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Nicht in meinem Namen!

Rede von Fanny Michaela Reisin, Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost *

Trauer am Lebanon-Gebirge

Oh Lebanon, Ihr weißen Berge, die der Landschaft den Namen gabt.
Oh Lebnon, leban, weiß, ist die Farbe der Reinheit und der Unschuld.
Oh Lebanon, Ihr erhabenen Berge die Ihr das Land zwischen Mittelmeer und Syrischer Wüste im Schatten der würdigen Zedern Tausende Jahre schon schaut.
Ihr seid nicht geschaffen, für den Tod aus dem Himmel und erschaudert gewiss im Angesicht der Erde zu Euren Füßen.
Die Täler bluten, die Städte und Dörfer rauchen.
Das Mittelmeer, das Euch aus der Ferne seit je her blau entgegen leuchtet, stockt.
Leere Sonnenstühle erinnern noch an den gelben Sand.
Schwarz und klebrig ist der Strand. Öl heißt die Pest.
Oh Lebanon von Kurnat al-Saude bis Dschabl al-Schaich.
Zerberstet nicht im Angesicht des Schmerzes weinender Kinder und Mütter an Eurer Brust. Bleibt stark.
Wir brauchen Euch als Zeugen.


Liebe Teilnehmer und Teilnehmerinnen!

Ich stehe heute hier als Vertreterin der Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost und rufe laut und vernehmlich:

NICHT IN MEINEM - NICHT IN UNSEREM NAMEN.

Die Regierenden in Israel missbrauchen nicht nur meinen Namen. Sie haben die Stirn, sich auf meine ermordeten Vorfahren zu berufen. Sie schämen sich nicht, meine in den KZs und Massengräben des Naziregimes um ihr Leben gebrachten Großeltern zur Rechtfertigung ihrer Untaten in Libanon und Palästina heran zu ziehen. Die Toten können sich nicht wehren. Aber ich, die ich im Schatten ihrer Ermordung geboren wurde und aufwuchs, spreche Ihnen das Recht ab Ministerpräsident Olmert, Verteidigungsminister Peretz und allen voran Ihnen Chefkommandierender, Haluz, ich spreche Ihnen das Recht ab, sich auf mein Gedenken an die schuldlos Ermordeten zu berufen, wenn rohe Gewalt Ihr Programm und Mord und Zerstörung Ihr Tun ist. Es schändet die Toten, wer im Gedenken an sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht.

Immer mehr Menschen jüdischer Herkunft demonstrieren ihren Zorn auf allen Kontinenten – auch in Israel– alle schreien es heraus: Die unter Verstoß gegen die IV Genfer Konvention seit 39 Jahren, seit 39 Jahren! Andauernde Besatzung, die Entrechtung, Unterdrückung und tagtägliche Demütigung der Palästinenser, die unzähligen militärischen Übergriffe gegen ein Volk ohne Staat und ohne Armee und der neuerliche Angriffskrieg gegen Libanon und Gaza sind das schmachvolle Werk jener, die behaupten Führer der Juden der Welt zu sein.

In ihrer Arroganz und in ihrer Fixiertheit auf moderne Technologien der Zerstörung, treten sie die Lehren der Völkergemeinschaft nach den Erfahrungen des Judenhasses des Naziregimes mit Füßen. Die kostbarste und wichtigste Lehre lautet: Es hat kein Volk das Recht, ein anderes Volk gering zu schätzen. Es hat kein Mensch das Recht sich als Herrenmensch über andere Menschen zu erheben.

Die Charta der Vereinten Nationen, die nur einen Monat nach Ende des Zweiten Weltkrieges zur Erhaltung des Weltfriedens und Wahrung der internationalen Sicherheit verabschiedet wurde, beruht darauf, dass jede Nation den Grundsatz – ich zitiere – "… der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker" achtet. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte proklamiert in Art. 1 Satz 1. "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren."

