Die Sanktionen gegen den Irak sind ein Verstoß gegen die Genozid-Konvention
Die Lebensumstände der irakischen Bevölkerung sind erbärmlich
Von Hans C. Graf Sponeck
Nachfolgendes Manuskript gibt einen Vortrag wieder, den Graf Sponeck Ende Januar in Frankfurt bei der IPPNW-Festveranstaltung für Prof. Gottstein gehalten hat. Die Frankfurter Rundschau vom 7. Februar 2002 veröffentlichte den Vortrag auf ihrer Dokumentationsseite. Wir haben den Text etwas gekürzt.
Bringen Sanktionen den Frieden? Auf Irak bezogen, ist es aufschlussreicher zu
fragen: Können Sanktionen, wie sie seit elf Jahren gegen Irak bestehen, den
Frieden bringen? Eine Antwort kommt aus dem englischen Unterhaus, wo eine
Gruppe von Parlamentariern aller Parteien im Januar 2000 einen Bericht über
Sanktionen vorlegte. "Es ist schwer, sich vorzustellen", so schlossen sie, "dass in
Zukunft die Vereinten Nationen sich noch einmal veranlasst sehen könnten,
Sanktionen dieser Art zu verhängen." Dies ist auch meine Meinung.
Mit dem Zitat aus London wäre die Frage, ob Sanktionen Irak Frieden bringen
können, eigentlich schon beantwortet. Der ungeheure Schaden, den eine falsche
internationale Politik im Lande angerichtet hat, muss zum Nachdenken zwingen.
Warum wird die irakische Bevölkerung so behandelt? An Erkenntnissen über die
erbärmliche Existenz der Bevölkerung mangelt es nicht. Sadruddin Agha Khan
besuchte als Sonderbeauftragter des UN-Generalsekretärs im Frühjahr 1991 Irak.
Er sprach schon damals von apokalyptischen Eindrücken. Dies war zu Beginn der
Sanktionen! In den darauf folgenden Jahren entstand im UN-Sicherheitsrat eine
Irak-Politik, die immer deutlicher an den amerikanischen Interessen ausgerichtet
wurde und die Vorstellungen einer multilateralen Staatengemeinschaft immer
weniger widerspiegelte. Hier zeigte sich eine bewusste Schwächung des
UN-Sicherheitsrats. Verdeutlicht wurde dies durch die kompromisslosen Worte
Jesse Helms, des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im amerikanischen
Kongress. "Wir werden die Vereinten Nationen stärken, wenn sie unsere Politik
unterstützen, und sie schwächen, wenn sie dies nicht tun", sagte er 1999 bei
seinem Besuch im UN-Sicherheitsrat.
Bis vor kurzem basierten Amerikas Interessen, unterstützt von Großbritannien, auf
"containment", einem Abriegeln Iraks. Ein geschwächter, aber nicht gestürzter
Saddam Hussein wurde der Vorwand für eine macht-, wirtschafts- und
sicherheitspolitische Präsenz am Persischen Golf. Diese Politik hat auf die
irakische Bevölkerung wie eine Bestrafung gewirkt: Ihre Menschenrechte sind
doppelt eingeschränkt, innenpolitisch und außenpolitisch - für ein Vergehen, das
sie nicht begangen hat.
Die Konfrontation der USA und Großbritanniens mit Irak wird im wahrsten Sinne
des Wortes auf dem Rücken der irakischen Zivilbevölkerung ausgetragen. Mit
machiavellischer List laufen sich die Kontrahenten bei der Auslegung der Ursachen
für das verzweifelte und unwürdige Leben der Menschen in Irak den Rang ab. Die
USA machen Saddam Hussein verantwortlich. Die irakische Regierung hingegen
besteht darauf, dass allein die Sanktionen der Grund des Leidens sind.
