"Nicht zuviel Amerika, sondern zu wenig Europa"
Zur europäischen Politik im Nahen Osten
Von Reiner Bernstein
Als im Irak der Krieg begann, boten die Europäer nach den Worten des Luxemburger Premiers Claude Juncker ein Schauspiel der Heuchelei und des Versagens. Statt auf der eilends anberaumten Brüsseler Gipfelkonferenz ein Signal des politischen Aufbruchs zu setzen, demonstrierten die Staats- und Regierungschefs tiefe Zerrissenheit und beklagten sich über Washingtoner Planungen, europäische Unternehmen bei der Sanierung der Embargo- und Kriegsschäden nicht zu bedenken. Ein robustes Irak-Mandat für die Vereinten Nationen sei vonnöten, so hiiß es, obwohl George W. Bush soeben im Sicherheitsrat hatte ausrichten lassen, dass er militärischen Optionen auf zweifelhafter völkerrechtlicher Grundlage - ein Befund ohne realpolitische Folgen - den Vorrang einräumt und auf politische Lösungen nur dann Wert legt, wenn sie unter US-Führung stehen. Wie ohnmächtig wird sich der alte Kontinent erst im Zuge der Ost-Erweiterung zeigen, wenn der Spaltpilz an 25 Kabinettstischen Platz genommen hat?
Die Beschäftigung der Westeuropäer mit dem Nahen Osten blickt auf eine mehr als dreißigjährige Geschichte zurück. Sie begann im November 1970 in München mit einer Erklärung im Rahmen der "Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ)". Dass sich die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft - Frankreich, Italien, Bundesrepublik Deutschland und die Beneluxstaaten Belgien, Luxemburg und Niederlande - ausgerechnet das hochkomplexe Feld der israelisch-arabisch-palästinensischen Beziehungen aussuchte, konnte schon damals als kuriose Überheblichkeit gelten. Denn der EWG konnte nicht verborgen geblieben sein, dass die Amerikaner in der gesamten Region als dominierender Faktor auftraten und gewillt waren, ihre Vormachtstellung mit der ihnen eigenen drastischen Nachdrücklichkeit zu verteidigen. Deshalb konnte es die Europäer nicht überraschen, dass sie zu der ersten israelisch-arabischen Friedenskonferenz im Dezember 1973 gar nicht erst nach Genf eingeladen wurden, dass sie im Rahmen der Pendeldiplomatie Henry Kissingers 1973/74, bei der es um Truppenentflechtungsabkommen zwischen Israel, Ägypten und Syrien ging, keine Rolle spielten und dass ihnen gleiches beim ersten Friedensvertrag, den Israel im September 1978 mit Ägypten schloss, geschah; kein europäischer Politiker von Rang stand in der Nähe Jimmy Carters, als dieser Menachem Begin und Anwar Sadat zum Handschlag aufforderte. Noch bei der Madrider Friedenskonferenz Ende Oktober 1991 in Madrid musste sich die Europäische Gemeinschaft mit einer Statistenrolle zufrieden geben.
Diese offenkundige Disparität hatte zur Folge, dass sich die Westeuropäer fortan darauf beschränken wollten, durch wirtschaftliche und infrastrukturelle Maßnahmen die andernorts in die Wege geleiteten politischen Schritte zu "begleiten"; nach den Worten Willy Brandts werde man sich mit ergänzenden und flankierenden Leistungen begnügen. Den ersten Anlauf unternahmen sie mit dem Euro-Arabischen Dialog im Zuge des drohenden Ölembargos nach dem Oktoberkrieg 1973 - ein Unterfangen, dass an zahlreichen Widerständen krankte, so an innerarabischen Rivalitäten, bis er im Kontext des zweiten Golfkrieges endgültig zu Grabe getragen wurde. Auch wenn die Staats- und Regierungschefs in ihren Erklärungen allmählich stärker die nationale Kategorie der "palästinensischen Frage" anerkannten - und sich damit von der Resolution 242 absetzten, die lediglich von einem "arabischen Flüchtlingsproblem" sprach -, räumten sie den Amerikanern regelmäßig den politischen Vortritt ein. Israels damaliger Botschafter in Washington und Nachfolger Golda Meirs im Amt des Premiers, Yitzhak Rabin, zeigte sich zwar häufig über amerikanische Drohungen irritiert, die Beziehungen zu Jerusalem einem "reassessment" zu unterziehen. Doch erwiesen sich die strategischen Interessen sowie die Wertegemeinschaft regelmäßig als höchst solide Grundlage für Abstimmung und Kooperation.
