Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Brasilia in der Steppe Kasachstans

Die neue Hauptstadt Kasachstans ist eine futuristische Großbaustelle und ein Ort, der seine wechselvolle Geschichte nicht verleugnen kann: Aus Akmolinsk wurden Zelinograd, Akmola und schließlich Astana

Von Henryk Alff, Astana *

Es ist Winter im Norden Kasachstans, dem zweitgrößten Nachfolgestaat der ehemaligen Sowjetunion an der russischen Südgrenze. Schon Anfang November verwandelt ein eisiger Wind dicke Schneeflocken in ansehnliche Verwehungen und bringt den Verkehr auf den Straßen Astanas, der neuen kasachstanischen Hauptstadt, zum Erliegen. Die kommenden fünf Monate wird bitterkaltes Wetter mit Temperaturen bis minus 40 Grad hier eher die Regel als die Ausnahme bleiben.

»Das Chaos vor dem Fenster kann mich nicht schockieren«, erklärt Asem Tokajewa mit einem Schmunzeln im Gesicht. »Ich arbeite heute zu Hause!« Die junge Journalistin einer russischen Agentur gehört zur aufstrebenden Mittelschicht Astanas. Ihr Gehalt reicht für eine nagelneue Eigentumswohnung und einmal Europa-Urlaub im Jahr. Anfang 30 ist sie und noch unverheiratet. »Meine Freiheit ist mir so wichtig wie eine anspruchsvolle, kreative Tätigkeit«, sagt die Kasachin selbstbewusst. »Genau das kann ich hier in Astana verwirklichen.«

Pomp zum Jubiläum

Als Kasachstan erster und bisher einziger Präsident Nursultan Nasarbajew im Dezember 1997 die Hauptstadt des Landes vom fast südländisch anmutenden Almaty, das einst als Alma-Ata bekannt war, ins raue Akmola inmitten der Steppe verlegte, spotteten viele, dass die Stadt, deren Name zu deutsch »weißes Grab« bedeutete, ihrem Namen alle Ehre mache. Seit der Unabhängigkeitserklärung Kasachstans war besonders der agrarisch geprägte Norden des Landes in eine tiefe wirtschaftliche Depression gefallen. Dass die Dollarmilliarden aus der Staatskasse – und die auf Nasarbajews Konten vermuteten – das provinzielle, damals 280 000 Einwohner zählende Akmola in eine blühende Kapitale verwandeln würden, daran zweifelten die meisten.

»Manche vermuteten damals«, erklärt Asem die Gründe für den Hauptstadtumzug, »dass Nasarbajew damit einer möglichen Abspaltung Nordkasachstans entgegenwirken wollte, wo mehrheitlich Russen leben.« Andere hätten eher die begrenzten Wachstumsperspektiven Almatys im Blick gehabt. Nicht zuletzt spielt wohl die nationale Symbolik im unabhängigen Kasachstan eine Rolle: So wurde aus Akmola kurzerhand Astana, was in der Landessprache schlicht Hauptstadt heißt.

Eine offizielle Internetseite der Stadtverwaltung preist unterdessen mit dem blumigen Slogan »Von Astana mit Liebe!« in drei Sprachen die Feierlichkeiten zum Zehn-Jahres-Jubiläum, das im vergangenen Sommer begangen wurde. Zu dem pompösen Ereignis, das zum republikweiten Feiertag ausgerufen wurde, waren Dutzende ausländische Gäste geladen. Ein umfangreiches Kulturund Vergnügungsprogramm für die inzwischen auf über 600 000 angewachsene Einwohnerschaft sollte die Hauptstadtverlegung ins rechte Licht rücken. Da ist es kein Zufall, dass der zentrale Festakt ausgerechnet am Geburtstag des Präsidenten stattfand.

Der schnelle Wandel Astanas erstaunt nichtsdestoweniger. Überquert man heute, über zehn Jahre nach dem Umzug der kasachstanischen Regierung aus Almaty, den Fluss Ischim, traut man seinen Augen kaum. Noch vor wenigen Jahren lag hier nur ödes, mückenverseuchtes Sumpfland. Heute entsteht dort das vom japanischen Stararchitekten Kischo Kurokawa entworfene Astana der Zukunft, das zentralasiatische Brasilia des 21. Jahrhunderts.

Beiderseits einer vom Straßenverkehr befreiten Achse wurden futuristische Wohn- und Geschäftsbauten hochgezogen. Die kilometerlange Anlage ist auf wuchtige Ministerialbauten, das Parlament und den Präsidentenpalast ausgerichtet – ein weiteres Zeichen der dominanten Staatsmacht im autoritär regierten Kasachstan. Das dahinter gelegene pyramidenähnliche Gebäude von Sir Norman Foster, Schöpfer der Glaskuppel des Berliner Reichstags, verstärkt diesen Eindruck noch.

