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"Der Sicherheitszaun zerstört die Lebensräume und –grundlagen palästinensischer Gemeinden"

Der Nahost-Konflikt in der israelischen Öffentlichkeit - Ein Interview mit Dr. Angelika Timm*

Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus einem Interview Dr. Angelika Timm, das die Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb) im April 2004 auf ihrer Homepage veröffentlicht hat.


bpb: Seit der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 prägen gewaltsame und militärische Konflikte die politische Lage im Nahen Osten. Wieso kommt die Region nicht zur Ruhe, was ist die treibende Kraft des israelisch-palästinensischen Konflikts?

Timm: Bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts befinden sich die zionistische und die palästinensische Nationalbewegung im Konflikt. Beide erheben Anspruch auf dasselbe kleine Territorium – Palästina. Auch europäische Interessen in der Region haben eine maßgebliche Rolle gespielt. Die Konfliktsituation entstand also nicht erst mit Gründung des Staates Israel. Eine neue Qualität erhielt sie durch den Ost-West-Gegensatz. Mit dem 6-Tage-Krieg 1967 und der Besetzung des Westjordanlandes, des Gaza-Streifens und der syrischen Golanhöhen kamen weitere Dimensionen hinzu. (...)

bpb: Spielen auch ökonomische Fragen eine Rolle?

Timm: Es ist sicherlich ein Zusammenspiel aus politisch-strategischen und wirtschaftlichen Interessen. Als Ägypten, Syrien und Jordanien 1973 Israel angriffen, wurde deutlich, dass die Pufferzonen Westbank und Gazastreifen für Israel noch eine strategische Rolle spielten. Das hat sich in den 90er Jahren mit fortschreitender militärtechnischer Entwicklung geändert. Nicht wenige Politiker, so Yitzhak Rabin, kamen aus strategischen Erwägungen zur Überzeugung, ein Friedensschluss sei für Israel sicherer als die Aufrechterhaltung der Besatzung. Was ich nicht ausschließen will, ist natürlich die Wasserfrage. Die Quellflüsse des Jordan sind für Israel von eminenter Bedeutung. Sie liegen in Syrien, Libanon, Jordanien. (...)

bpb: Können Sie eine "emotionale Landkarte" der israelischen Bevölkerung skizzieren, der Mitte der Bevölkerung?

Timm: Hinsichtlich des Oslo-Friedensprozesses gab es eine Dreiteilung der Gesellschaft. Ein Drittel war für den Prozess, ein Drittel hat ihn abgelehnt, ein Drittel war unentschieden. Dieses unentschiedene Drittel ist indessen zum großen Teil ins Lager derjenigen gewechselt, die von vornherein gegen Verhandlungen, gegen einen Friedensschluss mit den Palästinensern, waren. Die "Mitte" hat sich durch die im Herbst 2000 ausgebrochene Intifada und die damit in Zusammenhang stehende fast tägliche Infragestellung der eigenen Sicherheit ins rechte Lager begeben. Viele waren der Meinung: Ministerpräsident Barak wollte in Camp David alles geben; die Palästinenser jedoch hätten auf seine weitreichenden Zugeständnisse mit der Intifada geantwortet. (...)

bpb: Wie gestalten sich diese Auseinandersetzungen in der israelischen Öffentlichkeit?

Timm: Die "Falken", ganz besonders die militanten Siedler, sind in der politischen Offensive und stark auch im öffentlichen Erscheinungsbild präsent, sei es durch Demonstrationen oder durch ihre Repräsentanz in der Knesset. Andererseits wäre es falsch anzunehmen, die Siedlerbewegung sei tief in der Bevölkerung verankert. Es gibt nicht wenige Kritiker, die meinen, der Staat Israel werde von den Siedlern als Geisel genommen; man dürfe die Sicherheit und die Interessen der israelischen Bürger nicht den Siedlern opfern. Natürlich sind auch die Friedenskräfte wahrnehmbar, im Internet etwa, durch öffentliche Aktionen und Kundgebungen. (...)

bpb: Die israelische Regierung lässt einen über 700 Kilometer langen "Anti-Terror-Zaun" um das Westjordanland bauen. (...) Verbaut sich Israel selbst durch dieses Symbol nicht alle Chancen für ein Bewusstsein der guten Nachbarschaft?

Timm: (...) Laut israelischer Regierung erfolgt der Bau des Zauns in erster Linie aus Sicherheitsgründen und nicht unbedingt, um die künftige politische Grenze zu markieren. Beides hätte miteinander verbunden werden können, wenn Ariel Scharon seinen Plan der Abtrennung von Gaza, der ja mit dem Zaun in Verbindung steht, nicht als einseitige israelische Entscheidung verkündet hätte, sondern wenn der israelische Abzug als Ergebnis von Verhandlungen mit der palästinensischer Seite zustande käme. Das hätte ein wichtiger Schritt in Richtung auf einen Nahost-Frieden sein können. Der Bau des Sicherheitszauns erfolgt zudem zu wesentlichen Teilen auf palästinensischem Territorium. Er zerstört die Lebensräume und –grundlagen palästinensischer Gemeinden. Da stellt sich natürlich die Frage, ob er Israel langfristig tatsächlich sicherer macht oder eher eine Verständigung mit den Palästinensern verhindert.

bpb: Eine inoffizielle Initiative von Intellektuellen zur Verständigung im Nahen Osten mündete im Geneva Accord. Die Initiatoren eines ersten Friedensplans, Professor Sari Nusseibeh, Rektor der Ost-Jersualemer Al-Quds-Universität und der israelische Ex-Geheimdienstchef Ami Ayalon, wurden Ende 2003 mit dem Lew-Kopelew-Preis ausgezeichnet.

