"Wandel ohne politische Macht ist illusionär"
Gespräch mit François Houtart. Über die Ethik des Kapitalismus, die sozialen Bewegungen Lateinamerikas als historisches Subjekt des Wandels und die Notwendigkeit der "kleinen Schritte" *
François Houtart, 1925 in Brüssel geboren, ist katholischer Priester und marxistischer Soziologe. Mitbegründer des Weltsozialforums von Porto Alegre 2001
Als Mitbegründer des Weltsozialforums meinen Sie auch heute noch »Eine andere Welt ist möglich«. Von welchem Menschenbild geht dieser Aufruf aus in einer Zeit, in welcher der »homo oeconomicus« seine Konsumgier weiter hemmungslos auslebt und seine dominante Rolle global gefestigt sieht?
Das Menschenbild ist grundlegend für die Formulierung eines gesellschaftlichen Projektes. Den Menschen auf den Status eines einfachen Konsumenten zu reduzieren, so wie es die Logik des Kapitalismus tut, ist augenscheinlich eine nicht hinnehmbare philosophische Reduktion. Gerade darum bedient sich der »real existierende Kapitalismus« auch eines die Menschenrechte, Demokratie und Freiheit reklamierenden Diskurses. Worum es jedoch geht, ist die Rückkehr zu einer ganzheitlichen Sicht davon, was den Menschen wirklich ausmacht: Das Leben in Symbiose mit der Natur, in einem kollektiven Ganzen, wo der Wert des Lebens in all seinen biologischen, sozialen, kulturellen und spirituellen Dimensionen im Vordergrund steht. Im Dienste dieser Vision, die der materialistischen Reduzierung auf den Konsumentenstatus und dem falschen Individualismus, welche Konsum als eigenen Wert fördert, entgegengesetzt ist, muß das politische, wirtschaftliche und soziale Ganze erbaut werden. Der Sozialismus des 20. Jahrhunderts hat unbestreitbar nicht den Anforderungen dieser gesamtheitlichen Bedürfnisse entsprochen.
Warum nicht?
Aus ökologischer Sicht war er genau so zerstörerisch wie der Kapitalismus. Die Erklärung dafür ist die, daß der Sozialismus des 20. Jahrhunderts auf die philosophische Grundlage des Kapitalismus eingeschwungen ist: Die Ausbeutung der Natur. Denn erklärtes Ziel war es, das Konsumtionsniveau des entgegengesetzten kapitalistischen Systems zu erreichen. Auch in der demokratischen Ausübung der Macht ist er vom Weg abgekommen. War zu Beginn die Mulitkulturalität noch erwünscht, so wurde dieses Ideal immer schwieriger zu realisieren, vor allem aufgrund des Atheismus, der zur Staatsreligion wurde.
Sie verstehen die Ethik des Kapitalismus analog zu den Versprechen der Weltreligionen, die Marktmechanismen würden demnach das Reich Gottes auf Erden schaffen. Was kann eine nachkapitalistische Ethik bieten?
Die Ethik des Kapitalismus ist eine auf sein System begrenzte Moral: Verhaltenskodex, Funktionieren der Institutionen, etc. Ihr innewohnend liegt ein grundlegender Widerspruch zur Ethik des Lebens, da einzig anerkannter Wert und somit Motor und Ziel kollektiver menschlicher Organisation der Markt ist, welcher wiederum die unverzichtbare Basis für die Anhäufung von Kapital darstellt. Derart entsteht ein wahrer Messianismus, der sich in internationalen Finanzinstitutionen und Reden von Politikern und Ökonomen ausdrückt. Berühmtes geschriebenes Beispiel ist Francis Fukoyamas »Ende der Geschichte«. Eine nachkapitalistische Ethik kann sich nur auf die Ethik des Lebens stützen. Also die Möglichkeit der Vervielfältigung und Verbesserung des Lebens in all seinen Dimensionen. Die Wirtschaft definiert sich darin nicht als Wertschöpfung privater Façon, sondern als menschliches Handeln zwecks Sicherung der physischen, kulturellen und geistigen Lebensgrundlage aller Menschen. Jedes politische und wirtschaftliche Konstrukt muß sich an diesem Paradigma messen lassen.
