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Die Kraniche der Sadako Sasaki

Ein Besuch bei Freunden. Trotz der Tragödien von Hiroshima und Nagasaki haben es AKW-Gegner in Japan schwer

Von Fritz Schumann *

Drei Tage nach Hiroshima detonierte über der japanischen Stadt Nagasaki die zweite US-amerikanische Atombombe. Wie erinnert man sich in Japan heute an diese Kriegsverbrechen und welche Lehren wurden gezogen?

»Hiroshima?« Der Blick ist gleichermaßen ungläubig wie desinteressiert. »Was willst du denn da?« Jeder meiner Tokioter Freunde, den ich über meine Reiseabsichten informiere, winkt ab. Einer weiß, dass dort Mazdas gebaut werden. Ein anderer verbindet mit dem Namen Okonomiyaki, eine Art Plinsen mit Nudeln, eine lokale Spezialität. Aber mehr gebe es dort nicht zu bestaunen. Ein Dritter ergänzt noch, dass dort eine Gruppe von Umweltschützern seit Jahren erfolgreich den Bau eines Atomkraftwerkes verhinderte. Die Atombombe jedoch erwähnen sie nicht.

Das Grab des Kundschafters

Das erstaunt mich. Nicht minder bin ich überrascht, als ich ihnen mitteile, dass ich nach Tama reisen möchte, wo sich der größte Friedhof von Tokyo befindet, um das Grab von Richard Sorge zu besuchen. Nahezu alle kennen den 1944 hingerichteten deutschen Spion, der Moskau vor dem Überfall durch Nazideutschland ebenso wie vor dem Angriff auf Pearl Harbour durch die Japaner gewarnt hatte. »Ah, Richard Sorge«, sagen sie anerkennend.

Als ich auf dem Friedhof stehe, sehe ich nicht nur ein gepflegtes Grab, sondern auch viele Blumensträuße, alle frisch. Einen Jahrestag oder Geburtstag finde ich jedoch nicht im Kalender. Wer also ehrt hier den deutschen Kommunisten und »Helden der Sowjetunion« (posthum 1964)? Japaner, Russen, Touristen. Oder etwa gar die deutsche Botschaft? Und warum tun sie das?

Wie auch immer: Richard Sorge ist bei meinen japanischen Freunden präsent, Hiroshima als grausige Mordstätte hingegen interessiert sie weniger. Ich meinte erst, dass dies einer gewissen Verdrängung geschuldet sei. Hiroshima und Nagasaki standen für Nippons Niederlage. Wenige Tage nach den Atembombenabwürfen kapitulierte das faschistische Japan bedingungslos – wie ein Vierteljahr zuvor Hitlerdeutschland. Nunmehr war der Zweite Weltkrieg endgültig Geschichte. An dessen Ende mochten sich die Japaner vielleicht nicht gern erinnern? Bis ich begriff, dass nicht dies der Grund für ihre Wissenslücken war.

Japaner verlieren keine Zeit mit Rückschau. Sie leben völlig in der Gegenwart. Kaum ein Haus, sieht man mal von den musealen Gebäuden ab, ist älter als 30, 40 Jahre. Es treibt sie die fortgesetzte Erneuerung, da gibt es keinen Stillstand, kein Verharren. Nur scheinbar steht das im Widerspruch zum Festhalten an bestimmten Traditionen. Diese dienen in Wirklichkeit nur noch wenigen als Haltegriff in den aktuellen Verwirbelungen. Japaner meiner Generation – ich bin Jahrgang 1987 – sind Teerituale und Geishas so fremd wie unsereinem. Und gesoffen wird inzwischen dort wie bei uns, obwohl sie Alkohol nicht vertragen, weil ihnen ein bestimmtes Enzym fehlt. Nach zwei Bieren sind sie hackedicht. Ich kellnerte gelegentlich in einem Lokal in einer Seitenstraße der Ginza, des berühmtesten Geschäfts- und Vergnügungsviertels in Japans Hauptstadt. Bereits um die Mittagszeit fielen die Bosse mit ihren Subalternen bei uns ein, um sich ausgiebig an köstlichen Speisen und Getränken zu laben.

Nun also fahre ich mit dem Bus nach Hiroshima. Zwölf Stunden lasse ich mich über die Hauptinsel Honshu in den Süden kutschieren, vorbei an Industriestädten in der Uferzone zur Linken und lange Zeit den Fuji zur Rechten. Die etwa 1300 Kilometer lange Hauptinsel ist, wie die anderen drei Inseln ebenfalls, sehr gebirgig und zu großen Teilen unbewohnbar. Deshalb drängten sich die Menschen schon immer in den Gegenden, in denen Ackerbau möglich ist. Auch das mag ein Grund sein, weshalb jeder dritte der 117 Millionen Japaner in der Region Tokyo wohnt.