Nur einmal revanchierten sich die Europäer, als sie 1995 zum Auftakt des sogenannten Barcelona-Prozesses die Washingtoner Administration gar nicht erst in die katalanische Hauptstadt einluden. Mit dem Euro-Mediterranen Dialog, zu denen die Repräsentanten aus dem südlichen und östlichen Mittelmeer gehörten, sollte auch für den israelisch-palästinensischen Konflikt dafür Sorge getragen werden, mit Hilfe der Ökonomie den strittigen Problemen der Politik ihren Stempel aufzudrücken. Die drei "Körbe" von Barcelona - "Frieden und Sicherheit", "wirtschaftliche Entwicklung und freier Handel" sowie "Menschenrechte und Demokratie" - waren von der Überzeugung geprägt, dass "produktives Unternehmertum statt politische Konfrontation den Schlüssel für einen neuen Nahen Osten bildet", wie es in einem EU-Papier hieß. Entgegen allen historischen Erfahrungen verfielen die Europäer also hilfsweise auf das Argument, wonach sozialer und wirtschaftlicher Fortschritt die Friedensbereitschaft unter den Palästinensern stärken werde: "Wandel durch Handel" lautete das Motto, obwohl allseits klar sein musste, das sich ökonomische Prosperität nur auf der Grundlage und im Rahmen akzeptierter politischer Rahmenbedingungen entwickeln kann.
Ebenso konnten die Europäer eines nicht übersehen: Die arabischen Staaten richteten ihre erwartungsvollen Blicke konstant nach Washington, um dann mit ebensolcher Regelmäßigkeit in politisches Selbstmitleid zu verfallen, wenn sie wieder einmal enttäuscht wurden. Während ihre Regierungen vor und während der Irak-Krise die Vereinigten Staaten regelmäßig vor politischen und militärischen Alleingängen warnen, wurden sie nicht müde, die Amerikaner zur Intervention zugunsten der Palästinenser in den besetzten Gebieten zu ermuntern. Angesichts dieser Doppeldeutigkeit glaubten die Europäer ihre Kräfte nicht damit vergeuden zu müssen, plausible politische Konzepte zu präsentieren - etwa der in Oslo festgeschriebenen palästinensischen Souveränitätsdisparität, die immerhin von Arafat per Unterschrift besiegelt worden war, durch eigene Aktivitäten die aggressiven Spitzen zu nehmen. So räumte zwar das Assoziierungsabkommen, das am 1. Juli 1997 in Kraft trat, der Autonomiebehörde bis zur vollen Vertragsfähigkeit dieselben Handelsvorteile wie Staaten ein. Da jedoch der damalige Premier Netanyahu darin eine unterschwellige Anerkennung palästinensischer Unabhängigkeitsbestrebungen befürchtete und in den europäischen Hauptstädten das politische Drängen Arafats auf volle diplomatische Anerkennung peinliche Gefühle hervorrief, wurde in das Dokument der Satz aufgenommen, dass die Zusagen voll und ganz mit dem Interimsabkommen vom September 1995 ("Oslo II") in Einklang stünden und "sich nur auf die Bereiche des Handels und der Zusammenarbeit" erstreckten. Als die Verhandlungen bis zum Mai 1999 ergebnislos blieben, wurde die Geltung des Abkommens stillschweigend verlängert.