In Irak sind die Konsequenzen politischer Fehltritte hart. Der normale Bürger jedoch
kann ungestört sein karges Leben leben. Der Hauptgrund für die Verelendung und
Armut in Irak ist zweifellos in der Sanktionspolitik zu sehen. Berichte renommierter
Organisationen wie des Internationalen Roten Kreuzes, von Care, Unicef, der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) und anderen UN-Organisationen haben das
über die Jahre hinweg mit Sorge zum Ausdruck gebracht. Dass die dabei
angeführten Daten und Fakten von den USA und Großbritannien immer wieder
angegriffen werden, ist als Ablenkungsmanöver zu verstehen. Es ist Tatsache,
- dass in Irak die Kindersterblichkeit in den Jahren von 1990 bis 1999, laut Unicef,
um 160 Prozent gestiegen ist. Dies ist der höchste Anstieg von 188 Ländern, die
analysiert wurden;
- dass 500 000 Kinder in diesem Zeitabschnitt wegen verschmutzten Wassers,
fehlender Medikamente und Unterernährung gestorben sind. Alle drei Faktoren sind
ausschließlich auf die Sanktionen zurückzuführen;
- dass im Jahr 2000 30 Prozent der irakischen Kinder unter fünf Jahren an
chronischer und über sieben Prozent an akuter Unterernährung litten. Laut Unicef
waren es noch 1991 18,7 und 3 Prozent gewesen;
- dass in den Jahren 1990 bis 1998 die Zahl der Kinder unter 14 Jahren, die
psychisch erkrankt waren, laut einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation
(WHO), um 124 Prozent gestiegen war;
- dass Irak im Jahr 1987 von der Unesco international anerkannt worden war, weil
im Zeitraum von zehn Jahren (1977-87) der Analphabetismus von 48 Prozent auf 20
Prozent reduziert worden war. 1995 aber war die Zahl der Analphabeten erneut auf
42 Prozent gestiegen;
- dass von Dezember 1996 bis Ende November 2001 50,7 Milliarden Dollar an
Ölgeldern eingenommen wurden und von diesem Betrag 29,6 Milliarden Dollar für
humanitäre Zwecke zur Verfügung gestellt wurden. Was tatsächlich im Rahmen
des Öl-für-Nahrungsmittel-Programms in Irak in dieser Zeit angekommen ist, belief
sich auf einen Gesamtwert von nur 15,9 Milliarden Dollar oder einem
Pro-Kopf-Betrag von 141 Dollar pro Jahr. Damit zeigt sich, wie unzulänglich das
Programm für das Leben der Menschen ist. Den heranwachsenden jungen
Menschen bietet sich also eine mehr als fragwürdige Zukunft. ...
Selbst die begrenzten Einnahmen des Öl-für-Nahrungsmittel-Programms können
nicht voll ausgenutzt werden. Lebenswichtige Dinge wie Impfstoffe, diagnostische
Geräte, Unkrautvernichtungsmittel, Unterrichtsmaterial, Ersatzteile für die
Ölindustrie sowie für die Wasser- und Abwasserversorgung, sogar Ambulanzen
werden von den USA und Großbritannien blockiert. Es bestehe die Gefahr, so
argumentieren die beiden Regierungen, dass solche Importe für militärische
Zwecke missbraucht werden könnten. Anfang Januar 2002 waren es 1854
Warenbestellungen im Wert von 4,9 Milliarden Dollar, deren Lieferung verhindert
wurde. Dabei wird ignoriert, dass in Irak ein Stab von über 300 UN-Beobachtern
eingesetzt ist, der keine andere Aufgabe hat, als zu prüfen, dass die Waren an den
richtigen Ort kommen.
Es ist zu unterstreichen, dass die Zusammenarbeit zwischen den UN und den
irakischen Behörden eng und professionell ist. Dies mag überraschen, denn in der
internationalen Presse liest man es meist anders. Das Orwellsche "double speak",
mit dem das Irak-Bild beschrieben wird, ist erschreckend. Auf meine Versuche,
dem UN-Sicherheitsrat und den Medien korrekte Daten über die Lage der
Menschen zu übermitteln, reagierte der Sprecher des US-Außenministeriums,
James Rubin, mit der Bemerkung: "Dieser Mann in Bagdad wird bezahlt, um zu
arbeiten, nicht um zu sprechen." ...
Wer die Irak-Politik der UN als Ganzes bewertet, wird erkennen, dass darin ein
Ende der Sanktionen nur dann ins Auge gefasst ist, wenn ein im "Iraq Liberation
Act" des amerikanischen Kongresses vom Oktober 1998 klar formuliertes Ziel
erreicht ist: der Sturz von Saddam Hussein und seiner Regierung. Bis dahin wird
man weiter versuchen, die Bevölkerung dafür zu bestrafen, dass sie ihren Diktator
erdulden muss. Dies ist wahrlich eine seltsame Logik, für die USA allerdings mit
der Konsequenz einer guten strategischen, wirtschaftlichen und militärischen
Dividende.
Ein breiter Katalog von Entscheidungen und Maßnahmen im UN-Sicherheitsrat
hilft, diese Politik aufrecht zu halten. