Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Gegen die Logik des Krieges

Von Peter Strutynski *

Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien, bzw. gegen das, was zu jener Zeit noch von Jugoslawien übrig geblieben war, bedeutete eine Zäsur in der Geschichte der NATO und der Bundesrepublik Deutschlands.

Dieser Krieg wurde geführt, ohne dass ein einziger NATO-Soldat zu Schaden gekommen wäre. Auf serbischer Seite dagegen wurden zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung gezählt, Brücken zerstört, Flüchtlingstrecks und Züge angegriffen, Klöster, Kirchen und andere Kulturdenkmäler zerstört, Krankenhäuser und Schulen dem Boden gleichgemacht und Botschaftsgebäude und Fernsehanstalten zerbombt.

Erstmals in ihrer damals 40-jährigen Geschichte trat die NATO in einen Krieg ein – allerdings ohne sich verteidigen zu müssen, sondern um anzugreifen. Und zum ersten Mal beteiligte sich das größer gewordene Deutschland an einem Krieg auf einem Schauplatz, der bislang – einem Diktum des früheren Kanzler Helmut Kohl zufolge – für deutsche Soldaten Tabu sein sollte. Das war in der Tat ein gewaltiger Schritt aus einer Phase der außenund militärpolitischen Zurückhaltung in eine neue Phase selbstbewusster politischer und militärischer Interessenvertretung.

Nie wieder Krieg ohne Deutschland?

Die Zeit des Kalten Kriegs war dadurch gekennzeichnet gewesen, dass die BRD in ihrem außenpolitischen Handlungsspielraum einerseits eingeschränkt war (es galten die alliierten Vorbehaltsrechte), andererseits als Partner der Westmächte durchaus gleichberechtigt auftreten konnte – wozu auch der wirtschaftliche Aufschwung wesentlich beitrug. Die letzten Reste der alliierten Vorbehalte wurden erst mit dem Zwei-plus-Vier- Vertrag und der deutschen Einigung beseitigt. Im Zwei-plus-Vier-Vertrag hieß es in Artikel 7: „Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.“ Allerdings wurde Deutschland darauf verpflichtet, dass „von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird“ (Art. 2), dass es „auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen“ verzichtet (Art.3) und dass die Personalstärke seiner Armee einen bestimmten Umfang nicht überschreitet (ebd.).

Der Verzicht auf Massenvernichtungswaffen ist indessen keine wirkliche Beschränkung; sie gilt für alle Staaten, die den entsprechenden Rüstungskontrollregimen beigetreten sind (Atomwaffensperrvertrag, Konventionen über biologische und chemische Waffen). Und die besondere Friedensverpflichtung war in der Sache bereits im Bonner Grundgesetz enthalten, in dem es in Art. 26, Ziffer 1 heißt: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“

Mit Kriegslügen zum Menschenrechts-Desaster

Die beiden größten und skandalösesten Kriege, an denen sich Deutschland beteiligte und heute noch beteiligten, waren der Krieg gegen Jugoslawien 1999 und ist noch heute der Krieg in Afghanistan. Beide wurden angeblich aus „humanitären“ Gründen geführt. 1999 sollte eine humanitäre Katastrophe verhindert werden. Dazu wurden der deutschen Öffentlichkeit faustdicke Lüge aufgetischt: Von einem serbischen Vernichtungsplan der Kosovo-Albaner, dem sog. Hufeisenplan, war die Rede, von einem Racak- Massaker und sogar von „serbischen KZs“. Die wirkliche humanitäre Katastrophe trat aber erst ein, als die NATO am 24. März 1999 mit ihren Bombardierungen begann. Hunderttausende Kosovo-Albaner flüchteten in die angrenzenden Länder. Im Ergebnis des Krieges wurden rund zweihunderttausend Serben aus dem Kosovo vertrieben, wurde ein faktisches Protektorat des Westens errichtet und schließlich – gegen jedes Völkerrecht – ein unabhängiger Staat ausgerufen.

