Kolumbien sucht nach Frieden, doch der Guerilla-Krieg ist allgegenwärtig
Auszüge aus einer neuen Studie aus der Friedrich-Ebert-Stiftung
Unter dem Titel "Noch steht die Regierung Pastrana mit leeren Händen da" dokumentierte die Frankfurter Rundschau am 27. April 2001 Auszüge aus einem Beitrag von Hans R. Blumenthal (Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kolumbien) über die gegenwärtige Situation in Kolumbien, den wir nachfolgend ebenfalls, allerdings erheblich gekürzt, dokumentieren. Die Veröffentlichung kam fast zeitgleich zum Besuch des kolumbianischen Präsidenten Andrés Pastrana Arango in Berlin (26.04.01). Die Bundesregierung versprach bei dem Staatsbesuch, den "Friedesnprozess" in Kolumbien stärker zu unterstützen. Entwicklungsstaatssekretär versprach eine Erhöhung der Hilfe für 2001/02 auf 40 Millionen DM. Er verbinde dies mit der Erwartung, dass die Regierung in Bogota ihr Bemühen um Frieden und um die "Achtung der Menschenrechte" verstärke. Vor allem müsse auch die "Gewalt" der rechten Paramilitärs "gestoppt" werden. Bundeskanzler Schröder kündigte an sich in der EU dafür einzusetzen, dass zivile Beobachter nach Kolumbien geschickt würden. Auch wolle er sich dafür einsetzen, dass der europäische Markt für kolumbianische landwirtschaftliche Produkte geöffnet werde.
Demgegenüber machten verschiedene Nicht-Regierungs-Organisationen auf die anhaltende Gewalt in Kolumbien aufmerksam, die vor allem von Paramilitärs ausgehe und von den Regierungstruppen teils gefördert, geduldet, zumindest aber nicht verhindert werde. Bei einem Massaker in der Osterwoche sind beispielsweise 37 Menschen ermordet worden. Terre des hommes Deutschland kritisierte auch den Plan Colombia (siehe auch die Presseerklärung von terre des hommes).
Blumenthals Analyse muss nicht in allen Teilen und Konsequenzen zugestimmt werden. Vor allem aus friedenspolitischer Perspektive enthält er einige fragwürdige Positionen, etwa wenn er der Doppelstrategie Verhandeln und Aufrüsten (in Form der "Professionalisierung" und Modernisierung der Armee) das Wort redet oder wenn er das militärische Engagement der USA im Plan Colombia für durchaus gerechtfertigt hält. Auch wird die faktische Gleichsetzung von FARC und Paramilitärs als den beiden "'Extremen' des bewaffneten Konflikts" den gesellschaftlichen und politischen Realitäten des Landes nicht gerecht. Die Rolle der kolumbianischen Regierung, auch des konservativen Präsidenten Pastrana gerät dadurch in ein allzu günstiges Licht. Unscharf bleiben schließlich auch die Möglichkeiten, welche die EU-Staaten, also auch die Bundesregierung, in dem Konflikt haben.
Im Folgenden also der Beitrag von H. R. Blumenthal in Auszügen (der Originaltext ist als FES-Analyse, Bonn im März 2001 erschienen.