Heimweh nach Grün

In der Millionenmetropole selbst ist kaum Grün zu entdecken; sie ist regelrecht zubetoniert. Daran musste ich mich erst gewöhnen: vom parkreichen Berlin ins nahezu baumlose Tokyo. Ich kaufte mir ein Orangenbäumchen im Topf, um mein Heimweh nach Grün zu befriedigen.

Der voll klimatisierte Bus rollt immer weiter, die Reisenden sprechen bald nur noch Japanisch. Mit Englisch kommt man in Tokyo weiter, nicht aber außerhalb der Hauptstadt. Wie gut, dass mich eine japanische Freundin begleitet, die mir notfalls hilft, wenn ich versage. Meine Sprachkenntnisse hatte ich in Berlin an der Volkshochschule erworben und in den letzten Monaten aktiv erweitert. Außerdem ist es immer nützlich, wenn man als Ausländer einen Einheimischen an seiner Seite hat. Das merke ich auch, als ich mich mit den Umweltaktivisten treffe. Der Argwohn ist groß, zumal gegenüber Journalisten von auswärts.

In Japan gibt es keine Grünen, keine Netzwerke und landesweiten Umweltorganisationen. Widerstand, wenn überhaupt, ist lokal oder regional, und meist von der Verachtung anderer begleitet. Atomkraftwerke? Wenn die Regierung sagt, wir brauchen sie, dann ist das in Ordnung. Wer dagegen ist, lehnt sich gegen die Obrigkeit auf. Widerspruch stößt hierzulande auf Missfallen. In Japan sind ein halbes Hundert AKW am Netz, zehn bis zwanzig weitere sollen in den nächsten Jahren gebaut werden. Vier Energiekonzerne haben das Land unter sich aufgeteilt. Unweit von Hiroshima soll ein AKW auf der Halbinsel Kaminoseki errichtet werden, in nahezu unberührter Natur. Das ist ungefähr so, als würde Vattenfall auf Helgoland oder RWE auf Mainau im Bodensee so ein Ding hinstellen.

Doch nur wenige Anwohner und junge Umweltschützer laufen seit Jahren dagegen Sturm. Sie werden für ihr Engagement von Nachbarn geschnitten, von Landsleuten attackiert, Freunde sagen sich los. Wer sich in Japan gegen den Mainstream auflehnt, dem bläst kalter, unwirtlicher Wind ins Gesicht. Da wird man vorsichtig. Aber immerhin: Sie wollen mit mir sprechen.

Ziemlich zerknautscht treffe ich in Hiroshima ein. Die Hafen- und Industriestadt ist eine moderne, laute, quirlige Millionenmetropole. Die Gebäudeblöcke in der Innenstadt stehen wie die preußischen Grenadiere im Geviert, die Straßen kreuzen sich im gleichen Abstand im rechten Winkel. Man sieht, dass die Stadt nicht organisch gewachsen, sondern auf dem Reißbrett entstanden ist. Wer Geschichte kennt, weiß den Grund.

Nur wenige Häuser mit festem Mauerwerk blieben als Ruine zurück. So das Haus der Industrie- und Handelskammer, das mit seiner Kuppel an einen Sakralbau erinnert. Deshalb nennt man es Atombombendom. Es ist vermutlich die berühmteste Ruine der Welt – vergleichbar vielleicht mit den Trümmern der Dresdner Frauenkirche, die die DDR als Mahnmal gegen den Krieg stehen ließ, die inzwischen jedoch einem Neubau Platz machen musste.

Der Atombombendom erhebt sich inmitten des Grüns im Friedenspark. Wie ein Riegel sperrt das Museum diesen Ort der Besinnung; der Flachbau liegt quer zur Hektik der Großstadt. Darinnen finden sich Modelle und Exponate aus dem Jahr 1945. Gespenstische Überbleibsel des Horrors, der sofort und in der Folgezeit mehr als 300 000 Menschenleben auslöschte, etwa 98 Prozent der Bevölkerung Hiroshimas.

Und warum?

Japan hatte den in Potsdam tagenden Alliierten via Moskau längst die Bereitschaft zur Aufgabe signalisiert, da brauchte es nicht dieses Knüppels. Doch US-Präsident Truman wollte die seit dem 16. Juli verfügbaren beiden Atombomben unbedingt einsetzen. Sie zielten weniger auf den Kriegsgegner, mehr auf den Kriegsverbündeten, weniger auf das Kriegsende, mehr auf die Nachkriegszeit. Truman erteilte in Potsdam den Einsatzbefehl.