Angesichts vermeintlich fehlender Alternativen flüchtet sich der Großteil westlicher Bevölkerung ins Private zurück, es besteht kaum Interesse an gesellschaftlichen Fragen, in Deutschland begrüßen neokonservative Stimmen die »Neue Bürgerlichkeit«. In Lateinamerika hingegen kritisiert eine aktive Masse den Kapitalismus, das politische Klima verändert sich. Warum dort und nicht etwa in Europa?
In Lateinamerika ist man vom Widerstand gegen den Neoliberalismus übergegangen zu einem Ingangsetzen von Alternativen. Dabei handelt es sich nicht um die Etablierung einer postkapitalistischen oder gar sozialistischen Gesellschaft, noch nicht, aber um einen bedeutenden Richtungswechsel. Betrachtet man den aktuellen Stand der Dinge, so ist Lateinamerika der einzige Kontinent, der sich in ernstzunehmender Weise in eine solche Richtung orientiert. Das ist nicht der Fall in Asien, wo der Neoliberalismus noch als eine Chance angesehen wird, und nicht als Aggression. Nicht in der arabischen Welt, wo er mehr als kultureller Angriff verstanden wird. Nicht in Afrika, wo das Panorama der letzten 50 Jahre von der Konstruktion des politischen Subjekts bestimmt war. Und auch nicht in Europa, hier bleibt der Kapitalismus weiterhin schlicht hegemonial. Trotz der immer weiter auseinanderklaffenden sozialen Unterschiede und aller negativen Auswirkungen der neoliberalen Phase des Kapitalismus hat ein allgemeines Bewußtsein radikaler Kritik an der Logik des Kapitals in Europa nicht eindringen können. Die große Mehrheit, Gewerkschaften mit eingeschlossen, glaubt immer noch an die Marktwirtschaft als Lösung aller Probleme. Darum übt das Kapital weiter seine Vormachtstellung aus, die sozialen Kämpfe werden lediglich für den Erhalt von Sozialleistungen und Kaufkraft ausgetragen.
Keine grundlegende Kritik also am kapitalistischen Entwicklungsmodell?
Überhaupt nicht. Das aktuell vorherrschende Entwicklungsmodell beruht ganz klar auf dem Marktprinzip im Dienste der Kapitalanhäufung. Darum sehen wir in einem Teil der Welt teilweise spektakuläre wirtschaftliche Wachstumsraten, doch nur bei einem Fünftel der Weltbevölkerung und gleichzeitigem immer weiter Auseinanderklaffen der sozialen Abstände. In der Logik des Kapitalismus ist es interessanter, für dieses Fünftel ausgefeilte Waren mit hohem Wertaufschlag zu produzieren, anstatt dem Rest der Menscheit, das nur schwache oder keine Kaufkraft besitzt, einfache Waren des täglichen Gebrauchs anzubieten. Nimmt die kapitalistische Logik diesen Widerspruch aus menschlicher und sozialer Sicht nicht wahr, könnte er sie nicht für sich nutzen? Langfristig gesehen wäre es doch interessant, die komplette Weltbevölkerung in eine einzige Masse von Konsumenten zu verwandeln, die fähig ist, alle Waren und Dienstleistungen zu absorbieren. Doch der Kapitalismus denkt nicht langfristig, nur über kurze Zeiträume, höchstens sehr mittelfristig. Wir haben es mit einer stark ausgeprägten Finanzwirtschaft zu tun, wo das Kapital den wirtschaftlichen Motor und die Dynamik der Gewinne am Laufen hält, und so die Akkumulation bewirkt. Gerät diese Wirtschaft durch Überproduktion oder Unterkonsumption in die Krise, dann sind die Gegenmaßnahmen immer kurzfristige Reaktionen. Der Kapitalismus muß sofort gerettet werden. Es gibt keine andere Lösung als die, beim alten System und seiner Logik zu bleiben. Darum muß ein anderes wirtschaftliches Entwicklungsmodell her, das dem Menschen und dem genannten Paradigma der neuen Ethik entgegenkommt. Dem Kapitalismus steht ein solches natürlich direkt entgegen, nicht aber einem sozialistischen Projekt, das die Fehler der Vergangenheit analysiert, aber neue Logiken entwickelt.