Der Vertrag über die Europäische Union, mit dem der Wille zu einer "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)" gestärkt werden sollte, hat an der politischen Ohmacht im Blick auf den Nahen Osten nichts geändert. Statt dessen: Was die Qualität der israelisch-palästinensischen Beziehungen belastet, gilt mithin auch für den transatlantischen Dialog - ihm fehlt die politische Ebenbürtigkeit. Die Behauptung des Gegenteils, die sich auf die Teilnahme des Hohen EU-Beauftragten für die Außen- und Sicherheitspolitik Javier Solana an der israelisch-palästinensisch-amerikanischen Konferenz von Taba im Januar 2001 und auf die Mitwirkung vom "Mitchell Report" drei Monate später stützt, klingt geradezu naiv, legt man ihr das Kriterium des realen politischen Einflusses zugrunde. Es bleibt dabei, was das Berliner Gipfeltreffen im März 1999 bekräftigte, nämlich "das dauerhafte und uneingeschränkte Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung einschließlich der Option für einen Staat" zu betonen, aber dessen Realisierung anderen zu überlassen: Die Europäer würden, so hieß es in jenem Abschlussdokument, "einer baldigen Verwirklichung dieses Rechts erwartungsvoll entgegen(sehen)". Deshalb ist vermutet worden, dass die Berliner Erklärung dazu dienen sollte, Arafat von seiner angekündigten einseitigen Proklamation des Staates Palästina abzuhalten. Trifft diese Annahme zu, signalisiert sie einen Gleichklang mit amerikanischen und israelischen Vorbehalten - die Colin Powell in die Formel kleidete "The U.S. stands ready to assist, not to insist", wissend, dass er mit ihr auf israelisches Wohlwollen stieß. Dass jedoch ein solches Einvernehmen nicht unumstritten war, ließ Bushs Sonderbotschafter Anthony Zinni in der Klage anklingen, die Administration versäume Chancen zur Lösung des Konflikts, wenn sie nach wie vor das jährlich drei Milliarden Dollar umfassende Auslandshilfeprogramm für Israel und jene Millionen für Entwicklungsprojekte in der Westbank und im Gazastreifen ausgebe.
Auch nach dem Ende des Irak-Krieges dürfte der politische Handlungsspielraum der Europäer umstritten bleiben, wenn sie das "große Kuddelmuddel" (Joschka Fischer) fortsetzen. Zunächst werden sie Abschied von einer Art der verkürzten geopolitischen Wahrnehmung nehmen müssen, die die Konfrontation zwischen Israel und den Palästinensern als ein isoliertes Drama würdig, statt sie in den Kontext nah- und mittelöstlicher sowie internationaler Dynamiken zu stellen. So sieht sich die EU zwar der territorialen Integrität, der Souveränität und der politischen Stabilität des Irak verpflichtet, wie sie jüngst zu Protokoll gab, aber gleichzeitig beschränkt sich die Gemeinschaft auf die Zusage, aktive humanitäre und infrastrukturelle Hilfe im Zuge der "Aufräumarbeiten" zu leisten. Jacques Chirac soll es sogar abgelehnt haben, eine frühe Verpflichtung für die politische Neuordnung in der Region abzugeben - aus der berechtigten Sorge heraus, dass die USA auch diesmal sich anschicken, die Richtung vorzugeben.
Schon heute zeichnet sich ab, dass die Amerikaner die Regimes in Jordanien, Ägypten und Saudi-Arabien schützen müssen; die gellenden Massenproteste in Amman und Kairo liefern einen Vorgeschmack auf die "Pforten des Hasses", die sich nach dem Ende des Krieges in der arabischen Öffentlichkeit öffnen könnten. Die dynastische Legitimitätskrise der Wahhabiten hat nicht nur Figuren wie Osama bin-Laden hervorgebracht, sondern auch Kaufleute veranlasst, Teile ihres Vermögens in den Dienst eines von Immoralismus und Korruption befreiten "reinen" Islam zu stellen. Überall bestreitet ein national agierender, aber gesamtarabisch argumentierender Islam den Gestaltungsanspruch der Politik und der sie tragenden Eliten. Der politische Selbstgestaltungswille der Kurden im Länderdreieck Türkei-Irak-Syrien dürfte noch stärker als in der Vergangenheit zur regionalen Destabilität beitragen. Unter solchen Bedingungen wird es den Amerikanern schwer fallen, die arabischen Völker im Nahen und Mittleren Osten mit einer "Pax americana aeterna" von den Segnungen westlicher Demokratiemodelle zu überzeugen - ein illusionäres Unterfangen mit unzähligen Imponderabilien. Da war Kissinger schon ehrlicher, als er sich zur "konstruktiven Vieldeutigkeit" ("constructive ambiguity") der amerikanischen Nahostpolitik bekannte. die Vermutung einer atemberaubenden Ignoranz im Weißen Haus ist nicht aus der Luft gegriffen.
Gegenüber diesen Problemlagen, denen gegenüber das Ende Saddam Husseins lediglich als ein taktisches Vorspiel erscheint, nimmt sich eine Friedenslösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt geradezu bescheiden aus, und dennoch hätte sie schon lange zur Stabilität in der Region mehr beitragen können als der absehbare Militärsieg im Irak. Schon die politiktheoretische Anleihen beim Helsinki-Prozess führten in die Irre, weil in Europa erst die Voraussetzung unantastbarer Grenzen die Einleitung vertrauensbildender Maßnahmen zwischen souveränen Staaten ermöglichte. Noch vor zwei Jahren glaubte Bundespräsident Johannes Rau, dass sich die europäischen Erfahrungen, nationale Egoismen in gemeinsames produktives Handeln umzuwandeln, auf den israelisch-palästinensischen Konflikt übertragen ließen.
