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Jagd auf Aktivisten

Menschenrechtler, Friedensbewegte und Studierende geraten in Mexiko unter Beschuss

Von Philipp Gerber, Oaxaca *

Die Eskalation der Gewalt in Mexiko hält an. Immer mehr unbewaffnete Zivilisten geraten zwischen die Fronten, vor allem Menschenrechtler und Friedensaktivisten - zuletzt starben zwei Studenten bei einer Demonstration im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero durch Polizeigewalt.

Die mexikanische Gesellschaft befindet sich nach einer Reihe von Gewaltakten in einem Schockzustand. »Wir verurteilen die schreckliche Jagd auf Aktivisten«, schreibt das Globale Netz für den Frieden in Mexiko in einer Protestnote. Die letzten drei Wochen waren in den Augen vieler Beobachter die schwierigsten seit 1994, als die Zapatistische Befreiungsbewegung aus Chiapas das Land mit einem bewaffneten Aufstand überraschten. Der Unterschied zu heute: Inzwischen ist ganz Mexiko militarisiert, aber die primäre staatliche Aufgabe, den Bürgern Sicherheit zu gewähren, ist paradoxerweise dennoch nicht gewährleistet.

»Wir bedauern, dass die Aktivisten nicht geschützt werden können«, gab sogar der Präsident Calderón vor Wochenfrist zu. Er bezog sich dabei auf die Ermordung von Menschenrechtlern in dem Bundesstaaten Sonora und Michoacán, welche mit der Friedensbewegung des Schriftstellers Javier Sicilia zusammenarbeiteten.

Auch in Ciudad Juárez wurde Ende November ein weiteres Attentat auf eine mutige Angehörige von Verschwundenen begangen, welche die Aufklärung der Frauenmorde fordert; sie überlebte das Attentat, wurde jedoch ins Exil gezwungen.

Insbesondere der Bundesstaat Guerrero erlebt eine Eskalation, die an die Zeiten des »schmutzigen Krieges« der 70er-Jahre erinnert. Anfang Dezember wurde der Sohn eines Gründers der Ökobauernorganisation der Region Petatlán vergiftet in seiner Zelle aufgefunden. Sein Vater wurde schon zuvor, im Februar dieses Jahres, ermordet. Am 6 Dezember entführten maskierte Bewaffnete Marcial Bautista Valle und Eva Alarcón Ortíz, die Koordinatorin und der Präsident und die Beraterin derselben Bauernorganisation, auf dem Weg an ein Treffen der Friedensorganisation Sicilias von Bewaffneten aus einem Bus heraus, seither fehlt von ihnen jede Spur.

Diesen Montag, den 12. Dezember, griffen Polizisten verschiedener Einheiten in Chilpancingo, der Hauptstadt Guerreros, eine Straßenblockade von 200 Studierenden auf der »Autobahn zur Sonne« genannten Straße nach Acapulco an. Zwei 20-jährige Studenten starben im Kugelhagel der Polizei, ein Student schwebt in Lebensgefahr und ein Angestellter der Tankstelle, die in der Nähe der Auseinandersetzung in Flammen aufging, erlag drei Tage darauf seinen schweren Verletzungen.

Die Protestierenden machen eine Ausbildung zu Grundschullehrern in der Pädagogischen Hochschule von Ayotzinapa, die für ihre klassenkämpferische Grundhaltung bekannt ist. Diesmal mobilisierten die Schüler unter anderem, um eine bessere Verpflegung zu erreichen. Dem Internat stehen dafür gerade mal zehn Pesos (55 Cent) pro Tag zur Verfügung. Der neue Gouverneur Guerreros, wie sein Vorgänger von den linken Parteien PRD, PT und Convergencia gestellt, versprach eine Erhöhung des Kostgeldes auf 50 Pesos, doch diese und andere Verhandlungsresultate früherer Mobilisierungen blieben leere Versprechen.

Der Gewaltexzess in Chilpancingo löste ein politisches Hickhack über die Verantwortung dafür aus. Zehn Beamte der Polizei Guerreros, welche gemäß Videoaufnahmen mutmaßlich auf die Jugendlichen geschossen haben, wurden festgenommen. Doch auch Bundespolizisten sind auf Aufnahmen erkennbar, sie wandten bei Verhaftungen massiv Gewalt an. Und kaum eine Stunde nach Beginn der Eskalation übernahm die Armee die Kontrolle der Stadt.

Drei hohe lokale Polizeifunktionäre wurden inzwischen entlassen, darunter der Verantwortliche vor Ort, Ramón Arriola, ein General der Armee, der in den letzten Jahren in Guerrero unter linken Regierungen zahlreiche gewaltsame Polizeiaktionen kommandierte. Während sich nun die linke Staats- und die konservative Bundesregierung die Verantwortung für den tödlichen Einsatz gegenseitig zuschieben wollen, zeigt die Analyse der Ereignisse dieser Wochen, dass das Problem komplexer ist. Und leider ist zu befürchten, dass 2012 im Zuge der Präsidentschaftswahlen vom 1. Juli die Zersetzung der staatlichen Strukturen weiter voranschreitet.

* Aus: neues deutschland, 17. Dezember 2011


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