In Lateinamerika aber bewegt sich was ...
Ja. Denn dort sind die Träger und Multiplikatoren einer neuen Art politischen Denkens und Handelns in erster Linie die sozialen Bewegungen. Diese Bewegungen werden geboren durch die Widersprüche des kapitalistischen Systems und gehen zusammen durch die Bewußtseinswerdung eines gemeinsamen Feindes: Dem Neoliberalismus als zeitgenössische Form des Kapitalismus. Trotz der öffentlichen Wirksamkeit des Weltsozialforums ist man immer noch weit entfernt von einem breiten Bewußtsein zur Delegitimierung des Kapitalismus, aber etwas ist in Bewegung gekommen. Träger einer neuen Ethik sind zunächst die Opfer des Systems, was heute nicht mehr nur die Arbeiterklasse ist, sondern alle subalternen sozialen Gruppen weltweit. Diese stellen ein neues historisches Subjekt dar, vielfältig, klassenübergreifend, demokratisch. Und sie sind nicht allein, sondern werden unterstützt von progressiven NGOs und Intellektuellen. Gerade in Lateinamerika hat der von politischen Projekten wie ALCA oder dem Freihandelsvertrag mit den USA und Kanada getragene Neoliberalismus äußerst sichtbare Auswirkungen gehabt. Diese Projekte sind heute gescheitert, nachdem sich die Bevölkerung überall auf dem Kontinent gegen sie mobilisiert hat. Das Zusammengehen der sozialen Bewegungen, NGOs, Intellektueller, Parteien und teils Regierungen hat zum einen konkrete Ergebnisse – das Scheitern von ALCA – mit sich gebracht und zum anderen Anstoß für neue Initiativen wie ALBA, dem Handelsbündnis »Bolivarianische Alternative für Lateinamerika«, gegeben. Wahrscheinlich ist Lateinamerika der Kontinent, auf dem die Delegitimierung des Kapitalismus am stärksten gewesen ist.
In Ländern wie Kuba, Venezuela, Ecuador und Bolivien sind sozialistische Regierungen an der Macht. Widersetzen sie sich der vorherrschenden Logik wirtschaftlichen Handelns?
Vier entscheidende Ziele sind für einen Wandel unabdingbar: Gebrauch erneuerbarer Naturressourcen und deren kollektive Verwaltung, Privilegierung des Gebrauchswert vor dem Tauschwert, Demokratisierung aller sozialer Beziehungen und Multikulturalität. Der Sozialismus des 20. Jahrhunderts hat auf diese Fragen keine adäquate Antwort gefunden. Kuba wird heute von der Umweltorganisation World White Life bescheinigt, die Prinzipien des ökologischen Gleichgewichts bei der Entwicklung zu respektieren. Das liegt zum einen an der geringen Industrialisierung und an den wenigen Autos im Personenverkehr, ist aber auch Ergebnis gezielter Politik z. B. im Bereich der Stromerzeugung durch Dezentralisierung und durch Reduzierung des Verbrauchs, Einsatz neuer Glühbirnen und Kühlschränke etc. In Venezuela, Bolivien und Ecuador besteht die Frage der Nutzung von Öl und Gas. Ein Dilemma: Wie die Naturschätze nutzen, um der Armut zu entfliehen, Entwicklung zu garantieren, solidarische Politik mit den ärmeren Ländern der Region führen und gleichzeitig den ökologischen Anforderungen gerecht werden.
