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"Wir hoffen auf Druck von außen"

Der israelische Friedensaktivist Adam Keller über Erwartungen an die Friedensbewegung in Deutschland


Adam Keller hat 1988 während seines Militärdienstes in der israelischen Armee 117 Panzer und andere Militärfahrzeuge mit Slogans gegen die Besatzung beschrieben und war dafür im Gefängnis. Heute ist er Sprecher der israelischen Friedensorganisation Gush Shalom. Marek Voigt traf den 55-Jährigen am Wochenende in Hannover bei der Nahost-Konferenz der Kooperation für den Frieden.

Neues Deutschland: Für Ihren Aufruf zur Desertion waren Sie drei Monate im Gefängnis. Hatten Sie sich vorher die Konsequenzen genau überlegt?

Keller: Ich hatte damit gerechnet, dass man mich erwischen würde, aber es kam mir nicht sehr gefährlich vor. Als ich im Gefängnis war und die drei Monate Haft sich wie eine Ewigkeit anfühlten, da habe ich manchmal gedacht: Warum hast du diese dumme Sache gemacht? Du könntest jetzt ruhig zu Hause sein.

Was hat Sie zu dieser Aktion motiviert?

Das war am Beginn der ersten Intifada. Zu dieser Zeit sind schreckliche Dinge in den besetzten Gebieten geschehen. Kinder wurden getötet, jeden Tag gab es alle Arten von Unterdrückung. Eine Begebenheit wurde im Fernsehen berichtet: Einige Jungen hatten eine palästinensische Fahne an einen Strommast gehängt und Soldaten zwangen einen Passanten, die Fahne herunterzuholen. Der Mann starb an einem Stromschlag. Die anderen Soldaten hörten davon, lachten und sagten: »Ein Araber weniger.« Da habe ich mich gefragt: Was tue ich hier?

Der konkrete Auslöser war eine Radiosendung, in der ein Holocaust-Überlebender erzählte, wie wichtig alte Kartoffelschalen für die Hungernden im Ghetto von Lodz waren. Direkt danach erhielt ich den Befehl, dreißig Portionen Suppe wegzuschütten. Ich konnte die Suppe nicht in der Zeit zurück zu den Menschen im Ghetto oder nach Afrika schicken, aber ich konnte in der Nacht von einem Panzer zum nächsten laufen und darauf schreiben: »Soldaten der IDF, weigert euch, Okkupanten und Unterdrücker zu sein, weigert euch, in den besetzten Gebieten zu dienen!«

Welche Aktionsformen sind heute in der israelischen Friedensbewegung verbreitet?

Die Friedensbewegung ist heute in keiner guten Verfassung. In den 80er und 90er Jahren konnten wir Hunderttausende mobilisieren. In der letzten Woche wurde schon eine Demonstration mit 20 000 Teilnehmern für einen großen Erfolg gehalten. Aber es gibt eine junge Generation in der Friedensbewegung. Die ist entschlossen wie noch nie. Sie nehmen jeden Freitag an den Demonstrationen der palästinensischen Dörfer gegen die israelische Sperrmauer teil und setzen sich dem Tränengas aus.

Unterstützt die israelische Friedensbewegung also vor allem palästinensische Aktionen?

Nein, das ist eine Aktionsform unter anderen. Es gibt eine Diskussion in der Friedensbewegung: Ist das wirklich das Beste, das wir tun können oder sollten wir eher versuchen, die israelische Öffentlichkeit zu erreichen? Es gibt darauf keine klare Antwort. Beides ist wichtig. Und so gibt es eine Arbeitsteilung.

Warum ist die israelische Friedensbewegung so schwach?

Das kommt den Lesern Ihrer Zeitung sicher bekannt vor: Wer sich als Sozialist bezeichnet, hört oft: Sozialismus wurde schon ausprobiert und ist gescheitert. Und wenn Sie dann sagen, das sei nicht Ihr Sozialismus gewesen, Sie wollen ja einen anderen, gelten Sie als utopischer Träumer. Genauso ist es in Israel mit dem Frieden. Hier wird gesagt, wissen Sie nicht, was aus Oslo und Camp David geworden ist? Und dann antworte ich: Damals wurden Fehler gemacht, wäre es anders angegepackt worden, hätte es Erfolg haben können und könnte es immer noch haben. Aber das glaubt mir keiner. Das ist das größte Problem, das wir heute haben.

Was erwarten Sie von der Friedensbewegung in Deutschland?

In Israel werden wir absehbar keinen Aufschwung der Friedensbewegung erleben. Diese Chance gab es 1993, als Rabin Arafats Hand schüttelte. Damals gab es eine große Unterstützung von unten für Frieden. Heute können wir vor allem auf Druck von außen hoffen. Abgesehen von einer Minderheit wird das kaum jemand in der israelischen Gesellschaft aktiv unterstützen. Aber die Mehrzahl würde es hinnehmen und sagen: Die Regierung musste dem internationalen Druck nachgeben, lasst uns sehen, ob es funktioniert.

Der entscheidende Moment wird im September dieses Jahres sein, wenn die Palästinenser die Vereinten Nationen um die Anerkennung des Staates Palästina bitten. Die deutschen Friedensorganisationen müssen intensiv dafür arbeiten, dass die Bundesregierung diesen Staat anerkennt und sich als wichtigstes Mitglied auch innerhalb der EU dafür einsetzt.

* Aus: Neues Deutschland, 26. Januar 2011


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