around the world, because this was the first time that members of parliament and of security services, scholars, business people and authors from both sides had drafted a comprehensive peace plan. The Geneva peace intitiative refrains from lengthy interpretations and compromises. Instead it proffers specific regulations for the central problems of the conflict: the two-states solution alongside the “Green Line” of 1967, the removal of the Jewish settlements, the establishment of Jerusalem as capital of both states, the Palestinian refugee problem as well as answers to bilateral security questions.

Despite initial opposition to it, the Geneva Initiative is on its way to being largely accepted by the Israeli and the Palestinian societies as a starting-point for official negotiations to come. Both peoples are beginning to understand that further interim agreements are only useful if carried out on the level of national equality.

Today the Israeli government still seems to insist on the viewpoint of “Gaza first–Gaza last.” Indeed, when negotiations about political and territorial follow-ups start in autumn of 2005, the relevance of the Jewish religious narrative concerning “Judea and Samaria” as the cradle of Jewish history and of “Palestine” as part of the Islamic endowment will appear on the agenda. The drafters of the Geneva Initiative must therefore see to it that new democratic majorities prevail in both societies. Only then can their particular ideas for conflict resolution gain outstanding significance for the political future.

The book is rounded off by the text of the Geneva Initiative, the names of all Israeli and Palestinian partners, a bibliography and a glossary. The foreword was written by the chairman of the “Heinrich Böll Stiftung”, Ralf Fücks, and epilogues by Yasser Abed Rabbo and Yossi Beilin.
Epilog:

Yasser Abed Rabbo: Zeit für Genf

Mehr als vier Jahre lang hat die politische Rechte in Israel unter Führung von Ministerpräsident Ariel Sharon zur Schwächung der Friedenskräfte auf der palästinensischen und israelischen Seite beigetragen. Leider wurde sie dabei von einer uninteressierten US-Administration unterstützt.

In seiner Rede zur Amtseinführung versprach Sharon der israelischen Öffentlichkeit, dem palästinensischen Aufstand in hundert Tagen ein Ende zu setzen. Ich glaube, dass er etwas anderes meinte. Er wollte die Potentiale, die einen Friedensvertrag in der Region erreichen wollen, durch das grundlose Mantra ausschalten, dass es keinen palästinensischen Friedenspartner gebe.

Es war dieses Mantra, ergänzt durch unsere tiefe Verpflichtung, durch Verhandlungen den Konflikt zu beenden, der unser Bemühen bewirkte, die Genfer Initiative vorzustellen. Mit dieser Initiative haben wir ein Blaupause-Modell für einen Schlussvertrag auf der Grundlage zweier Staaten für zwei Völker präsentiert. Seit ihrer Vorstellung ist die Genfer Initiative ein integraler Teil der politischen Debatte in Palästina und in Israel geworden. Die Friedenslager auf beiden Seiten sahen in der Initiative das angemessene Instrument gegen die Behauptung, von Kräften der Dunkelheit auf beiden Seiten erhoben, dass es keinen Partner für den Frieden gebe, und die statt dessen für eine Situation eintraten, in der beide Völker auf ihre gegenseitige Zerstörung zusteuern.

Die Initiative kam darüber hinaus als eine direkte Botschaft – eine gemeinsame palästinensisch-israelische Botschaft – an das Quartett und den Rest der Welt. Sie erklärte, dass Frieden machbar ist und dass die beiden Parteien die Fähigkeit haben, einen Vertrag darüber zu erreichen, wie eine Schlussvereinbarung aussehen kann. Es ist deshalb kein Wunder, dass die Genfer Initiative als das einzige Zeichen der Hoffnung verstanden worden ist, ein Lichtstrahl, der sich durch den Tunnel der Dunkelheit der gewalttätigen und blutigen Kraftprobe bahnt, der die letzten viereinhalb Jahre charakterisierte.

Mehr noch: Es war die Genfer Initiative, die Ministerpräsident Sharon dazu veranlasst hat, seinen unilateralen Abkopplungsplan für den Gazastreifen und die nördlichen Teile der Westbank vorzulegen. Sein Chefberater Dov Weissglas sagte es offen, als er zugab, dass der unilaterale Abkoppelungsplan aus der israelischen Furcht vor einer wachsenden internationalen Unterstützung der Genfer Initiative geboren worden sei. Sharon war nach den Worten von Weissglas in Sorge darüber, dass internationaler Druck auf Israel auf der einen und das wachsende Phänomen der Weigerung von Soldaten, in den besetzten Gebieten Dienst zu tun, auf der anderen Seite zu katastrophalen Ergebnissen für Israel führen werde. Nachdem Israel jetzt den Gazastreifen verlassen hat, stellt sich die Frage: Was nun?