Mit jedem weiteren Tag des Waffengangs der israelischen Armee gegen die Zivilbevölkerung und gegen lebensnotwendige Ressourcen in Libanon und Gaza, wird auch ein Stück internationales Recht zerstört. Mit jeder weiteren Stunde, die Familien obdachlos und Kinder zu Waisen macht, stirbt das Vertrauen in die Autorität der Vereinigten Nationen.

Schaden nehmen nicht nur die Menschen dort. Schaden nehmen weltweit alle, auf Rechtsverhältnisse anstelle von Gewalt sowie auf Frieden und auf Respekt im internationalen Umgang miteinander setzt.

Die Politik der Doppelmoral und der doppelten Rechtsstandards vor allem der USA und ihrer Verbündeten in Europa MUSS angeprangert werden.

Es kann nicht sein, dass eine souveräne Nation überfallen und seit Wochen unsäglichen Anschlägen ausgesetzt wird und die Völker der Welt, die seine Menschen um Hilfe rufen, wochenlang tatenlos zuschauen.

Es kann nicht sein, dass der Aggressor ungestraft bleibt und von der Supermacht Nr. 1 und ihren Partnern Zeit bekommt, aus der Luft und auf dem Boden Mensch, Kultur und Natur zu zerstören.

Es kann nicht sein, dass Gaza – ohnehin schon völkerrechtswidrig ummauert und ohne Fluchtmöglichkeit für niemanden – angegriffen und durch Dauerbeschuss mit Lärm- und Todesbomben erklärtermaßen politisch, psychisch und physisch zerstört werden soll, ohne, dass die israelische Regierung zur Raison gerufen und zum Waffenstillstand gezwungen wird. (Immer noch nicht. In der jüngsten UN-Resolution kein Wort von Gaza.)

Und es kann schließlich NICHT sein, dass der Präsident der USA ermächtigt ist, uns vorzuschreiben, welche Praxis als Terror und welche als Verteidigung zu begreifen ist.

Jeder Menschen mit Herz und Verstand erkennt doch sofort, dass der Krieg Israels in Gaza und Libanon als Terror zu geißeln ist. Es liegt doch auf der Hand, dass andere Ziele als die, die vorgegebenen verfolgt werden. Jedes lernt schon in der Schule, dass gefangene Soldaten nur auf dem Wege von Verhandlungen zurückgeholt werden können. Selbst der Vater des in Gaza gefangenen Soldaten Gilad Schalit, dem es – wie anders auch? – tatsächlich um das Leben seines Sohns geht, führt bittere Klage über die Logik der Strategie seiner Regierung.

Verhandlungen wurden und werden von der Hizbollah und von der Hamasregierung immer wieder angeboten. Alle Angebote stießen und stoßen bis auf den heutigen Tag auf taube Ohren. Verhandlungen über Gefangenenaustausch und über eine langfristige und tragfähige Friedenslösung für Palästina, Libanon und Israel in sicheren Grenzen sind nicht erwünscht. Es geht um höhere Ziele. Es geht um die neue Aufteilung der Welt unter den Supermächten. Israel gehört nicht dazu, und um Israels Hegemonie in der Region geht es auch gar nicht. Die Regierung Israels macht, ob bewusst oder nicht, ihre Bevölkerung, die sie zu schützen behauptet zur Geisel fremder Interessen. Tote und Verletzte auch hier, junge Menschen, die sinnlos ihr Leben lassen mussten.

Die Regierungen der USA und zunehmend auch ihre europäischen Partner machen sich schuldig, Terror als Mittel der Politik zu etablieren, wenn Israel nicht der Aggression verurteilt wird. Die Tinte unter der heute Nacht verfassten Resolution des "geringsten Drucks" mit der Nummer 1701 war noch nicht trocken, als Olmert der israelischen Bevölkerung bereits zu erklären wusste, dass die Welt dem Angriffskrieg zustimme, Hizbollah als Aggressor identifiziere. Israel ging trotz des eindeutigen Überfalls auf Gaza und auf Libanon wieder straffrei aus. DerAngreifer wird nicht einmal getadelt. Eine solche Politik d der Supermächte blendet die Statuten des Internationalen Rechts aus. Sie lädt gerade dazu ein, Waffengewalt und Angriffskriege zur Durchsetzung nationaler und supranationaler Interessen loszutreten.

