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Westerwelle kauft sich in Libyen ein

Außenminister zu Blitzbesuch bei Rebellen in Bengasi – in Tripolis spielte Gaddafi Schach

Von René Heilig *

Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) war am Montag (13. Juni) überraschend in der ostlibyschen Metropole Bengasi gelandet. Hier ist die Zentrale der Anti-Gaddafi-Rebellen. Hier hat der sogenannte Übergangsrat seinen Sitz, den man in westlichen Staaten bereits als Kern einer künftigen libyschen Regierung betrachtet.

Nur wenige EU-Spitzenpolitiker waren bislang in Bengasi, darunter die Außenminister Großbritanniens, Italiens und der Türkei sowie die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton. Westerwelles Besuch ist ein erstes deutsches Vortasten.

Die Bundesregierung, die sich nicht direkt an den Militäraktionen gegen Machthaber Gaddafi beteiligt und daher von den USA und anderen NATO-Staaten heftig kritisiert wird, versucht mit diesem dreistündigen Blitzbesuch ihr Image vor Ort aufzupolieren. Mitglieder des Übergangsrates, den Westerwelle gestern als »legitime Vertretung des libyschen Volkes« bezeihnete, ließen in den vergangenen Wochen bereits durchblicken, dass es deutsche Firmen nach einem Ende des Gaddafi-Regimes schwer haben könnten, an der Ausbeutung der libyschen Ölreserven sowie an Projekten zum Wiederaufbau beteiligt zu sein. Einen leichteren Stand haben französische Konkurrenten. Frankreichs Präsident Sarkozy, der zu den treibenden Kräften des NATO-Krieges gehört, hat seinen Bengasi-Besuch noch für diese Woche angekündigt.

Westerwelle hatte an Bord seiner Transall-Bundeswehrmaschine nicht nur den deutschen Entwicklungshilfeminister, Parteifreund Dirk Niebel, sondern auch Paletten mit Hilfsgütern. Bislang hat Deutschland 7,5 Millionen Euro an humanitärer Soforthilfe für Libyen geleistet. Die Minister versprachen, nun die Hilfe auf mehr als 15 Millionen Euro zu verdoppeln. Das ist ein schwacher Trost für den Ausfall der beschlagnahmten Gaddafi-Milliarden-Guthaben im Ausland, die die EU zwar versprochen hatte, jedoch aus juristischen Gründen nicht weiterreichen kann.

Ein Erkundungsteam der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit ist dabei zu klären, welche Unterstützung im Hinblick auf die Flüchtlingssituation erforderlich und gewünscht ist. Zum deutschen Angebot gehören Wiederherstellung der Trinkwasser- und Elektrizitätsversorgung, Beratung zur Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen, Betreuung und Versorgung von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen sowie die psychologische Betreuung von Kriegsopfern. Die NATO flog derweil weitere schwere Angriffe gegen Tripolis. Seit Beginn der Operation »Unifield Protector« Ende März startete die NATO fast 11 000 Flügen gegen Libyen. Über 100 Schiffe wurden kontrolliert. Das beeindruckt Gaddafi wohl wenig. Am Sonntag (12. Juni) hatte das libysche Staatsfernsehen gezeigt, wie Gaddafi und der Chef des internationalen Schachverbands Kirsan Iljumschinow eine Partie spielten. Angeblich ging es um die Vorbereitung eines Schachturnier im Oktober in Tripolis.

Unterdessen wird in den USA immer kritischer nach Gründen für die Anti-Gaddafi-Aktion gefragt. Der Begriff »Stellvertreter-Krieg« macht die Runde. Der Republikaner Craig Roberts, einst Vizefinanzminister unter Präsidenten Reagan, bleibt beispielsweise bei seinem im »Foreign Policy Journal« ausgesprochenen Verdacht, der Krieg richte sich eigentlich gegen Chinas Expansion in Afrika.

Laut Pekinger Handelsministerium waren im März 75 chinesische Großunternehmen in Libyen mit Verträgen im Wert von 18 Milliarden Dollar engagiert. Laut der südafrikanischen Standard Bank könnten Chinas Direktinvestitionen in Afrika bis 2015 etwa 50 Milliarden Dollar erreichen. Dank Afrika deckt das energiehungrige Land bis zu 28 Prozent seines Ölbedarfs.