Ein solcher Horizont ist lediglich für die Entwicklung der israelisch-syrischen Beziehungen realistisch, und so ist zu verstehen, dass die Golanhöhen in den Szenarien der internationalen Politik eine bestenfalls nachgeordnete Rolle spielen. Dieses auffällige Desinteresse hat einen guten Grund: Auf jenem rund 1200 Quadratkilometer großen Höhenplateau stehen zwei souveräne Staaten auf Posten. Es wird die Zeit kommen, zu der sie einen Modus vivendi finden. Zwar hängt der künftige Vertrag an der Lösung einiger komplizierter Probleme, so an der vollen Souveränität Libanons gegenüber Syrien sowie beider Verhältnis zur "Partei Gottes" ("Hisbollah"), aber letztlich wird sich ein politischer Ausgleich am Modell der Friedensverträge Israels mit Ägypten und Jordanien orientieren können.
Transatlantischer "Clash of Civilizations"?
Mit dem dritten Golfkrieg hat sich die europäische Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners erledigt; die Wiederholung der deutschen "Scheckbuchdiplomatie", die mit 17 Milliarden Dollar den amerikanischen Munitionsverbrauch 1991 beglich, ist auf europäischer Ebene unvorstellbar. Die Staaten des alten Kontinents werden zwar auch künftig von Rivalitäten und Eitelkeiten nicht verschont bleiben, doch die dringende Suche nach einer neuen Architektur dürfte den Diskussionen im Verfassungskonvent zusätzlichen Auftrieb geben, um eine neue europäische Identität zu begründen. Zwar wird diese "strategische Kultur" nicht, wie der Politologe Robert Kagan meinte, auf die Verwirklichung von Immanuel Kants "ewigem Frieden" zulaufen. Wenn sich aber Samuel Huntingtons Warnung in Washington durchsetzen sollte, wonach der Zusammenschluss Europas als Abwehr gegen die amerikanische Vorherrschaft zu verstehen sei, dann steuern beide Kontinente auf eine nicht vorgesehene Variante des "Clash of Civilizations" zu.
Denn, lässt man einmal alle parteipolitisch motivierten und regierungsamtlich verbreiteten Unstimmigkeiten beiseite, das Selbstverständnis der Völker Europas schickt sich an, in eine post-nationale Epoche einzutreten. Die allmähliche Vorbereitung dieser Wende war zwar nur unter dem militärischen Schutzmantel der USA möglich, doch richtig ist auch, dass die Amerikaner in den Jahrzehnten des Kalten Krieges vom kontinentalen Glacis genauso profitierten, indem sie gemeinsam mit der Sowjetunion die Länder diesseits und jenseits des "Eisernen Vorhangs" auf das Maß von politischen Zwergen reduzierten. Die Westeuropäer haben zusätzlich davon profitiert, indem sie im Nahen Osten durch die ihnen zugewiesene Sekundärposition davon verschont blieben, sich an harten politischen Entscheidungen zu beteiligen, und indem sie sich der Kritik aller Konfliktparteien entziehen konnten. Mit der Aufforderung, am Regimewechsel in Irak mitzuwirken, verlangen die USA nunmehr erneut einen Beitrag, der das klassische Muster eines militärische Konfliktansatzes wiederholt. Diese wie selbstverständlich vorgetragene Erwartung widerspricht jedoch der nach dem Ende des Kalten Krieges angebahnten Psychologie eines Post-Heroismus. Insofern ist Kagan zuzustimmen, wenn er den Europäern einen Mangel an "bellizistischem Temperament" vorwirft.