Da wir seit Wochen vergeblich auf eine entsprechende Resolution der Vereinten Nationen gewartet haben, da eine Verurteilung der Angriffskriege Israels und eine wirksame Politik zur Herstellung eines sofortigen Waffenstillstands nicht nur am Veto der USA, sondern am Stillschweigen der EU-Nationen einschließlich der Bundesregierung scheiterte, da die von den USA und Frankreich eingebrachte Resolution nicht geeignet ist, um auch nur kurzfristig eine vollständige Waffenruhe herzustellen, wie gesagt der Krieg gegen Gaza wird gar nicht erwähnt, gibt es für Menschen wie Dich und mich, die schon am Angerichteten verzweifeln keine Instanz, die wir anrufen könnten.

Sprechen wir es klipp und klar aus wenn der Sicherheitsrat der Vereinigten Nationen es nicht tut: Die Regierungen der USA und der EU decken und stützen – Israel hat ja heute noch seine Invasion erweitert – Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit!

Es ist die Aufgabe der außerparlamentarischen Kräfte, der Bürger und Bürgerinnen hier vor Ort, Druck auf die Regierenden auszuüben, wenn die UNO nicht zu einer Absegnungsagentur von Kriegen der USA verkommen soll.

Die Bundesregierung bekennt sich dem Vernehmen nach lautstark zum Völkerrecht und hat die Verteidigung der Menschenrechte und Erhaltung des Friedens auf ihre Fahnen geschrieben. Lippenbekenntnisse allein reichen aber nicht, Frau Bundeskanzlerin Merkel! Bringen Sie das internationale Gewicht der Bundesrepublik Deutschland ein, um einen sofortigen und vollständigen Waffenstillstand zu erreichen, um Israel zum Rückzug aus Libanon und Gaza zu bewegen und, um schließlich Verhandlungen unter allen Beteiligten über einen dauerhaften und für jede Partei tragfähige Lösung einzuleiten, die auch zu Ende gebracht werden. Die bisherige deutsche Politik der Doppelmoral in der EU, in der UNO und auch in den politischen Missionen des Außenministers ist geeignet Ihre Glaubwürdigkeit zu untergraben Frau Bundeskanzlerin Auch Ihre Glaubwürdigkeit in Sachen Verantwortung gegenüber den Juden in Israel.

Israel ist ein Mitglied der Vereinten Nationen. Die Politik seiner Regierungen muss mit denselben Rechtsstandards beurteilt werden, wie die aller anderen Regierungen auch. Die Anerkennung des Existenzrechts Israels in den Grenzen von 1967 ist von Seiten der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO zigfach – auch de Jure bestätigt worden. Es ist bekannt, dass die Hamas bereits 2005 einen Aufnahmeantrag in die PLO gestellt hat und sich damit de facto auch selbst bereit finden muss, das Existenzrecht Israels anzuerkennen. Israels Existenz ist gegenwärtig nicht bedroht. Von keiner Seite. Das wissen die Regierenden genau so gut wie wir. Äußerst bedroht ist demgegenüber im Moment die Existenz und Zukunft des Staates Libanon. Dem Existenzrecht eines lebensfähigen Staates Palästina hat die israelische Regierung noch nie zugestimmt.

Keine Frage: der Staat Israel verfügt über alle Mittel, seine Bevölkerung in den territorialen Grenzen des von der UNO anerkannten Staatsgebiets zu schützen.