Noch steht die Regierung Pastrana mit leeren Händen da
Kolumbien sucht nach Frieden, doch der Guerilla-Krieg ist
allgegenwärtig
Von Hans R. Blumenthal
I. "Verhandlungen im Krieg"
In den letzten zwanzig Jahren haben sechs kolumbianische Präsidenten
Anstrengungen unternommen, den bewaffneten Konflikt zu beenden. Drei
Regierungen suchten den Verhandlungsweg zur internen Konfliktlösung, am
eindeutigsten wohl die von Präsident Belisario Betancourt (1982 bis 1986) und die
derzeitige des Präsidenten Andrés Pastrana Arango (1998 bis 2002). Sein
Gesprächsangebot an die Guerilla und ein persönliches Treffen mit dem über
70-jährigen Führer der FARC (Fuerzas Armadas Revulocionarias Colombianas),
Manuel Marulanda, bescherten ihm im Sommer 1998 einen überwältigenden
Wahlsieg. Auch wegen der Schwäche des kolumbianischen Militärs blieb ihm nur
die Option von "Verhandlungen im (sich seither verschärfenden) Krieg", mit
Gegnern, deren Friedensmotivationen nicht eindeutig sind. Die Brutalisierung des
Krieges, die Vertiefung der Wirtschaftskrise, eine über 20-prozentige
Arbeitslosigkeit, zunehmende Armut und Ungleichheit und der Mangel an
greifbaren Erfolgen im Verhandlungsprozess ließen die mit dem Amtsantritt
Pastrana im August 1998 verbundenen übergroßen Hoffnungen der
kolumbianischen Bevölkerung zerrinnen. Heute herrscht Skepsis vor. Vielen
Kolumbianern scheint die Strategie des Präsidenten weder transparent noch
schlüssig, sie interpretieren sie als Nachgiebigkeit und Schwäche gegenüber der
Guerilla.
"Verhandlungen im Krieg" implizieren für die beteiligten Seiten das Verfolgen der
Logik des Krieges und der von Friedensverhandlungen, ohne Sicherheiten für jede
Seite, ob die jeweils andere eher Verhandlungen für den Krieg oder Krieg für eine
Stärkung ihrer Position in den Verhandlungen führt.
Im ersten Jahr seiner Amtszeit setzte Präsident Pastrana ausschließlich auf
Verhandlungen mit der stärksten Guerillagruppe, den FARC. Hier schien sich der
Präsident rückhaltlos zu engagieren, Verzögerungen, Arroganz bis hin zu
Demütigungen durch die Guerilla zu ertragen, um den Prozess aufrechtzuhalten.
Die Gespräche mit den FARC wurden in einer der Guerilla gegen den Widerstand
des Militärs von der Regierung zugestandenen entmilitarisierten Zone formalisiert:
Die Gegner einigten sich zum ersten Mal in der kolumbianischen Geschichte auf
eine gemeinsame Verhandlungsagenda. Die Notwendigkeit einer politischen
Verhandlungslösung des Konfliktes konnte der kolumbianischen Öffentlichkeit und
der US-Administration einsichtig gemacht werden. Die Beteiligung der
Zivilgesellschaft wurde von Seiten der Regierung und den FARC in Form öffentlicher
Anhörungen in der entmilitarisierten Zone begonnen. Pastrana überwand die
traditionelle Denunzierung der Guerilla als delinquente Narcoguerilla und erkannte
sie als politischen Gegner an.
Später begannen auch Gespräche mit dem ELN (Ejercito de Liberación Nacional),
nachdem dieser durch spektakuläre Entführungen, Straßenblockaden und
Sprengungen von rund 300 Hochspannungsmasten den entsprechenden Druck
erzeugt hatte. Die Regierung scheint bereit, dem ELN möglichst rasch die von ihm
geforderte entmilitarisierte "Zusammenkunftszone" ... im Süden des
Departements Bolivar zugestehen zu wollen, diesmal allerdings mit ziviler
Verwaltung, zeitlich befristet und mit internationaler und nationaler Verifikation.
Freilich konnte sie sich bisher nicht gegen den auch von Paramilitärs geschürten
Widerstand bäuerlicher und anderer Organisationen der Zivilgesellschaft aus der
Zone durchsetzen.
...