Die sich um diese Kritik herumrankenden Kontroversen bis hin in die Debatten des Sicherheitsrates hinein sind mehr als das Zeichen eines Antiamerikanismus und einer Europafeindlichkeit. Abgesehen von manch unverantwortlichen Stimmen und Stimmungen geht es vielmehr um den Wettbewerb zweier politischer Ordnungsmodelle: Zur Entscheidung steht die Alternative zwischen der Übernahme der global ausgreifenden Theorie des britischen Philosophen Thomas Hobbes (1588 - 1679), wonach die Geschichte ein ewiger Kampf zwischen Gut und Böse sei, und ihrer Ablehnung nach den Erfahrungen zweier Weltkriege in Europa. Der Behauptung Joschka Fischers ist zuzustimmen, nicht zuviel Amerika sei das Problem, sondern zu wenig Europa. Die Irak-Krise führe, so der deutsche Außenminister auf der Plenarsitzung des Europäischen Konvents Ende Februar 2003,
"uns überdeutlich vor Augen, dass jeder europäische Staat, auch die größten, für sich allein genommen oder in wechselnder Allianz, ihre Interessen nicht mehr wirksam verteidigen können. Nur gemeinsam, als Europäische Union, haben wir Europäer eine Chance, uns im 21. Jahrhundert zu behaupten. Die aktuelle Krise zeigt, dass dies bittere machtpolitische Wirklichkeit ist!"
Mögen die Warnungen vor einem "imperial overstretch" (Paul Kennedy) der USA begründet sein oder nicht: Die europäischen Nationalstaaten können nur mitgestalten, wenn sie sich im Zuge einer historischen Entscheidung auf einen Corpus von Institutionen, Gesetzen und Formaten der Zusammenarbeit verständigen. "Die Welt wird nicht auf uns warten", so Fischer an anderer Stelle.
Dies klingt unter den gegenwärtigen Bedingungen utopisch. Nur eines ist gewiss: Man muss nicht die Beziehungen zu den USA aufgeben, um den politischen Reifungsprozess der europäischen Völker zu begrüßen und ihn weiter voranzutreiben. Mag man Jacques Chirac und Gerhard Schröder bei ihrer Ablehnung einer Beteiligung am Irak-Krieg auch handfeste innenpolitisch-taktische und ökonomische Motive unterstellen, so sind Tony Blair, José Maria Aznar und Silvio Berlusconi - im Verbund mit einigen Regierungschefs in Mittelosteuropa und ihren spezifischen historischen Erfahrungen unter dem Sowjetregime - die Nachzügler einer überholten Epoche der europäischen Geschichte, von deren Räson sich die Mehrheit der Briten, der Spanier und der Italiener abgewandt und emanzipiert hat. Dass nichtständige Mitglieder des Sicherheitsrates dem Druck der Amerikaner ebenfalls widerstanden haben, deutet darauf hin, dass auch sie kein Vertrauen in die Instrumente staatlich organisierter Kriege bei der Bekämpfung von sozialen, ethnischen und religiösen Schwelbränden haben. Wenn Washington und London dennoch auf dem Alleingang bestanden und den Abweichlern mit Konsequenzen gedroht haben, dann nehmen sie jene "billigen" Komplotte in Kauf, die wir mit dem diffusen Begriff des "internationalen Terrorismus" belegen und die irgendwie anfangen, aber nirgendwann enden.
Verheerende Zyklen der "spontanen" Gewalt sind nicht nur für den Fall einer jahrelangen amerikanischen Präsenz in einer arabischen Hauptstadt vorhersehbar, sondern auch dann, wenn Washington tatsächlich den irakischen Dinar so schnell wie möglich durch den Dollar ersetzt, wenn amerikanische und britische Unternehmen exklusiv mit dem wirtschaftlichen Wiederaufbau beauftragt und wenn Pläne des Washingtoner Finanzministeriums für eine "funktionsfähige" Zentralbank und Finanzverwaltung in Bagdad realisiert werden sollten - ganz zu schweigen vom Aufbau eines neuen Schulwesens nach Vorgaben amerikanischer Curricula. Die Erinnerungen an den Tyrannen von Bagdad werden vergehen, doch der von außen inszenierte Umbruch mit dem Titel "Schock und Schrecken" ("Shock and Aw") sowie die ihm folgende politische Bevormundung dürften sich tief ins arabische Gedächtnis eingraben, wenn sie sich an Bushs Proklamation orientieren, mit "unserer Botschaft und unseren Prinzipien ... eine Balance der Macht zu schaffen, die der menschlichen Freiheit den Weg bahnt".
Friedensprozess oder Friedensvertrag?