* Aus: Neues Deutschland, 14. Juni 2011


Geschenke für Bengasi

Von Uli Schwemin **

Deutschland will nicht mehr zu spät kommen. Darüber scheint man sich zumindest in der Bundesregierung einig zu sein. Und deshalb hat Außenminister Guido Westerwelle (FDP) am Montag (13. Juni) einen sogenannten Überraschungsbesuch in Bengasi, der Hochburg der Aufständischen gegen das Regime von Muammar Al-Ghaddafi in Libyen, abgestattet. Bei seinen Gastgebern biederte er sich als »Freund und Partner der demokratischen Kräfte im Land« an und verkündete: »Der Übergangsrat ist die legitime Vertretung des libyschen Volkes.« Aus deutscher Sicht habe Ghaddafi »jede Legitimation« verloren. Westerwelle versicherte, den »Nationalen Übergangsrat« beim »Aufbau eines demokratischen und rechtsstaatlichen Libyen nach besten Kräften« zu unterstützen. Zu diesem Zweck eröffnete der Außenminister in Bengasi ein deutsches Verbindungsbüro, über das künftig ein kontinuierlicher Kontakt zu den Rebellen gehalten werden soll. Anders ausgedrückt: Deutschland legt Wert darauf, mit den Rebellen so etwas wie diplomatische Beziehungen zu unterhalten.

Dieser Logik folgend, forderte Westerwelle Ghaddafi auf, seinen »Krieg gegen das eigene Volk« sofort zu beenden und abzutreten. »Die Menschen in Libyen wollen eine friedliche und freiheitliche Zukunft ohne Ghaddafi«, behauptete der Außenminister und fuhr mit Pathos fort: »Das ist auch unser Ziel. Der Diktator steht auf der falschen Seite der Geschichte.«

Westerwelle und die Bundesregierung haben das Problem, daß sie aus ihrer eigenen Sicht in Libyen praktisch schon zu spät gekommen sind, seit sie die direkte militärische Beteiligung am NATO-Krieg gegen das Land verweigert haben. Indirekt waren Deutschland und andere NATO-Verbündete dafür Ende vergangener Woche von US-Verteidigungsminister Robert Gates in Brüssel scharf kritisiert worden.

Westerwelle, der von seinem Parteifreund und Entwicklungsminister Dirk Niebel begleitet wurde, führte in Bengasi eine Reihe von Gesprächen mit Funktionsträgern der Rebellen, um auszuloten, wie Deutschland nach Kriegsende in Libyen ins Geschäft kommen könnte. Zum Beispiel will Berlin dann Polizisten für das nord­afrikanische Land ausbilden. Westerwelle steht in dieser Frage nicht nur unter dem Druck der US-Amerikaner, sondern auch unter dem des neuen Verteidigungsministers Thomas de Maizière (CDU). Der hatte in der vergangenen Woche für den Fall eines Sturzes Ghaddafis die Entsendung von Bundeswehrsoldaten nicht ausgeschlossen. Deutschland würde eine entsprechende Anfrage »konstruktiv prüfen«, erklärte de Maizière, obwohl Westerwelle die gleiche Frage zuvor immer wieder negativ beantwortet hatte.

Die beiden deutschen Minister hatten bei ihrem Kurzbesuch in Bengasi medizinische Hilfsgüter im Gepäck, die an verschiedene Krankenhäuser verteilt werden sollen. Die Perversion, einen Teil der Einwohner Libyens mit Granat- und Bombenfeuer einzudecken und den anderen Teil mit Medizin zu versorgen, scheint dabei weder von den Schenkenden noch von den Beschenkten bemerkt worden zu sein. Bislang soll Berlin die Rebellen mit »humanitären Soforthilfen« im Wert von 7,5 Millionen Euro unterstützt haben, Westerwelle und Niebel sagten zu, den Umfang dieser Hilfe auf 15 Millionen Euro zu erhöhen. Bengasi dürfte das zu würdigen wissen. Drei Stunden nur dauerte der Besuch des deutschen Ministergespanns. Aber: Vor ihnen haben noch nicht viele europäische Spitzenpolitiker versucht, sich bei den libyschen Rebellen einzuschleimen.