Mit Lügen war auch der Krieg gegen Afghanistan gepflastert. Ging es zunächst ausschließlich um die Organisierung dessen, was George W. Bush als Reaktion auf den 11. September 2001 den „Krieg gegen den Terror“ nannte, so wurden im Laufe der Zeit zusätzliche Begründungen für den Krieg nachgeschoben. Die ökonomische und politische Rückständigkeit des Landes waren das eine, was ins Feld geführt wurde, wenn die Interventionsmächte versprachen, Afghanistan „aufzubauen“ und demokratische Strukturreformen durchzusetzen. Die fast völlige Abwesenheit garantierter universeller Menschenrechte (Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung der Geschlechter, Recht auf Bildung usw.) legte es nahe, den Fokus auf den Menschenrechtsdiskurs zu legen. Eine prominente Rolle im Menschenrechtsdiskurs nahm die Stellung der Frau in Afghanistan ein. Der Krieg wurde der Öffentlichkeit verkauft als Kampf um die Befreiung der Frau.

Das Ergebnis ist bis heute – nach fast zehn Jahren Krieg! – ein totales Desaster. Von Frauenrechten kann im Land außerhalb Kabuls keine Rede sein, die Analphabetenquote ist heute nicht geringer als vor 10 Jahren, die Jugendarbeitslosigkeit ist stark angestiegen, immer größere Teile der Bevölkerung leiden an Hunger und Mangelernährung und auch der Terrorismus konnte weltweit keineswegs eingedämmt werden.

Pervertierung der UN-Charta

Am 19. März 2011 haben die NATO- Staaten USA, Frankreich und Großbritannien eine Militärintervention gegen Libyen begonnen. Eine Legitimation ziehen sie aus einer Resolution des UN-Sicherheitsrats [Res. 1973 (2011)]. Die aber ist mindestens ebenso problematisch wie der Krieg selbst. Die UNO-Charta, die entstanden war aus den Erfahrungen zweier schrecklicher Weltkriege, gibt ganz klare Antworten: Weder die "Anwendung" noch die "Androhung von Gewalt sind in den internationalen Beziehungen erlaubt (Art. 2, Abs. 4). Vom strikten Gewaltverbot gibt es drei Ausnahmen:
  • a) Jeder Staat darf sich gegen eine militärische Aggression zur Wehr setzen (Verteidigungsrecht nach Art. 51).
  • b) Im Falle einer "Bedrohung" oder eines "Bruchs des Friedens", kann der UN-Sicherheitsrat Maßnahmen gegen einzelne Staaten ergreifen: Von Sanktionen bis hin zu militärischen Maßnahmen (Art. 39 bis 42). Die Maßnahmen müssen geeignet sein, "den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen".
  • c) Des Weiteren kann der UN-Sicherheitsrat Maßnahmen anordnen im Falle von Völkermord oder massiven Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Um es ganz klar zu sagen: Keine der genannten Bedingungen ist im Fall Libyen erfüllt. Der UN-Sicherheitsrat hat gegen seine eigenen Prinzipien verstoßen.

Der häufig strapazierte Hinweis auf eine besondere „Schutzverantwortung“ („responsibility to protect“), wonach die internationale Staatengemeinschaft verpflichtet sei, in Staaten einzugreifen, deren Regierungen nicht fähig oder nicht willens sind, die eigenen Bevölkerung vor systematischen Menschheitsverbrechen zu schützen bzw. sie sogar selbst begeht, trifft im Fall Libyen ebenfalls nicht zu. Amnesty international bewertet die Auseinandersetzungen in Libyen als einen Bürgerkrieg, der ein militärisches Eingreifen von außen nicht rechtfertige. Das, was die NATO – die am 31. März die operative Leitung des Krieges übernahm – in Libyen macht, ähnelt sehr stark dem Vorgehen gegen Jugoslawien vor 12 Jahren: Mit ihren Raketen- und Bombenangriffen fungiert sie als „Luftwaffe“ der Rebellen von Bengasi und Misrata. Aus der „Verantwortung zu schützen“ ist längst eine unverantwortliche Schützenhilfe für die libysche bewaffnete Opposition geworden.