Nachdem die Aufmerksamkeit jahrelang allein dem israelisch-palästinensischen Konflikt galt, tritt er angesichts der Irak-Krise in den Hintergrund, zu Unrecht. Obwohl niemand die Auswirkungen des "Befreiungskrieges" gegen Saddam Hussein kennt, hat Bush die Bildung eines "wahrhaft demokratischen und lebensfähigen palästinensischen Staates" an der Seite Israels angekündigt und das Ende der Siedlungspolitik verlangt. Diese Ankündigung steht in einem doppelt bemerkenswerten Spannungsverhältnis: Zum einen widerspricht es dem demonstrativen Einvernehmen mit dem israelischen Premier, dem er mehr als einmal bescheinigt hat, ein "Mann des Friedens" zu sein. Wenn zum anderen behauptet worden ist, dass die militärische Schwäche Europas seine politische Kraft beeinträchtige, dann ist daran zu erinnern, dass die amerikanische Militärpräsenz im Nahen Osten den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern keinen Schritt nähergebracht hat. Man tritt den USA mit der Behauptung nicht zu nahe, dass sie an dieser Misere erhebliche Mitverantwortung tragen.
Die internationale Gemeinschaft steht vor dem Scherbenhaufen ihrer Beziehungen, den Konflikt einzudämmen. Politiker und Kommentatoren sind sich darin einig, dass der Prozess von Oslo nicht nur den toten Punkt erreicht hat, sondern gescheitert ist, weil er von vornherein zu höchst unterschiedlichen Zukunftsdeutungen Anlass gab. Inzwischen entfernt sich der Konflikt immer weiter von seinem Ursprung, einem puren Territorialstreit, und dreht in eine Richtung ab, in der sich Geschichte und religiöser Mythos zu einer Symbiose vereinen, die sich kaum entwirren lässt. Yitzhak Rabin, der es im September 1995 gewagt hatte, aus dem Axiom der uneingeschränkten Souveränität über "Judäa und Samaria" auszubrechen, die sich auf göttliches Gebot beruft, wurde sechs Wochen später von Yigal Amir ermordet. Auf palästinensischer Seite scheint die Zukunft einem Islam zu gehören, der unter dem Druck der israelischen Militärschläge ganz Palästina von den "zionistischen Invasoren" befreien will.
Europäer und Amerikaner werden nur dann gemeinsam im Nahen Osten stabilisierend wirken können, wenn sich alle Seiten auf einen politisch klar definierten Neuanfang verständigen, bei dem die einzelnen Schritte mit einem allseits akzeptierten Zeitplan versehen werden. Das "Quartett" aus USA, Europäischer Union, Russland und UN hat sich im Dezember 2002 auf eine dreistufige "Road Map" verständigt, dessen Substanz sich wie folgt liest:
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In der ersten Phase unterstützt die internationale Gemeinschaft die Abhaltung von palästinensischen Wahlen. Israelis und Palästinenser sind aufgefordert, eine Sicherheitsvereinbarung zu schließen. Nach dem Ende von "Gewalt, Terror und Anstachelung zum Terrorismus" zieht sich Israel aus den autonomen Gebieten zurück, stellt den Bau jüdischer Siedlungen ein, hebt die Straßensperren auf und garantiert für die palästinensische Bevölkerung die volle Bewegungsfreiheit. Gleichzeitig setzt die Autonomiebehörde die inneren Reformen fort.
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In der zweiten Phase werden eine neue palästinensische Regierung gebildet und die endgültige Verfassung verabschiedet. Verhandlungen über die Schaffung eines vorläufigen Palästina-Staates beginnen, dessen Grenzen noch nicht endgültig festgelegt sind.
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In der dritten Phase wird im Sommer 2003 der vorläufige Palästina-Staat etabliert. Die Verhandlungen über den Endstatus werden bis 2005 fortgesetzt, in denen über die strittigen Kernpunkte entschieden wird: über den "Rückzug Israels auf die Grenzen von 1967", die Gründung des entmilitarisierten Palästina-Staates, die Konstituierung Jerusalems als Hauptstadt zweier Staaten sowie über die "gerechte und dauerhafte" Regelung der Flüchtlingsfrage. In derselben dritten Phase sollen Israel, Syrien und Libanon Friedensverhandlungen aufnehmen. Danach erklärt die Arabische Liga das Ende des Nahostkonflikts und stellt die vollständige Normalisierung der Beziehungen zu Israel in Aussicht. Eine internationale Geberkonferenz tritt zusammen, um für den Aufbau und die Stabilisierung des neuen Staates zu sorgen.
