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Streit um das iranische Atomprogramm: Müller (GRÜNE) gießt Öl ins Feuer

Offener Brief von Mohssen Massarrat und Bahman Nirumand: "Nicht die Spur von Nachdenklichkeit"


Am 12. November 2011 veröffentlichten Bahman Nirumand und Mohssen Massarrat einen Offenen Brief an die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Anlass dafür war eine Presseerklärung der außenpolitischen Sprecherin der GRÜNEN, Kerstin Müller, zum Israel-Iran-Atomstreit (siehe Kasten). Darin tritt die Bundestagsfraktion B'90/Grüne einerseits implizit dafür ein, dass Israel weiterhin seine Atombomben behält, und andererseits plädiert sie für eine Politik der noch härteren Sanktionen gegen Iran, die irgendwann doch in einen schrecklichen Krieg einmünden und einen Flächenbrand in der gesamten Region entfachen würde. Mohssen Massarrat und Bahman Nirumand wollen zu einer "derart gefährlichen Politik nicht schweigen", noch dazu wenn sie von einer Partei formuliert wird, "die ursprünglich für viele von uns Hoffnungsträgerin war" und selbst weiterhin für sich in Anspruch nimmt, aus der Friedensbewegung hervorgangen zu sein. "Leider", so heißt es in einem Begleitschreiben von Mohssen Massarrat, "machen sich auch viele exiliranische Gruppen ähnliche Positionen zu eigen in der trügerischen Hoffnung, in einem 'libyisierten' Iran für sich eine Zukunft zu sehen." Auch aus diesem Grunde erhoffen sich die Autoren des Offenen Briefs eine offene Debatte über den sich zuspitzenden Konflikt.

Wir dokumentieren im Folgenden den Offenen Brief von Massarrat und Nirumand sowie (im Kasten) zuerst die kritisierte Presseerklärung der Grünen-Fraktion (Kerstin Müller).


PRESSEMITTEILUNG der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen

9. November 2011

Iran: Sanktionen konsequent umsetzen und verschärfen

Zu den bisher bekannt gewordenen Informationen aus dem jüngsten Iran-Bericht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) und der Androhung eines Militärschlags Israels erklärt Kerstin Müller, Sprecherin für Außenpolitik:

Noch nie hat ein Bericht der Internationalen Atomenergiebehörde so eindeutige Belege für die Existenz eines Atomwaffenprogramms im Iran vorgelegt wie dieser. Auch wenn das iranische Regime an seiner Propaganda von der friedlichen Nutzung der Atomkraft festhält, sind sie angesichts dieses Berichtes der IAEA nur noch lächerlich.

Mit seinem Atomwaffenprogramm destabilisiert der Iran eine ganze Region, die in vielfältiger Weise in Aufruhr ist und dringend einer Beruhigung ihrer Krisen und einer Bearbeitung ihrer Konflikte bedarf. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Vernichtungsdrohungen gegenüber Israel muss weiterhin in einer möglichst breiten internationalen Koalition darauf hingearbeitet werden, den Iran von der Produktion von Atomwaffen abzuhalten. Dazu muss die Double-Track-Strategie konsequent von der internationalen Gemeinschaft weiter verfolgt werden: Einerseits die konsequente Umsetzung der Sanktionen sowie die Verhängung neuer Sanktionen, anderseits das Offenhalten von Verhandlungsangeboten.

Die Sorgen und Ängste in Israel angesichts dieser Entwicklung sind verständlich. Dennoch wäre ein israelischer Militärschlag eine Katastrophe und würde eine weitere Eskalation des Konflikts bedeuten mit unabsehbaren Folgen für die Region und Israel selbst. Hinzu kommt, dass sich alle führenden Militärexperten darin einig sind, dass ein militärischer Angriff das Atomwaffenprogramm des Iran nicht stoppen kann. Der Umstand, dass die Führungen der israelischen Sicherheitsorgane wie auch ihre Vorgänger gegen ein militärisches Vorgehen gegen den Iran sind, sollte den Verantwortlichen in der israelischen Regierung zu denken geben, die ein solches Vorgehen in Erwägung ziehen.

Wichtig wäre aber die Wiederaufnahme der israelisch-palästinensischen Friedensverhandlungen. Zwar würde eine neue Dynamik in den israelisch-palästinensischen Verhandlungen vermutlich nichts an der feindseligen Haltung des iranischen Regimes gegenüber dem Staat Israel ändern oder das Atomprogramm stoppen. Aber sie würde die politische Isolation des Regimes und seines Atomwaffenprogrammes fördern.



OFFENER BRIEF

an die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen angesichts der Pressemitteilung vom 09.11.2011 ihrer außenpolitischen Sprecherin Kerstin Müller zu dem neuen IAEO-Bericht zu Iran