Schon Antworten gefunden?
Nicht nur in diesen Fragen ist man noch weit davon entfernt eine Lösung gefunden zu haben. Immerhin besteht mittlerweile ein Bewußtsein für das Problem, vor allem auch in Venezuela. Die große Frage ist zudem, was kommt nach dem Erdöl, wie kann eine auf anderer Grundlage aufgebaute Wirtschaft aussehen und wie kann die globale Erwärmung bekämpft werden? Diese Debatte ist in Gang, aber Lösungen sind nicht leicht zu finden. Die eklatante Ungerechtigkeit in den Nord-Süd-Beziehungen liegt heute aber offen wie selten auf dem Tisch. Darum sage ich: Nein zur totalen Liberalisierung des Handels. Nein zur Degradierung des Südens zum Agro-Diesel-Lieferanten des Nordens, solange die Lebensmittelversorgung der Bevölkerungen nicht sichergestellt sind. Nein zu den Steuerparadiesen, die einen großen Teil der Finanzressourcen der Entwicklungsländer aufsaugen, hervorgegangen vor allem aus kriminellen Aktivitäten, aus Drogen- und Waffenhandel, aus Prostitution. Nein zur Idee einer CO2-Börse, die den reichen Ländern weiter erlaubt, die Umwelt zu verschmutzen, indem sie eine kleine Entschädigung an die Länder zahlen, die nichts mit der Industrialisierung und ihren Auswirkungen zu tun haben.
Welches Handeln leiten Sie daraus ab?
Nicht auf den Niedergang des Kapitalismus warten, um soziale und ökologische Politiken, neue Formen der Produktion und des lokalen Austauschs in Gang zu setzen und gegen die Vergewaltigung der Menschenrechte zu kämpfen. Die Menschen leiden heute und sterben heute, nicht morgen. Schon der italienische Marxist Lelio Basso sagte, man sollte den »kleinen Schritten« nicht mißtrauen. Eines muß aber klar sein. Der Kampf muß gegen die Logik des Kapitals gerichtet sein. Ohne eine anti-systemische Perspektive kann es keinen radikalen Wandel mit fundamentalen Ergebnissen geben. Die lateinamerikanischen Erfahrungen in Venezuela, Bolivien und Ekuador lehren aber auch, daß man sich der bestehenden Kräfteverhältnisse bewußt sein muß. Zwar reicht allein die Delegitimierung des Kapitalismus als eine unverzichtbare Etappe des sozialen Wandels nicht aus. Aber die Forderungen all derer, die kritisieren, man habe den Kapitalismus in den sozialistisch regierten Ländern Lateinamerikas nicht mit einem Schlag abgeschafft, zeugen von schwach ausgeprägtem dialektischen Denkvermögen. Abschließend erneut etwas zu den vielfältigen und sich ergänzenden Trägern der Transformation. Die sozialen Bewegungen sind unverzichtbar, um den Protest zu tragen und die Ideenarbeit zu orientieren. Doch sind sie weit von Michael Hardts und Antonio Negris »Mulitude«-Konzept als »Singularitäten, die gemeinsam handeln« entfernt. Dieser Begriff ist zu abstrakt und trägt einen demobilisierenden Keim in sich. Natürlich muß auch die parlamentarische Demokratie kritisiert werden und bedarf einer Neuorganisation. Aber wer glaubt, daß ein grundsätzlicher Wandel ohne die Ausübung der politischen Macht durchgesetzt werden kann, der unterliegt einer tiefen Illusion.
Fragen und Übersetzung aus dem Französischen: Benjamin Beutler
* Aus: junge Welt, 12. Juli 2008
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