Bereits ein erster Blick auf diesen "Wegeplan" lässt ein generelles Hindernis erkennen, das bereits die Osloer Vereinbarungen schwer belastete: Er hängt von zu vielen Details ab, die wie die Steine eines Mosaiks aufeinander bezogen sind. Bricht ein Bauteil weg, droht die gesamte Mechanik samt ihrer künstlichen Kulisse ins Wanken zu geraten. So hat sich schon heute der vorgelegte Zeitplan überholt, nachdem die Autonomiebehörde die für den 20. Januar 2003 vorgesehenen Wahlen abgesagt hat, weil sie ihre Durchführung unter den Bedingungen des militärischen Diktats für unzumutbar hielt. Arafat stellte also ein Junktim zwischen den Wahlen und dem Ende der Besatzung her. Allein damit ist die Etablierung des vorläufigen Palästina-Staates im kommenden August ausgeschlossen. Wenn Washington den Erfolg des Zeitplans neuerdings durch eine CIA-Abteilung garantieren will, die für die Realisierung der "Road Map" sorgen soll, dann droht auch diesem Ansatz das baldige Aus - wie dem Tenet-Plan vom Juni 2001, der in der Regelung der Sicherheitsaspekte den Schlüssel für jeglichen Fortschritt erkennen wollte. Ein israelischer Kommentator ahnte voraus, dass sich seine Regierung das Recht vorbehalten werde, die Kontrolleure zu kontrollieren, die Beobachter zu beobachten, die Inspekteure zu inspizieren und besonders dafür zu sorgen, dass sie ihre Nase in die Außenposten der Siedlungen stecken. Solange sich an dieser Konstellation nichts ändert, so lange wird keine Autonomiebehörde an den Verhandlungstisch zurückkehren können, es sei denn sie würde es darauf anlegen, die Loyalität der palästinensischen Bevölkerung endgültig zu zerstören.
In praktischer Hinsicht stockt die Reform durch den Streit zwischen Arafat und der Palästinensischen Gesetzgebenden Versammlung (PLC) um die Kompetenzen des neu gewählten "Ministerpräsidenten". Ob der als glaubwürdig geltende, aber über keine charismatische Ausstrahlung verfügende Abu Mazen ("Abu Ala") tatsächlich zentrale Kompetenzen erobern kann, wird ebenso abzuwarten sein wie die israelische Antwort auf den Regierungsstil ("performance") des ersten Mannes. Auch lässt sich daran zweifeln, ob der vorliegende Entwurf der Verfassung, der den Islam als Staatsreligion und die "Sharia" als Hauptquelle der künftigen Gesetzgebungsarbeit festschreiben soll, mit den Vorstellungen eines pluralen und demokratischen nationalen Gemeinwesens vereinbar ist. Schließlich dürfte die Autonomiebehörde nicht mehr in der Lage sein, das Ende der palästinensischen Gewalt durchzusetzen. Das bedeutet aus israelischer Sicht, dass Gegenleistungen hinfällig sind: Aufhebung der Straßensperren, Gewährleistung der Bewegungsfreiheit für die palästinensische Bevölkerung und das Ende des Siedlungsbaus.
Aber auch Europäer und Amerikaner stehen vor einer nicht minder großen Herausforderung: einem Durchbruch zu einer transatlantischen Arbeitsteilung. Gelingt es den Partnern nach den jüngsten Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte und nun gegenüber dem Irak, im Nahen Osten nicht als Konkurrenten, sondern als gleichberechtigte Akteure aufzutreten? Noch bevor Condoleeza Rice klargestellt hatte, wer im "Quartett" der Fahrer und wer die Beifahrer sein würden, hatte einer ihrer Amtsvorgänger, Zbigniew Brzezinski, die Zweifel in eine Frage gekleidet:
"Sind die USA beispielweise bereit, sich mit Europa die Führung im Nahen Osten zu teilen, einer Region, die nicht nur geographisch viel näher an Europa liegt als an Amerika, sondern in der einzelne europäische Staaten zudem seit langem eigene Interessen verfolgen? In diesem Zusammenhang fällt einem sofort das Problem Israel ein. Auch die euro-amerikanischen Meinungsverschiedenheiten über die Haltung gegenüber Iran und Irak wurden von den USA nicht als eine strittige Angelegenheit zwischen gleichgestellten Partnern, sondern als ein Fall von Insubordination behandelt."
Wenn sich Bush, Blair und Aznar auf dem Azoren-Gipfel darauf verständigt haben, dass Spanien künftig eine Schlüsselrolle im Nahen Osten spielen soll, so kann damit nur gemeint sein, in die verabredete Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Europas einen Keil zu treiben, der letztendlich dem amerikanischen Einfluss zugute kommt. Da jedoch London seit langem keinen Hehl aus seiner Ablehnung der israelischen Besatzungspolitik macht und damit den Regierungen auf dem Kontinent viel näher als Washington steht, ist das Einvernehmen kein aus dem Irak-Krieg zu folgernder Automatismus.