Vorm Museum erhebt sich das Kenotaph, ein Rundbogen, unter dem ein Granitblock die Namen aller Atombombenopfer deckt. Wie jedes Jahr am 6. August wurden auch am vergangenen Freitag in einer feierlichen Zeremonie die Namen der im verflossenen Jahr an der Atombombenkrankheit Verstorbenen aufgerufen.

Dichtes Gedränge herrscht vor dem Denkmal für Sadako Sasaki. Sie war zweieinhalb, als die Bombe detonierte. Mit 12 erkrankte sie an Leukämie und begann Papierkraniche zu falten. Denn wer 1000 Kraniche faltet, so lautete eine Legende, dem erfüllen die Götter einen Wunsch. Sadako starb, ihre Origami-Kraniche aber wurden zu einem Symbol der Friedensbewegung. Noch immer werden Papierkraniche hier und anderenorts niedergelegt. Im Jahr meiner Geburt war eine FDJ-Delegation in Hiroshima und legte an Sadakos Denkmal Kraniche nieder, die die Pioniere der 6. Klasse der 7. Oberschule »Kurt Steffelbauer« in Görlitz gefaltet hatten.

Überhaupt, so registriere ich wenige Tage später in Nagasaki, scheint die DDR nicht nur intensive wirtschaftliche Beziehungen zu Japan unterhalten zu haben. Es gab auch Kontakte zu diesen kriegsgeschädigten, symbolhaften Orten. 29 Jahre vor mir besuchte Erich Honecker Nagasaki. Die von ihm seinerzeit übergebene Plastik »Völkerfreundschaft«, von Gerhard Rommel geschaffen, steht noch immer an ihrem Platz im dortigen Friedenspark. Und die Platte an ihrem Sockel erinnert in fehlerhaftem Englisch (»people« kennt so wenig einen Plural wie etwa Mehl) noch immer an die Geste des Friedensrates der DDR. Dieses Monument ist übrigens bis heute der einzige sichtbare Beitrag zum Gedenken und zur Mahnung aus Deutschland.

Sadako hat eine Popularität erlangt, die vergleichbar ist mit der Anne Franks. Auch wenn ihre Schicksale unvergleichbar sind, teilten die beiden Teenager den unbändigen Willen zum Leben und trotzten der grausamen Realität, um ihr am Ende doch zu erliegen.

Droht dieses Schicksal auch den Enthusiasten, die das AKW auf Kaminoseki verhindern wollen? Sie haben den Energiekonzern Chugoku Denryoku und die öffentliche Meinung gegen sich. Der Konzern, der das Kernkraftwerk bauen will, um mit Atomstrom Hiroshima zu erleuchten, hat gute Beziehungen. Sie reichen in Redaktionen wie in Rathäuser. Der Konzern hat Geld und clevere Anwälte. Die Kassandra-Rufe der Umweltschützer prallen an dieser monetären Mauer ab. Unzulässiger Eingriff in die Natur, Angst vor einem Unfall, der das ganze Seto-Binnenmeer verseuchte, unbekannte Langzeitwirkungen, Belastungen der Region ... Das wird alles übertönt. Zwei Drittel der Anwohner stimmen dem Vorhaben zu. Sieben der acht Fischereiverbände haben das »Garantie-Geld« genommen – sich also korrumpieren lassen.

Eine alte Dame vorm Bauzaun

Die Protestierer überzieht man mit Klagen, acht von ihnen sollen mehrere Milliarden Yen zahlen für einige ausgefallene Bautage in zwei Jahren. Ich sprach mit einer 80-Jährigen, die protestierend vor dem Bauzaun stand. Für diese tägliche »Behinderung« soll sie umgerechnet mehr als 80 000 Euro berappen. Sie klagte dagegen. Das Gericht fand die Forderung auch ein wenig zu hoch und reduzierte die verlangten neun auf fünf Millionen Yen. Natürlich wird man das Geld von der alten Dame nicht eintreiben können. Aber man will damit zeigen: Egal, wie ihr euch aufregt, wir haben die Macht und den längeren Atem. Der aber ist einstweilen ein wenig gedrosselt. Ein Gericht verfügte nämlich einen Baustopp. Wie lange aber wird der gelten?

Auf dem Flug von Nagasaki zurück nach Tokyo frage ich mich, wie nachhaltig Ereignisse in der Vergangenheit, in Gegenwart und Zukunft wirken. Ich denke an die Kraniche der Sadako Sasaki. Sollen sie menschlicher Unvernunft unterliegen?

* Aus: Neues Deutschland, 9. August 2010


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