Warum sichert das Militär nicht die eigenen Grenzen maximal ab? Warum werden die jungen Menschen dort seit Jahrzehnten für Ziele mobilisiert, die die ganze Region, ja die ganze Welt, entsetzen und in Schrecken versetzen? Wohin treibt die israelische Regierung, wohin treibt Israel? Wozu die Zerstörungen, wozu die Toten auch in Israel?

Eine deutsche Politik, die sich als wirklich "verantwortlich für das Erbe der deutschen Geschichte" erweisen will, darf nicht zulassen, dass die Regierung Israels ihre Bevölkerung in einen Krieg treibt, der schon jetzt Folgen hat, die sich kaum rückgängig machen lassen.

Ich appelliere an die Bundesregierung, im Interesse der Menschen in Libanon, in Palästina und in Israel, ich appelliere an die Bundeskanzlerin, an ihr Kabinett und an den Bundestag, an Parteien und Verbände auch in unser aller Interesse hierzulande: Vereiteln sie eine Politik, die auf militärische Gewalt und nicht auf Reden und Verhandeln setzt!

Gestatten Sie mir zum Abschluss, obwohl es von der Ebene nicht passt einen Landessenator gleichzeitig mit Bundespolitikern und internationalen Organisationen anzusprechen – ein Wort auch an den Berliner Innensenator Körting zu richten.

Angesichts des Elends in Libanon, wir hören täglich, dass selbst Lebensmittelkonvois blockiert sind, wir hören von Obdachlosigkeit und Flucht, hat es uns erschreckt, wie Sie, Herr Innensenator, mit der Möglichkeit eines humanitären Beitrags auch unserer Stadt, etwa durch Aufnahme eines Kontingents von Flüchtlingen umgegangen sind. Ihre Einlassungen, etwa dass die reichen arabischen Nachbarstaaten vor Ort zur Verantwortung heranzuziehen seien, könnte Ihnen verziehen werden, da Landesinnen- und nicht Bundesaußenpolitik Ihr Zuständigkeitsbereich ist. Dass Sie aber potentielle Flüchtlinge aus Südlibanon, schiitische Muslime generalis unter den Terrorverdacht stellen, ist ein Skandal. Dass Sie diesen noch überbieten und ausführen, dass Berlin angesichts der großen jüdischen Gemeine ich zitiere "ein denkbar ungünstiger Ort für die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Südlibanon" sei, ist unerträglich. Ich wundere mich, dass die jüdische Gemeinde nicht protestiert in der Weise für eine restriktive und inhumane Flüchtlingspolitik missbraucht zu werden. Mit Erklärungen solcher Art, erwecken Sie doch den Eindruck, dass die Bürger und Bürgerinnen jüdischer Herkunft einen begünstigten Status gegenüber solchen muslimischer und insbesondere schiitischer Herkunft genössen. Statt mit manipulativen Einschätzungen dieser Art Neid und Feindseligkeiten zu schüren, hätten Sie doch wenigstens, wie es der Flüchtlingsrat und Pro Asyl fordern, ein bestimmtes Kontingent oder die Aufnahme von obdachlos und elternlos gewordenen Kindern und Jugendlichen oder aber mindestens die Aufnahme und Versorgung von Kranken und Verletzten vorschlagen können. Wann, wenn nicht jetzt, will Berlin Kriegsflüchtlinge aufnehmen?
Korrigieren Sie Ihre Politik Herr Innensenator. Es stünde unserer Stadt, als Hauptstadt der Bundesrepublik gut zu Gesichte, in Zeiten der Not ihr humanitäres Antlitz zu demonstrieren. Die Aufnahme von Kranken und Verletzten aus Libanon und Gaza muss möglich sein.

* Fanny Michaela Reisin, Prof. Dr., Berlin, Vertreterin der deutschen Sektion der Föderation "EUROPEAN JEWS FOR A JUST PEACE" (EJJP); Frau Reisin hielt die Rede auf einer Friedenskundgebung in Berlin am 12. August 2006.


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