Derzeit haben sich mehrere Verhandlungslinien mit den FARC herausgebildet:
Zunächst die der gemeinsamen offiziellen Agenda mit ihren drei Kapiteln, zwölf
Abschnitten und 42 Unterpunkten, deren "Verhandlung" jedoch nicht begonnen
wurde. Über 500 Vertreter der "Zivilgesellschaft" konnten bis Dezember 2000 in 16
Anhörungen vor einer Zuhörerschaft von etwa 26 000 Menschen in fünfminütigen
Beiträgen ihre jeweiligen Positionen zum ersten Kapitel "Wirtschafts- und
Sozialstruktur" in der "entmilitarisierten Zone" darstellen, fast 1500 Personen
reichten ihre Vorschläge über Post oder E-Mail ein. Für Kritiker haben die
Anhörungen, auf denen die Regierung kaum hochrangige Präsenz zeigte, lediglich
legitimatorischen Charakter und wenig Einfluss. ...
Dennoch ist die Behandlung der Agenda zwischen beiden Seiten ebenso wie
die Einrichtung der entmilitarisierten Zone ein verbindendes Element für die
Fortsetzung der Gespräche und den Nichtabbruch des Prozesses. ...
Ein weiteres Thema, von höchstem Interesse für die internationale Gemeinschaft,
vor allem die USA, aber auch von strategischem Potenzial für die FARC ist die
Reduzierung der Drogenanbauflächen durch andere Methoden als
Flächenbesprühungen und deren Substitution durch andere Produkte. Obwohl jede
Realisierung solcher Programme die finanziellen Spielräume der FARC
einschränken müsste, falls von der internationalen Gemeinschaft und dem
kolumbianischen Staat keine kompensierenden Gelder fließen, öffnet dieses
Thema den FARC bei geschicktem Vorgehen die Chance, langfristig als
internationaler und nationaler Partner anerkannt werden zu können. Vorbedingung
dazu wäre allerdings eine zweifache Überwindung ihrer selbst: Was die manuelle
Vernichtung und Produktsubstitution kleiner, bis zu drei Hektar großer Flächen,
also die der Cocaleros, angeht, müssten sie mit Kommunen und
Bauernvertretungen kooperieren. Dies könnte ihnen im Vergleich zum bisherigen
Anspruch vollkommener autoritärer Subordination aller gesellschaftlichen
Interessenvertretungen und Institutionen in ihren Gebieten als risikoreiche
Abweichung von bisheriger Theorie und Praxis erscheinen. Die Regierung hat
inzwischen mit Pakten zur manuellen Erradikation und Substitution im Süden des
Landes begonnen. Wie aber soll sich die FARC zur Vernichtung großer - nach
Angaben der Streitkräfte - zwischen 50 bis 70 Prozent der Gesamtfläche
ausmachender Cocaplantagen stellen, die sich im Eigentum oder Besitz von
Drogenhändlern befinden und die von den FARC zum kleineren Teil schon
gewaltsam in eigene Verwaltung übernommen worden sind und ihr das große Geld
einbringen?
Über Vernichtung und Substitution in den kleinen Flächen, über die Bewaffnung
deren Bewirtschafter durch die FARC, ihre mögliche Vertreibung durch
Sprühaktionen u. a. m. wird debattiert, Positionen zur Besprühung großer Flächen
und deren Konsequenzen bleiben dagegen sowohl bei den FARC als auch den
anderen Akteuren seltsam ungeklärt.
II. Waffenstillstand?
Das für die kolumbianische Gesellschaft wichtigste Thema sind Verhandlungen
über einen Waffenstillstand. Hier änderten die FARC ihre ursprüngliche Position,
über einen Waffenstillstand erst nach Behandlung von 90 Prozent der
Agendathemen sprechen zu wollen. Wahrheitswidrig wird nun behauptet, die
Regierung habe der Guerilla das Schema von "Verhandlungen im Krieg"
aufgezwungen. Die Bereitschaft seitens der FARC, über einen Waffenstillstand zu
sprechen, zeigt, dass sie die öffentliche Meinung inzwischen nicht mehr
ausschließlich als Produkt einer simplen Manipulation der monopolisierten
kolumbianischen Presse und damit des Establishments sehen. Diese Bereitschaft
ist aber auch zusammen mit der Gründung einer politischen "bolivarianischen
Bewegung" und der Verabschiedung einer Reihe populistischer "Gesetze"
(Agrarreform, Entführungen "nur noch" von Personen mit Vermögen über eine
Million US-Dollar, Korruptionsbekämpfung) Teil einer politischen Offensive der
FARC.