Es ist äußerst befremdlich, dass die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen sich in dem aktuellen Konflikt: iranisches Atomprogramm versus israelische Drohung mit Militärschlag so eindeutig parteiisch positioniert. Wir teilen uneingeschränkt die Auffassung, dass jede neue Atommacht eine zu viel ist und dass die Atombombe in der Hand der politischen Führung des Irans das Wettrüsten im Mittleren und Nahen Osten verschärfen und die längst existierende Destabilisierung auf die Spitze treiben würde. Wer aber unterschlägt, dass ein Atomwaffenarsenal in der Hand eines Staates, der seit seiner Gründung seine Nachbarstaaten mit etlichen Kriegen überzogen und bisher auch nicht den Weg gefunden hat, gegen den erklärten Wunsch der Weltgemeinschaft die Besetzung Palästinas aufzugeben, der ist auf einem Auge blind. Und wer wie die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen nur iranische Atombomben verhindern will, der plädiert nicht nur dafür, dass Israel als einziges Land in der Region sein Monopol als Atommacht weiter beibehält, der macht sich gerade deshalb auch für die Weiterverbreitung von Atomwaffen in der Region und darüber hinaus letztlich mit verantwortlich. Und wer wie Netanjahu und Liebermann glaubt, den Menschen in Israel durch militärische Stärke und Atombomben mehr Sicherheit zu gewähren, der setzt die Sicherheit von Israels Bevölkerung am meisten aufs Spiel. Ginge es der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen wirklich um die Existenz Israels und um ein friedliches Zusammenleben aller Völker im Mittleren und Nahen Osten, so müsste sie sich für die Massenvernichtungsfreie Zone und für die Idee der Kooperation im Mittleren und Nahen Osten einsetzen und alle Staaten, einschließlich Iran und Israel, auffordern, an dieser Friedensperspektive konstruktiv mitzuarbeiten. Hier sollte sich die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen an einigen wenigen klugen Stimmen aus Israel ein Beispiel nehmen (s. z. B. Hillel Schenker, Haaretz vom 11.11.2011).

Die Stellungnahme der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen lässt zudem jene Sachlichkeit und Urteilskraft vermissen, die man von einer Fraktion des deutschen Bundestages eigentlich erwarten kann. Sie übernimmt unkritisch die Aussagen eines propagandistisch aufgeblähten IAEO-Berichtes, dessen Glaubwürdigkeit mehr als zweifelhaft ist:
  • Der IAEO-Bericht ist schon allein vor seiner Veröffentlichung dadurch desavouiert worden, dass ein Nichtmitgliedsstaat, wie Israel, 10 Tage zuvor mit Verweis auf eben diesen Bericht, einem IAEO-Mitgliedsstaat, wie dem Iran, mit Krieg drohte.
  • Der IAEO-Bericht ist zwar umfangreicher als je zuvor, jedoch deshalb nicht präziser. Er enthält weder konkrete Angaben darüber, ob der Iran die Atombombe auch wirklich bauen kann, noch wann dies der Fall sein wird. Die Hiobsbotschaft, Iran werde in einem halben Jahr die Atombombe besitzen, hören wir doch schon seit über zehn Jahren.
  • Der Bericht stützt sich im wesentlichen offensichtlich auf Geheimdienstinformationen aus zehn Ländern. Warum findet man darin aber nicht die Namen dieser Länder? Wollte die IAEO durch diese Unterlassung vermeiden, auch Israel und damit einen Nichtmitgliedsstaat, der dazu noch selbst eine Konfliktpartei ist, als Informationsquelle preiszugeben und sich selbst in schlechtes Licht zu stellen?
In der Stellungnahme der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen erkennt man, trotz dieser Glaubwürdigkeitslücken des IAEO-Berichtes, nicht einmal die Spur einer Nachdenklichkeit, die gerade in einem Konflikt mit möglicherweise kriegerischen Folgen zwingend geboten wäre. Haben nicht schon einmal die vielen Geheimdienstinformationen die Rechtfertigung für den Irak-Krieg eines George W. Bush geliefert? Hat die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen schon vergessen, wie der ehemalige Verteidigungsminister der USA, Colin Powell, sich vor der Weltöffentlichkeit für seine Lüge entschuldigte, zu der er sich durch Geheimdienstinformationen im UN-Sicherheitsrat hatte hinreißen lassen. Ist ein Irak- Krieg nicht genug im Mittleren und Nahen Osten? Muss ein Iran-Krieg noch dazukommen, um aus der Geschichte zu lernen? Es ist geradezu grotesk, dass man einer Partei, die ursprünglich aus der Friedensbewegung ihre Legitimation bezogen hat, die propagandistisch passend lancierten Rechtfertigungsmechanismen für einen neuen Krieg vor Augen halten muss.

Die Warnungen der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen an die Adresse der Regierung in Israel vor den „katastrophalen Folgen eines Krieges“ laufen ins Leere, wenn diese gleichzeitig für noch härtere Sanktionen gegen den Iran eintritt, die zu nichts anderem taugen, als den Menschen im Iran noch mehr Schaden zuzufügen und den Weg für einen Krieg zu ebnen. Erinnern wir uns: Am Ende der härtesten Sanktionen gegen das Regime von Saddam Hussein in den 1990er Jahren stand der Krieg. Je härter die Sanktionen gegen den Iran werden, desto länger wird die Lebensdauer des antidemokratischen Systems dort. Den Machthabern dieses Systems wird dadurch ein willkommener Vorwand geliefert, um von eigener Korruption und Misswirtschaft, die das Land zugrunde gerichtet haben, abzulenken und - genauso wie Saddam Hussein es während des 10-jährigen Sanktionsregimes getan hat - sich als Retter der Nation in Not hinzustellen. So kann sich das System der Islamischen Republik Iran eine Legitimation verschaffen, die ihm längst abhanden gekommen ist. Man ist gut beraten, endlich mit einer Politik des double standard aufzuhören. Andernfalls bastelt man bewusst oder unbewusst an einer Politik, die unweigerlich in einen neuen Krieg im Mittleren und Nahen Osten, diesmal gegen den Iran, führt, der in der gesamten Region, einschließlich Israel, einen Flächenbrand auslösen würde.

Mohssen Massarrat, Bahman Nirumand

Berlin, 12. November 2011



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