Anpassung oder produktiver Dissens?
Wenn Francis Fukuyama behauptet hat, dass mit der Implosion der Sowjetunion der welthistorische Kampf zugunsten der freiheitlichen Ideale des Westens entschieden worden sei, so muss geklärt werden, was unter der Metapher des politischen Westens zu verstehen ist, doch wohl dies: Wir erkennen die Umrisse eines neuen Völkerrechts, das diesen Namen nicht verdient und dass. eine Chaotisierung in den internationalen Beziehungen befürchten lässt, wenn politische, ökonomische und militärische Entscheidungen im Interesse eines unilateral agierenden Hegemons gefällt werden. Daraus sind erste Überlegungen abgeleitet worden. So heißt es in einem Papier internationaler Politikberater vom Frühjahr 2002:
"Die verbesserte Koordination zwischen den Vereinigten Staaten und ihren europäischen Partnern, wie sie sich im Quartett niederschlägt, ist eine willkommene Entwicklung. Aber sie sollte nicht zu Lasten eines unabhängigen europäischen Urteils und seiner Führung sowie, wenn nötig, der öffentlichen Auseinandersetzung über Differenzen mit den Vereinigten Staaten gehen, wie die aktuelle Krise zu meistern ist."
Auch wenn die Staaten Europas palästinensische Terrorakte aus humanitären und politischen Gründen verurteilen, so wird nicht deutlich, ob ihnen das Verhältnis von Ursache und Wirkung hinreichend bewusst ist. Doch ohne Würdigung dieser Dialektik, die Besatzung und nationalen Befreiungswillen gegenseitig abwägt, sind tragfähige politische Perspektiven nicht vorstellbar. Solange Europa seine wirtschafts- und handelspolitischen Interessen bei den arabischen Regierungen gut aufgehoben glaubte, gehörten die Palästinenser jenseits der immensen Finanztransfers und der Infrastrukturhilfen zur diplomatischen Manövriermasse. Die USA und Europa müssen auf eine zentrale Frage eine klare Antwort geben: Wem gehört die Westbank, Ost-Jerusalem und der Gazastreifen? Bis dahin bleibt es dabei, dass die deklamatorische Unterstützung der palästinensischen Forderung nach nationaler Selbstbestimmung Erinnerungen an den Geist der Französischen Revolution aufsteigen lässt: Damals sollte den Juden als Menschen alles, den Juden als Volk nichts gegeben werden. Zwar taucht in der Publizistik und in amtlichen Dokumenten immer häufiger der Name "Palästina" auf, doch lässt sich der Eindruck nicht von der Hand weisen, dass es sich um einen inhaltsleeren Euphemismus handelt.
Europa braucht für die gesamte Region des Nahen und Mittleren Ostens eine gemeinsam getragene Außen- und Sicherheitspolitik, wenn es ein Mitspracherecht nicht nur reklamieren, sondern auch realisieren will. Die Versäumnisse der Vergangenheit aufzuholen, wird allerdings im Zuge der Ost-Erweiterung nicht leicht fallen. Der neue Zweibund aus Frankreich und Deutschland, der die Idee eines Kerneuropa aus den neunziger Jahren aufzunehmen scheint, hat nur dann eine Zukunft, wenn er sich mit einem politischen Konzept bei seinen kontinentalen Partnern um Abstimmung und Koordination bemüht. Ansonsten läuft er Gefahr, ein "Kondominium der Herrschaft" über die kleineren Staaten des Kontinents zu etablieren und in den Außenbeziehungen die Tradition der "quantité negligeable" fortzusetzen. Was den israelisch-palästinensischen Konflikt angeht, werden zwar beide Völker selbst die Voraussetzungen dafür schaffen müssen, das zerstörte Vertrauen zu reparieren. Dennoch haben die Europäer und die USA jenseits der Methoden einer "Zwangsdiplomatie" (Madeleine Albright) zahlreiche politische Instrumente, um den Friedensprozess in einen Friedensvertrag münden zu lassen.
Literatur:-
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Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Frankfurt am Main 2001.
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President [Bush] Discusses the Future of Iraq, 26.2.2003. Die Ansprache fand auf Einladung des "American Enterprise Institute" statt.
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