Es ist die Aufgabe all derjenigen, die den Frieden in Israel, in Palästina und in den übrigen Teilen der Welt unterstützen, zusammenarbeiten und sicherzustellen, dass Gaza zuerst niemals Gaza zuletzt wird und dass weitere Schritte unternommen werden, damit ein Schlussvertrag zwischen beiden Parteien erreicht wird. Wir sind fest davon überzeugt, dass der einzige Weg zu einem völligen Erfolg des Rückzugs aus Gaza der ist, der zu einer Zweistaatenlösung entlang der Grenzen von 1967 führt. Jedes andere Arrangement wie ein palästinensischer Staat in vorläufigen Grenzen, wie ihn Sharon vorgeschlagen hat, wird nur zu weiterer Gewalt führen. Er birgt die Zutaten für neuerliche Explosionen und harte Kraftproben zwischen beiden Seiten in sich.

Anders als die Osloer Vereinbarungen, die Schlussvereinbarungen auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, beschreibt die Genfer Initiative die Details eines Endvertrages. Deshalb steht sie in vollem Einklang mit der dritten Phase der Road Map und mit Präsident Bushs Vision einer Zweistaatenlösung. Der Abzug aus Gaza muss der erste Schritt zur Vollendung der Road Map und der Vision von Präsident Bush sein. Der Friede kann in der Region nur durch die Schaffung eines unabhängigen und lebensfähigen palästinensischen Staates in den 67er Grenzen mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt erreicht werden.

In diesem Kontext blicken wir Palästinenser auf den israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen. Er ist ein wesentlicher Schritt, aber ihm müssen weitere wesentliche Schritte folgen. Erst sie schaffen eine Atmosphäre, die der Wiederaufnahme von Endstatusgesprächen förderlich ist. Nur mit Hilfe eines Vertrages können wir den Konflikt beenden, nicht durch einseitige Schritte oder Aktionen, weil diese das Ergebnis jener Gespräche präjudizieren würden. Genau deshalb sind wir Palästinenser energisch gegen Israels Trennungswall in der Westbank und gegen Israels Siedlungspolitik in der Westbank. Der Rückzug aus Gaza muss eine geschichtliche Lektion an die israelischen Siedler bilden. Wie lange auch immer sie in den besetzten Gebieten wohnen: Der D-Day für ihren Abzug wird kommen, ob unilateral wie in Gaza oder durch einen Friedensvertrag, den beide Seiten eines Tages erreichen werden.

Doch bis der Tag kommt, an dem der Endvertrag unterzeichnet wird, haben wir alle Gründe der Erde zu der Sorge, dass der israelische Rückzug aus Gaza nur der Kontrolle Israels über die Westbank dienen soll, während Ost-Jerusalem isoliert und in ein palästinensisches Ghetto verwandelt werden soll, das durch Mauern und Barrieren zerrissen ist. Was Israel nach Gaza tun könnte, ist schlicht, die Westbank in isolierte Bantustans zu zerfetzen, und eine ethnische Säuberung indirekt dadurch zu fördern, dass Hunderttausende Palästinenser gezwungen werden, ihre Häuser zu verlassen, um nach besseren Lebensbedingungen im Ausland Ausschau zu halten, und die Potentiale für die territoriale Einheit eines künftigen palästinensischen Staates zu zerstören. Diese Sorgen dienen weiter als Elemente des Misstrauens und werden mit Sicherheit eine neue Runde der Konfrontation auslösen. Wir alle müssen zusammenarbeiten, um ein solches apokalyptisches Szenario zu verhindern.

Unilateralismus kann niemals einen Konflikt lösen. Er mag bei der Lösung von Teilproblemen erfolgreich sein, aber wenn er es tut, sät er weitere Konflikte in späterer Zeit. Nur bilaterale Verhandlungswege und eine vereinbarte Regelung können den Konflikt beenden. Sie ist möglich. Sie ist machbar und je eher, desto besser für uns alle.