Derzeit scheint ein Waffenstillstand ebenso erwünscht wie unwahrscheinlich zu
sein. Weder die Fortschritte im Verhandlungsprozess noch die aktuelle Situation
des bewaffneten Konflikts begünstigen ihn. Ein Waffenstillstand müsste die
Beendigung von Entführungen und Erpressungen bedeuten und würde damit die
Finanzen der FARC um 30 bis 40 Prozent verringern. Folglich müssten
Ausgleichsgelder durch den kolumbianischen Staat und/oder die internationale
Gemeinschaft von über 100 Millionen US-Dollar pro Jahr aufgebracht werden. ...
Die FARC wäre nur dann einverstanden mit einem Waffenstillstand, wenn sich die
Regierung verpflichten würde, die von ihr geplanten und im US-Hilfsteil des Plan
Colombia vorgesehenen massiven Sprühaktionen zur Reduzierung der großen
Drogenanbauflächen im Süden Kolumbiens zu unterlassen. Für die Regierung ist
dieser Teil des Plan Colombia ein Krieg gegen Drogenanbau und -herstellung. Nur
in dem Maße - so ihre Argumentation -, in dem die FARC - oder die Paramilitärs -
ihre Verbindungen bzw. ihre Besteuerung der verschiedenen Etappen der
Drogenproduktion beibehalten, seien sie von den Maßnahmen betroffen.
Ein Waffenstillstand auf nationaler Ebene ist aus den genannten Gründen derzeit
nicht nur unwahrscheinlich, er könnte die Verhandlungen u. a. wegen der
Unlösbarkeit seiner Verifikationsprobleme sogar eher behindern. Auch in El
Salvador oder Guatemala wurde er erst gegen Ende des Prozesses vereinbart.
Wegen des dezentralen Charakters des kolumbianischen Konfliktes scheinen
humanitäre Vereinbarungen auf lokaler und regionaler Ebene chancenreicher. ...
III. Wohin soll der Prozess führen?
Neben besonderen Anstrengungen zur Humanisierung des Konfliktes müssten
daher mindestens zwei weitere Elemente bearbeitet und konzertiert zu einer
integralen Strategie werden: Zunächst wäre eine möglichst klare Vorstellung davon
zu gewinnen, was am Ende des Prozesses stehen sollte und könnte. ... Es müssten also Szenarien eines "neuen Sozialvertrages", der am Ende des Prozesses stehen wird, entworfen werden.
Hierzu sind Sicherheitsbedürfnis und vor allem Machtwillen der Guerilla ernst zu
nehmen. Eine Vorstellung wäre die eines föderalisierten Kolumbiens, in dem die
Guerilla in einzelnen größeren Departements die Gouverneure/Ministerpräsidenten
wie auch die Polizei stellen. Hinzu müssten Vertretungen der Guerilla in allen
relevanten staatlichen Einrichtungen kommen, um ihnen auf diese Weise
Sicherheitsgarantien zu geben.
Auch wären der Reformbedarf, die Reformnotwendigkeiten und -möglichkeiten der
zwischen FARC und Regierung vereinbarten Verhandlungspunkte im Detail
aufzuarbeiten. Die einzelnen Agendapunkte zur politischen und ökonomischen
Reform müssten nach ihren Prioritäten, ihrem Vertrauen schaffenden Potenzial,
ihrer politischen Realisierbarkeit bzw. ihren Finanzierungsquellen im Einzelnen
durchdekliniert werden. Die bisher durchgeführten Anhörungen mit ihren
Fünf-Minuten-Beiträgen im Caguán können eine solche Arbeit nicht ersetzen. ...