Timm: Nusseibeh und Ayalon, die Väter der Genfer Initiative, sagten: Wir brauchen Grundprinzipien, auf die sich Israel und Palästina verständigen können - die Zwei-Staaten-Lösung, den gemeinsamen Umgang mit der Flüchtlings- und der Siedlerproblematik. Es gab Unterschriftensammlungen für das Nusseibeh-Ayalon-Papier auf beiden Seiten. In Tel Aviv sammelten junge Leute wochenlang auf den Straßen Unterschriften. Ich hatte den Eindruck, dass es auf diese Weise auch gelang, die verbreitete Frustration etwas aufzubrechen. Parallel dazu gab es andere Aktivitäten, etwa die Verweigerung einiger israelischer Piloten, sich an Militäraktionen in den besetzten Gebieten zu beteiligen, oder Organisationen von Reservisten, die nicht bereit sind, in den besetzten Gebieten zu dienen.

bpb: Haben die Aktionen auch in der palästinensischen Bevölkerung Resonanz gefunden?

Timm: Ja, diese blieben aber weitgehend beschränkt auf Kreise der Intellektuellen. Zehn Tage nach der Verkündigung der Nusseibeh-Ayalon-Initiative hatten 2000 Palästinenser den Aufruf unterzeichnet. Wenngleich die Beteiligung an den Unterschriftensammlungen in Israel deutlich höher lag, ließ sich auch auf palästinensischer Seite in den folgenden Monaten eine deutliche Zunahme beobachten. Die Suche nach einer Möglichkeit, aus dem "Teufelskreis" auszubrechen, findet also Resonanz. (...)
(...) Es gibt nach wie vor israelisch-palästinensische Projekte, Formen und Ebenen der praktischen Zusammenarbeit und politische Diskussionen. Seit der Intifada ist es jedoch schwieriger geworden, sich regelmäßig zu treffen. Viele Kontakte funktionieren über das Internet oder man trifft sich im Ausland. Für wichtig halte ich, dass innerhalb Israels auch der Dialog zwischen jüdischen und arabischen Staatsbürgern gepflegt wird. Wie nachhaltig das ist, kann nur schwer abgeschätzt werden – was ist Symbolik und was wirkt weiter? Hätte man in der Phase des Oslo-Prozesses das Miteinander stärker in den Mittelpunkt gestellt, wäre vielleicht einiges anders gekommen. (...)

bpb: Wie groß beziffern Sie den Anteil derjenigen auf beiden Seiten, die dem Konflikt ihr Leben verschrieben haben und die zivilgesellschaftlich nur schwer erreichbar sind?

Timm: Unter israelischen Siedlern der Westbank und des Gaza-Streifens wurde vor einem Jahr eine Umfrage durchgeführt. 13 Prozent gaben an, dass sie sich mit allen Mitteln - also auch militant - einer Evakuierung widersetzen würden. 37 Prozent wollten sich im Rahmen legaler Mittel wehren. Nun sind die Siedler nur ein kleiner Teil der israelischen Bevölkerung, etwa 4 Prozent. Und wie die Umfrage zeigte, wollen nicht alle den Kampf um jeden Quadratzentimeter von "Groß-Israel" führen. Viele Siedler sind ursprünglich nicht aus politischer oder religiöser Überzeugung, sondern wegen bezahlbaren Wohnraums und sicherer Arbeitsplätze in die Westbank gegangen. Rund zwei Drittel der Befragten gaben an, dass sie gegen eine Entschädigung die Übersiedlung ins Kernland erwägen würden. Auch auf palästinensischer Seite repräsentieren die islamisch-fundamentalistischen Gruppen nur etwa ein Fünftel der Bevölkerung, wenngleich ihre Aktionen von mehr als der Hälfte der Palästinenser positiv beurteilt werden. Mitte März 2004 sprachen sich immerhin 84 Prozent der befragten Palästinenser für eine beidseitige Beendigung der Gewalt aus; 74 Prozent befürworteten eine israelisch-palästinensische Versöhnung nach einem Friedensabkommen.

bpb: Was fehlt im Moment zu einem fairen Interessenausgleich, mit dem beide Seiten dauerhaft leben können?

Timm: Ich meine es fehlt an friedens- und kompromissbreiten, visionären Führerpersönlichkeiten auf beiden Seiten der Hassbarrikade, Menschen, die auch in der Lage wären, ihre Visionen umzusetzen. Hinzu kommen internationale Rahmenbedingungen, die eine Verwirklichung derartiger politischer Visionen und Friedensschritte ermöglichen. Und für die am Konflikt beteiligten Völker fehlt das Licht am Ende des Tunnels, das heißt die Gewissheit, dass politisches Handeln und Verhandeln die individuelle und kollektive Sicherheit fördert und gleichzeitig den nationalen Ambitionen dient.

Das Interview führten Klemens Vogel und Sebastian Kauer

* Dr. Angelika Timm lehrt zur Zeit an der Bar Ilan-Universität, Ramat Gan. Ihre Forschungs- und Publikationstätigkeit konzentriert sich auf Geschichte, Politik und Kultur Israels, den Nahostkonflikt, die israelische Zivilgesellschaft und die deutsch-israelischen Beziehungen. Ihre jüngste Publikation "Israel – Gesellschaft im Wandel" ist den Umbrüchen in der israelischen Gesellschaft, insbesondere in den 90er Jahren, den aktuellen innergesellschaftlichen Spannungslinien und den Zukunftsdebatten in Israel gewidmet.

Aus: Bundeszentrale für politische Bildung, April 2004; www.bpb.de/themen/2ZELT8


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