Yasser Abed Rabbo, Mitglied des Exekutivkomitees der PLO, Vorsitzender der „Palestinian Peace Coalition“
Ramallah, im August 2005



Epilog:

Yossi Beilin: Gefragt sind kühne Initiativen

Als sich Ministerpräsident Ariel Sharon im April 2004 auf dem Rückweg von seiner historischen Begegnung mit Präsident Bush befand, gab er William Safire von der „New York Times“ ein Interview. Als er darin die Logik seiner Gaza-Initiative erklärte, teilte Sharon William Safire mit, dass der Grund dafür in der breiten Unterstützung liege, welche die Genfer Initiative erhalte, so dass er das Gefühl gehabt habe, einen eigenen Plan vorzulegen.

Wenn wir Sharon glauben wollen, war Genf für die Geburt Gazas verantwortlich. Sie war ein Weg, die Konfrontation mit dem innenpolitischen Druck zu vermeiden, Genf zu übernehmen. Natürlich ist die Geschichte komplizierter, und ich glaube, dass der Gaza-Einsatz zeitlich geplant und bestimmt war, eine ganze Reihe von Themen zu vermeiden. Aber die Motive sind zweitrangig, vielmehr bildet der Vorgang selbst einen wichtigen Präzedenzfall insofern, als er die Auflösung von Siedlungen einschließt.

Natürlich reicht das nicht aus. Der einseitige Rückzug aus Gaza ist weit von einem Endstatusvertrag zwischen Israel und Palästina entfernt. Die Frage lautet deshalb, wie das Rad weitergedreht werden kann: Bewegen wir uns wieder auf Genf zu, nachdem der Gaza-Einsatz jetzt abgeschlossen ist?

Wir in Israel stehen vor einer öffentlichen und politischen Herausforderung. Doch die internationale Gemeinschaft und besonders die Europäer können eine Menge Unterstützung im Rahmen der EU und als einzelne Mitgliedsstaaten leisten.

Im Rahmen der EU sind die Europäer Mitglied des Quartetts (gemeinsam mit den USA, den Vereinten Nationen und Russland), das die Road Map erarbeitet hat. Trotz aller Rückzieher ist die Road Map das einzige anerkannte Rahmenwerk für künftige Fortschritte zwischen Israel und Palästina und muss deshalb durch eine neue und realistische Zeitleiste aktualisiert werden. Die Europäer sollten auch als Teil der Road Map bei der Zusammenstellung des Überwachungsmechanismus helfen, der dazu ermutigt und sicherstellt, dass sich beide Parteien an sie halten.

Doch die Europäer dürfen nicht die Bedeutung von Bemühungen einzelner Staaten für den Friedensprozess unterschätzen. Als Israeli wünsche ich mir und erwarte sogar von europäischen Ländern, dass sie von ihren bilateralen Beziehungen zu Israel Gebrauch machen, damit die Sache des Friedens in jeder Hinsicht gefördert wird. Dazu gehören auch kühne politische Initiativen.

Da Leser dieses Buches von Reiner Bernstein höchstwahrscheinlich Deutsche sind, füge ich hinzu, dass die besonderen Beziehungen, die unsere beiden Länder verbinden, in einen konstruktiven Dialog über die Zukunft und nicht allein über die Vergangenheit umgesetzt werden sollten. Ich habe meinen deutschen Gesprächspartnern oft gesagt, dass wahre Freundschaft nicht blinde Unterstützung und diplomatische Hängepartien auf dem Rücken dessen, was Israel auch immer tut, bedeuten darf. Sie muss statt dessen eine klarsichtige Vision und einen offenen Meinungsaustausch über Israels beste dauerhafte Interessen einschließen, die nach allen Erfahrungen die Interessen des Friedens sind.

Leser dieses Buches wissen, dass die Genfer Initiative eine Blaupause für einen dauerhaften Endstatusvertrag ist. Sie wird nach meiner Überzeugung Israels langfristige Interessen garantieren. Ich war erfreut, als der Deutsche Bundestag im Februar eine Resolution zur Unterstützung der Genfer Initiative verabschiedete. Ich bitte die deutsche Öffentlichkeit dringend, mehr darüber zu lernen.

Yossi Beilin, Vorstand des israelischen Teams der Genfer Initiative, Vorsitzender der Partei „Meretz/Yachad“
Tel Aviv, im August 2005


Quelle: Website von Reiner Bernstein: www.genfer-initiative.de


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