Im kolumbianischen Friedensprozess geht es darum, Möglichkeiten und Optionen
für den Verhandlungsweg zu verbreitern. Dies schließt das Ernstnehmen der
Macht- und Sicherheitsmotivationen der Verhandlungspartner bzw. -gegner ein. ...
IV. Zur Logik des Konflikts
...
Die "Extreme" des bewaffneten internen Konflikts, die Paramilitärs und die FARC,
haben seit Jahren, vor allem aber seit Beginn des Friedensprozesses in
erheblichem Maße neue Soldaten und Söldner rekrutiert und intensiv aufgerüstet.
Dies nicht als Reaktion auf den Plan Colombia, den es damals noch gar nicht gab.
Der militärische Erfolg scheint beiden bisher Recht zu geben.
Den FARC stehen verschiedene militärische Optionen offen: Klassischer
Guerillakrieg mit schnellen Überfällen und Rückzügen in kleinen Einheiten, größere
Konzentrationen durch Zusammenziehen mehrerer hundert Guerilleros, vermutlich
auch die Beantwortung von Luftangriffen mit Boden-Luft-Raketen. Selbst ein
Stellungskrieg mit Angriffen auf größere Städte scheint möglich zu sein.
Gegenüber den Streitkräften haben sie strukturelle Vorteile in Mobilität und Training
ihrer Truppen, ebenso wie im intelligence work.
Auf der anderen Seite ist die militärische und politische Stärkung der Paramilitärs
erschreckend und noch nicht beendet. Weder Paramilitärs noch FARC scheinen
dem "Kulminationspunkt des Sieges" nahe, von dem ab weitere Fortschritte als
Überausdehnung zur Schwäche werden können. FARC und Paramilitärs, weniger
der ELN, können sich ausrechnen, auf militärisch-territorialem Gebiet noch
manches zu erreichen. Sie sind weder auf internationale finanzielle noch auf
"moralische" einheimische Unterstützung angewiesen. Es ist daher nicht
anzunehmen, dass FARC oder Paramilitärs aus anderen als militärischen oder
Machtmotiven ihren Kampf vor Abschluss eines Friedensabkommens einstellen
werden.
Vor diesem Hintergrund ist die Option der Professionalisierung der
kolumbianischen Justiz, der nationalen Polizei und der Streitkräfte im Interesse
des Schutzes der kolumbianischen Bevölkerung notwendig und sinnvoll,
zusammen mit den genannten Maßnahmen zur Erhöhung der Legitimität ihres
Handelns. Das gilt auch für die Militärhilfe der USA...
Kolumbien widmete traditionell etwa 1,5 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts
(BIP) dem Militärhaushalt. Heute werden die Militärausgaben auf 3,6 bis 4 Prozent
des BIP geschätzt. Dies ist viel für ein Land mit den großen sozialen Problemen
Kolumbiens. Frankreich, das weder innere noch äußere Bedrohungen erlebt, gibt
etwa 3,7 Prozent seines BIP für gleiche Zwecke aus. Länder mit internen
Konflikten verwenden größere Anteile ihres Produktes für Sicherheitszwecke:
Philippinen 15,8 Prozent, Angola und Israel ca. 13 Prozent. Das Problem liegt
daher weniger in der militärischen US-Hilfe im Rahmen des Plan Colombia,
sondern eher in den zu geringen kolumbianischen Anstrengungen, die dazu führen,
dass strategische Ziele von außen vorgegeben werden.
Die US-Militärhilfe zur Bekämpfung des Drogenanbaus ist ein Beispiel dafür.
Großflächige Sprühaktionen im Putumayo im Süden Kolumbiens werden den
Anbau mittelfristig nicht verringern, sondern ihn - entsprechend dem balloon effect -
in andere Teile des Landes, beispielsweise in den Norden unter Kontrolle der
Paramilitärs oder in die Nachbarländer der Andenregion bzw. Brasilien, verlagern.