Flugverbotszone – Türöffner zum Angriffskrieg

Selbst wenn man die anfängliche Begründung für die Einrichtung einer „Flugverbotszone“ geteilt hat, müsste auf Grund des Kriegsverlaufs jedem klar geworden sein, dass der Libyen- Einsatz der NATO zu einem ganz ordinären Angriffskrieg geworden ist, unter dem Zivilpersonen am meisten zu leiden haben, und zwar auf beiden Seiten der unklaren Front. Das hat die schwarz-gelbe Bundesregierung besser verstanden als die grün-sozialdemokratische Opposition. Letztere schlägt unaufhörlich die Kriegstrommel und fordert eine beherztere Teilnahme der Bundeswehr an dem NATO-Krieg – aus „humanitären“ Gründen und aus Gründen der „Bündnissolidarität“. Deutschland, so wird behauptet, habe sich mit seiner partiellen Kriegszurückhaltung in NATO, EU und UNO isoliert und beschreite einen gefährlichen „Sonderweg“. Dem wäre nun erstens entgegenzuhalten, dass nur eine Minderheit der NATO-Mitglieder sich an dem Krieg beteiligt, dass sich - zweitens - Deutschland im UN-Sicherheitsrat mit der Enthaltung zwar gegen die Supermacht USA und die alten Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien gestellt, gleichzeitig aber mit den BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, die immerhin fast die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren) gestimmt hat, womit sich drittens der Vorwurf des deutschen „Sonderwegs“ von selbst erledigt hat.

Friedensbewegung gegen mediales Trommelfeuer

Die Friedensbewegung hat eine relativ klare Haltung zum Libyen-Krieg eingenommen. Schon das Zustandekommen der UN-Resolution wurde sehr kritisch aufgenommen. Klar war auch, dass der Westen von Anfang an eine bewaffnete Rebellenbewegung unterstützte, die für eine andere Machtverteilung im Land kämpfte, mit Demokratie und Menschenrechten aber höchstens in der Rhetorik etwas zu tun hatte. Das machte auch den großen Unterschied zu den vorangegangenen Entwicklungen in Tunesien und Ägypten aus: Dort setzten unbewaffnete Massenbewegungen die diktatorischen Regime unter Druck und zwangen sie zur Abdankung; hier agierte eine vergleichsweise dünne zivilgesellschaftliche Protestbewegung, die alsbald von bewaffneten Formationen unterschiedlichster Herkunft verdrängt wurde.

Die Friedensbewegung, obwohl entschieden in der Verurteilung des Gaddafi-Regimes, tat gut daran, sich nicht – wie es die Grünen, die SPD und die Mainstream-Medien taten – auf die Seite der Aufständischen zu schlagen, sondern in diesem Bürgerkrieg eine strikte Neutralität einzufordern und auf das Völkerrecht zu pochen.

Angesichts des medialen Trommelfeuers – das an die Propaganda gegen Jugoslawien 1998/99 erinnert – blieben allerdings die Aktionen der Friedensbewegung bescheiden. Über Informationsveranstaltungen und gelegentliche Mahnwachen im öffentlichen Raum gingen die Aktionen kaum hinaus. Ein besseres Bild lieferten erst die vielen Ostermärsche ab, in denen der Libyen-Krieg neben Afghanistan einen großen Stellenwert einnahm. Zu wenig aber auch dies, wenn man an die Perspektiven des Krieges denkt: Die NATO wird diesen Krieg so lange führen, bis Libyen entweder ganz oder zumindest teilweise „befreit“ bzw. in die Abhängigkeit des Westens gebracht sein wird. Und das kann dauern.

* Dr. Peter Strutynski, Politikwissenschaftler und Friedensforscher, Lehrbeauftragter an der Universität Kassel; Mitglied der AG Friedenforschung und Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag


Dieser Beitrag erschien in: FriedensJournal, Nr. 3, Mai 2011, S. 13-14.

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