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Irans Gratwanderung

Die Wirtschaft wächst trotz Boykottmaßnahmen. Aber Abwertung des Rial, Inflation und niedrige Löhne treiben Beschäftigte auf die Straße

Von Rainer Rupp *

Die iranische Wirtschaft steckt in Schwierigkeiten. Es sind nicht nur die Wirtschafts- und Finanzsanktionen westlicher Staaten, die dazu beitragen. Probleme bereiten auch die von Präsident Mahmoud Ahmadinejad in Angriff genommen, tiefgreifenden Reformen. In den zurückliegenden Wochen hat der Iran zudem bei der Einführung seiner neuen Devisenbörse eine panikartige Flucht aus der Landeswährung (Rial) erlebt, in deren Folge deren Wechselkurs gegenüber dem US-Dollar um mehr als 25 Prozent gefallen ist. Auf das ganze Jahr berechnet hat er gegenüber der US-Devise 70 Prozent verloren.

Dies wird sich in höheren Importpreise für alle auf Dollarbasis gehandelte Produkte ausdrücken und die ohnehin bereits starke Inflation in den kommenden Monaten weiter anheizen. Dieser Negativtrend wird durch den Umstand gelindert, daß Iran die Abwicklung seiner Außenhandelsgeschäfte weitgehend vom US-Dollar gelöst hat. Ölexporte nach Indien und China werden in den dortigen Landeswährungen abgewickelt. Da viele Güter des täglichen Gebrauchs aus China und Indien importiert werden – also nicht aus dem Dollarraum, dürfte die Wirkung der Rialabwertung nicht so dramatisch sein, wie es von Kommentatoren in den westlichen Medien dargestellt. Die sehen das Land unmittelbar vor dem wirtschaftlichen Kollaps stehen.

Dennoch ist die Schadenfreude von Politikern und Medien in der selbsternannten »Internationalen Gemeinschaft« (USA, EU und Kanada) groß. Der dreifache ökonomische Tiefschlag, den Teheran hinnehmen mußte, wird dabei dem erfolgreichen Wirken der eigenen Boykottpolitik zugerechnet.

Im Westen haben zuletzt auch die Hoffnungen auf einen Regimewechsel in Teheran zugenommen. Anlaß dafür waren zunehmende Proteste ganzer Belegschaften von Industriebetrieben. Washington und Brüssel hoffen, daß die Arbeiterklasse im Iran ihnen hilft, den imperialistischen Feldzug zu gewinnen.

Es rumort tatsächlich in der Arbeiterschaft des Landes. Anfang Oktober wurde ein von zehntausend Beschäftigten unterschriebenes Manifest an Arbeitsminister Abdolreza Sheikholeslami in Teheran übergeben. Darin heißt es laut der US-Nachrichtenagentur AP, daß »die atemberaubenden Preissteigerungen« in den vergangenen zwölf Monaten durch die Lohnerhöhung von lediglich 13 Prozent nicht kompensiert worden sei. Millionen von Arbeitern hätten wachsende Probleme, ihre Familien mit dem Notwendigsten zu versorgen. Zugleich gibt es verhaltene Drohungen aus den Gewerkschaften, daß es nicht bei der Unterzeichnung von Petitionen bleiben werde, falls sich die Lage nicht verbessert.

Die volkswirtschaftlichen Kennziffern der Islamischen Republik geben dabei sowohl Anlaß zur Sorge, aber auch zur Hoffnung. Zweifelsohne steckt die Wirtschaft in großen Schwierigkeiten. Bei näherem Hinsehen zeigt sich ein differenzierteres Bild: Laut Internationalem Währungsfonds (IWF) ist die Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt, BIP) im vergangenen Jahr trotz anhaltender Krise um gute zwei Prozent gewachsen. Die Teuerungsrate lag bei 21,5 Prozent. Deutlich zurückgegangen ist der Überschuß der Zahlungsbilanz, laut IWF-Prognosen von 12,5 Prozent auf 3,4 Prozent des iranischen BIP. Das Wirtschaftswachstum werde in diesem Jahr mit 0,9 Prozent schwächer sein und die Inflation im Jahresdurchschnitt auf 25 Prozent steigen.

Die westlichen Sanktionen dürften ausschlaggebend für den Rückgang des Überschusses der Zahlungsbilanz sein. Immerhin erwirtschaftet das Land aber weiterhin ein Plus. Zugleich deutet nichts darauf hin, daß die Sanktionen ursächlich für die hohe Inflation und den Kursverfall des Rial verantwortlich sind. Den IWF-Zahlen zufolge, die von westlichen Medien verbreitet wurden, trägt daran wohl vor allem Ahmadinejads Wirtschaftsreformen Schuld. Diese Maßnahmen zielen auf den Abbau umfassender staatlichen Subventionen im sozialen Bereich ab, insbesondere bei lebenswichtigen Gütern des täglichen Verbrauchs (Getreide, Brot, Reis, Benzin). Umgerechnet etwa 100 Milliarden Dollar sollen demnach so im jährlichen Staatshaushalt eingespart werden.

Stark subventionierte Lebensmittel werden oft mit großen wirtschaftlichen Folgeschäden zweckentfremdet gebraucht. Das Verfüttern von extrem billigem Brot an Hühner und Schweine war z.B. ein bekanntes Problem im realsozialistischen Osteuropa. Durch die allmähliche Beendigung von Subventionen kann Mißwirtschaft mit wertvollen Ressourcen gestoppt werden. Und wenn zugleich die Einkommen der unteren Lohngruppen entsprechen erhöht werden, wäre auch der negative sozialpolitische Effekt des Subventionsabbaus zu kompensieren. Genau das versucht die Regierung in Teheran seit etwa zwei Jahren – und es ist Ursache starker Preis- wie Lohnerhöhungen. Allerdings scheint dieser Prozeß den Verantwortlichen in den zurückliegenden zwölf Monaten zunehmend aus dem Ruder gelaufen zu sein.

* Aus: junge Welt, Samstag, 27. Oktober 2012


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