Dies ist durch die Erfahrung der letzten Jahre belegt. Notwendig wären mit den
Bauern und möglichst den territorialen "Protektionsmächten", also den FARC,
abgestimmte Programme zur großflächigen Drogenanbausubstitution. Es müssen
jedoch alle Phasen des Drogengeschäftes, in denen die großen Geldsummen
erwirtschaftet werden, gezielt und wirksam bekämpft werden: Drogenveredelung,
Drogentransport, Drogenhandel und die folgende Geldwäsche.
Hier liegt das Dilemma der US-Militärhilfe. Die USA wollen ihre Maßnahmen
nahezu ausschließlich gegen den Drogenanbau richten. Im Interesse der
kolumbianischen Streitkräfte und der überwiegenden Mehrheit der Kolumbianer
läge eine Verwendung der Militärhilfe zum Kampf gegen die Guerilla,
möglicherweise auch gegen die Paramilitärs. Wenn aber die USA diesen
Interessen folgen würden, könnten sie vielleicht in einen Krieg verwickelt werden,
den sie, das Beispiel Vietnam vor Augen, vermeiden möchten. ...
Statt Vernichtung der Lebensgrundlage kleiner Cocaleros mit Sprühaktionen aus
der Luft und deren Nebenwirkungen für alles Leben, müssen erst politische
Schlachten geschlagen werden. Es gilt, die Unterstützung der bäuerlichen
Bevölkerung im Süden für gemeinsame manuelle Vernichtungs- und
Substitutionsprogramme zu gewinnen, die oben beschriebenen Maßnahmen gegen
den Drogenhandel umzusetzen und die Rückkehr zumindest von Teilen der
Cocaleros in deren Stammgebiete, aus denen sie vertrieben wurden, vorzubereiten.
Letzteres bedeutet den Beginn einer Agrarreform in Teilen Kolumbiens: ein bisher
kaum behandeltes Thema. Dies sind politische Aktionen vor dem Hintergrund
militärischer Professionalisierung, auf die auch die internationale und europäische
Gemeinschaft drängen muss und kann. Die Regierung scheint sich dessen
zunehmend bewusst zu werden. Manuelle Vernichtung der kleinen Cocafelder
sowie Hilfsprogramme für die geschädigten Cocaleros haben begonnen.
...
Wegen ihres bisherigen militärischen Erfolges ist anzunehmen, dass sowohl FARC
als auch Paramilitärs weiterhin strategisch austesten werden, wie weit sie auf
diesem Wege gehen können. Beobachter analysieren den kolumbianischen
Konflikt in zwei Konstellationen: zum einen als Krieg zwischen FARC, Paras und
zum Teil dem ELN um Territorien und andere Macht- und Kriegsressourcen, zum
anderen in einer Vierer-Konstellation unter Einschluss der kolumbianischen
Sicherheitskräfte, beide Konstellationen mit der unklaren Zusatzvariablen des
Finanzflusses aus der Drogenbesteuerung. In beiden sich überlappenden
Kriegskonstellationen werden die Informationen gewonnen, die die FARC, als
derzeit zentralem Akteur, zur Entscheidung führen werden, Verhandlungen zu ihrer
militärischen Stärkung zu missbrauchen oder aber den Krieg zur Stärkung ihrer
Verhandlungsposition zu nutzen, also ernsthaft verhandeln zu wollen. Eben wegen
dieser "Notwendigkeit" des strategischen Lernens wird von Experten mittelfristig
eine weitere Eskalation des Konfliktes befürchtet, selbst wenn es zu Fortschritten
im Verhandlungsprozess käme.
V. Was kann erwartet werden?
...
Ein erfolgreicher
Verhandlungsprozess stellt die Fusion der verschiedenen Elemente starker
regionaler Autonomie, die Legalisierung und Investition der Vermögen der
Aufständischen, neue Formen der Substitution des Drogenanbaus sowie Reformen
des politischen, sozialen und ökonomischen Systems in Aussicht.