** Aus: junge Welt, 14. Juni 2011


Dokumentiert: Stellungnahme der IPPNW

Frieden in Libyen braucht Verhandlungen mit allen Seiten

Die IPPNW fordert die Bundesregierung auf, den Konflikt in Libyen nicht durch eine Vorwegnahme des vom Westen erwünschten Kriegsergebnisses anzuheizen. Der stellvertretende IPPNW-Vorsitzende Christoph Krämer appellierte an Außenminister Westerwelle, auch weiterhin mit der amtierenden Regierung zu kommunizieren, ihre Friedensinitiativen ernst zu nehmen und aufzugreifen und auch Tripolis zu besuchen, um sich dort ein eigenes Bild von den Folgen der NATO-Bombardierungen zu machen.

IPPNW-Pressemitteilung vom 14.6.2011

Christoph Krämer, Vorstandsmitglied der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, nimmt den Besuch zweier deutscher Minister bei den Rebellen in Libyen zum Anlass, daran zu erinnern, dass "die äußere militärische Einmischung in einen Bürgerkrieg zugunsten einer Partei völkerrechtswidrig ist".

Um einen dringend nötigten Waffenstillstand und anschließende Friedensverhandlungen in Libyen nicht per se zu unterlaufen fordert er von der Bundesregierung, „den Konflikt nicht durch Vorwegnahme des westlicherseits erwünschten Kriegsergebnisses anzuheizen, sondern auch mit der weiterhin amtierenden Regierung zu kommunizieren, ihre Friedensinitiativen ernst zu nehmen und aufzugreifen und auch Tripolis zu besuchen, um sich dort ein eigenes Bild von den Folgen der NATO-Bombardierungen zu machen.“

Mit der Anerkennung des Übergangsrat der gegen Gaddafi kämpfenden Rebellen und der Eröffnung eines deutschen Verbindungsbüros in der ostlibyschen Metropole Bengasi reiht sich Deutschland in die Phalanx jener ein, die gute Beziehungen und Nachkriegsgeschäfte mit dem größten afrikanischen Erdölproduzenten machen wollen.

Obwohl Deutschland sich bei der UN-Resolution 1973 der Stimme enthalten hat, unternimmt die Bundesregierung unterhalb der direkten militärischen Interventionsschwelle alles, was ihrer Ansicht nach deutschen Interessen und der NATO-Bündnistreue dienen könnte. Die völkerrechtlich fragwürdige UN-Resolution wurde mit dem Schutz der libyschen Zivilbevölkerung gerechtfertigt. Die Äußerungen von Politikern der intervenierenden Koalition und die Angriffsaktionen der NATO-Kräfte belegen dagegen seit geraumer Zeit, dass nunmehr ein „Regime Change“ zum militärischen Endzweck geworden ist.

Christoph Krämer bestärkt die grundsätzliche Haltung der IPPNW, dass durch Krieg kein wirksamer Frieden für eine Gesellschaft zu erreichen ist. Die Geschichte belegt immer wieder die verheerenden Auswirkungen von Krieg und Bürgerkrieg auf die sozio-ökonomischen Indikatoren. Sie zeigt zugleich einen häufigen Übergang in eine gewalttätige Nachkriegsgesellschaft mit massenhaften Übergriffen und drohendem Genozid.

Der von einer internationalen Koalition unterstützte Bürgerkrieg in Libyen tötet und vertreibt zehntausende Menschen. Laut Angaben des UN-Hilfswerkes für Flüchtlinge (UNHCR) gibt es bis zu 100.000 interne Flüchtlinge im Land. Über 900.000 ausländische Arbeitskräfte wurden von den blutigen Auseinandersetzungen überrascht, ca. einem Drittel soll die Ausreise aus Libyen bislang gelungen sein. Insgesamt wird von einer Flüchtlingszahl von einer Million Menschen ausgegangen. Hunderte, wenn nicht tausende von ihnen sind bei ihrer Flucht über das Mittelmeer ertrunken. Noch gibt es keine nachprüfbaren Zahlen über die Opfer des Bürgerkrieges und der NATO-Intervention, geschätzt wird, dass es bislang über 15.000 Tote gegeben haben könnte.

Quelle: Website der IPPNW, 14. Juni 2011; www.ippnw.de




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