Auf Foster gehen auch die Pläne für das derzeit ehrgeizigste Projekt Astanas zurück: ein gläsernes Zelt von 150 Meter Höhe. Auf dessen zehn Fußballfelder umfassender Fläche sollen auf mehreren Ebenen Einkaufs- und Erholungseinrichtungen Platz finden. Nach der Fertigstellung sollen die Hauptstädter dort auch im Winter Bootstouren unternehmen und unter Palmen Cocktails schlürfen können.

Doch am Horizont der architektonischen Großprojekte sind dicke Wolken aufgezogen. Dem auf ausländischen Krediten basierenden Bauboom der vergangenen Jahre hat die internationale Finanzkrise ein jähes Ende bereitet. Davon zeugen stillstehende Baukräne und halb fertige Hochhausskelette, die notdürftig von kunterbunten Plakaten der Jubiläumskampagne verdeckt sind. Dafür spricht auch das Schicksal Rahimschan Osodows.

»Vor zwei Jahren bin ich auf der Suche nach Arbeit aus Tadshikistan hierher gekommen. Zu Hause gibt es nichts zu tun für mich. Aber ich muss doch meine Familie ernähren«, erklärt der 23-jährige ausgebildete Russischlehrer seine Entscheidung, nach Astana zu kommen. Wie Osodow sind Tausende aus den südlichen Nachbarrepubliken Kasachstans nach Astana gezogen, um – oft unter schwierigsten Arbeitsverhältnissen – am Aufbau der neuen Hauptstadt mitzuwirken. Im Russischen werden sie »gastarbaitery« genannt. Nun, in Zeiten der Krise, stehen viele von ihnen auf der Straße.

Auch Rahimschan Osodow hat es erwischt. Schon seit Monaten regt sich nichts auf seiner Baustelle. »Nicht mal den Lohn für die Zeit davor habe ich bisher erhalten«, klagt der junge Mann. »Für die Rückfahrt reicht mein Geld nicht, und was soll ich auch da: Mit leeren Händen kann ich nicht nach Hause.«

Jenseits des Flusses stehen bröckelnde Überbleibsel der Zeit, als das Auf und Ab Astanas euphorisch begonnen hatte. Bauten aus frühsozialistischen Zeiten, verfallene Getreidespeicher und rostende Propagandatafeln künden hier von der sowjetischen Geschichte. Die Stadt, die russisch Akmolinsk hieß, wurde damals Zelinograd – zu deutsch »Neulandstadt« – getauft. Denn in den 50er Jahren war sie zum Zentrum der Neulandgewinnung geworden, durch die Nikita Chruschtschow die Steppen Kasachstans in die zweite Kornkammer der Sowjetunion verwandeln wollte. Zwischen 1954 und 1964 kamen etwa 800 000 Arbeiter aus allen Unionsrepubliken den Aufrufen der Parteiführung nach. Rund um Zelinograd wurden Millionen Hektar Steppe unter den Pflug genommen. In der Stadt eröffneten Betriebe zur Herstellung von landwirtschaftlichen Maschinen und zur Getreideverarbeitung, neue Wohnbezirke und kulturelle Einrichtungen wurden errichtet.

Irina Chomenko erinnert sich noch gut an diese Zeit. Heute Rentnerin, kam sie selbst Anfang der 60er Jahre als Hochschulabsolventin aus der Ukraine nach Zelinograd. Um ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Aufbau zu leisten, wie sie sagt. »Alles war damals in Bewegung«, berichtet Irina. »Es herrschte ein ungeheurer Enthusiasmus«, erinnert sich die 69-Jährige.

Bergab und bergauf

Die Jahre sind indes nicht spurlos an der Wohnung der Chomenkos vorübergegangen. Blümchentapeten hängen schlaff von den Wänden, das Parkett ist abgetreten, einzelne Dielen fehlen. Nur ein Rinnsal tropft aus dem verkrusteten Wasserhahn in den Teekessel in Irinas Hand. »Die Zeiten ändern sich«, sagt sie und meint den Verfall, den ihre Heimatstadt erlebt hat. Immer weniger Weizen gab der trockene Steppenboden her. Der Wind blies die fruchtbare Scholle davon. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Wegfall der Subventionen aus Moskau ging es dann gar nicht mehr weiter. »1993 und 1994 mussten wir die abgeernteten Felder nach liegen gelassenen Ähren absuchen, um etwas zu essen zu haben«, fügt Irina hinzu.

Mit Blick auf die derzeitige wirtschaftliche Krise ist Irina mehr als optimistisch. »Ich habe zu viel erlebt, als dass mir das Angst machen könnte.« Heute seien die Bedingungen doch noch immer geradezu paradiesisch im Vergleich zu damals. »Und wenn es schon etwas bergab geht«, findet die Rentnerin, »so geht es doch auch irgendwann wieder bergauf.«

* Aus: Neues Deutschland, 22. November 2008


Zurück zur Kasachstan-Seite

Zurück zur Homepage