Die Guerilla wird ihren bewaffneten Kampf nicht aufgeben, wenn sie keine klaren
und attraktiven Alternativen politischer Machtausübung erkennt. Sie ist militärisch
stark, aber politisch schwach. Warum sollte sie sich also Wahlen stellen, in denen
sie nicht siegen kann? Sie benötigt zudem klare Garantien für die Sicherheit ihrer
Mitglieder und die dauerhafte Einhaltung der mit ihr getroffenen Vereinbarungen.
Dies bedeutet ihre Repräsentation in allen wichtigen staatlichen Stellen, im
Kabinett, im nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat, in der Zentralbank etc.
Die FARC kündigten mehrfach an, sie würden ihre Waffen auch im Falle eines
Friedensschlusses nicht abgeben. Gibt aber die Guerilla ihre Waffen nicht ab, so
wird ein Zusammenleben mit "normalen" Kolumbianern kaum möglich sein. Also
bleibt nur eine Integration ihrer bewaffneten Kräfte in die Streitkräfte und/oder die
Polizei, auf nationaler und departementalen Ebene in einem dezentralisierteren
oder föderalisierten Kolumbien.
Die Regierung muss versuchen, die FARC zunehmend in politische
Entscheidungen, beispielsweise zur Drogenanbausubstitution, auch in großen
internationalen Konferenzen, und ins gesellschaftliche Leben in allen möglichen
Formen einzubeziehen, um sie so zu zwingen, sich politischer Kritik auszusetzen
und damit Legitimationszwänge zu erleben. Andererseits muss der FARC durch
eine Professionalisierung der kolumbianischen Streitkräfte die mittelfristige
Aussichtslosigkeit ihrer Erwartungen eines militärischen Sieges verdeutlicht
werden.
Die Regierung wird ihre bisherige gelegentlich an einen Vermittler erinnernde Rolle
ändern und in die des wahren Vertreters der kolumbianischen Bevölkerung
hineinwachsen müssen. Veränderungen des bisherigen isolationistischen Stils sind
erkennbar. Wichtig sind die Konzertierung mit der Zivilgesellschaft und anderen
politischen Repräsentanten und eine erkennbare Strategie. Das Projekt des
Verhandlungsprozesses, das die Zeitfristen dieser und wohl auch der nächsten
Regierung überdauern wird, muss zum nationalen Projekt Kolumbiens werden.
Bislang sind vier Zukunftsszenarien vorstellbar: Ein Sieg des Militärs über die
Aufständischen, die Machtübernahme der Aufständischen, das Stocken und
allmähliche Einschlafen des Friedensprozesses oder ein langsamer Fortgang des
Verhandlungsprozesses im Krieg. Die kolumbianische Bevölkerung ist davon zu
überzeugen, dass von diesen vier Möglichkeiten die letzten beiden die größte
Wahrscheinlichkeit besitzen.
...
Da Kolumbiens Konflikt sich ohne Drogenhandel nie in dieser Weise entwickelt
hätte, müssen sich die Länder des Nordens, die "internationale Gemeinschaft",
also auch die europäischen Länder, stärker finanziell und politisch engagieren, da
sie als Konsumentenländer für die Entwicklung im Produzentenland Kolumbien
mitverantwortlich sind. Die internationale Unterstützung öffnet nicht nur
Gelegenheiten und nötige Druckmomente für einen erfolgreichen Prozess.
Internationale Unterstützung, Beobachtung und Kontrolle scheinen die conditio sine
qua non eines Prozesserfolges auf mittlere Sicht zu sein.
Allerdings wird ein solcher Friedenserfolg, wie die Beispiele El Salvador oder
Guatemala zeigen, zunächst kein Ende der multiplen Gewalttaten und -akteure in
Kolumbien bedeuten. Gewalt ist sicherlich das ärgste Übel, aber auch die
Überwindung der anderen Plagen, Korruption, Straflosigkeit, Ungleichheit und
Drogengeschäft, wird Kolumbien noch lange vor große Herausforderungen stellen.
Aus: Frankfurter Rundschau, 27. April 2001
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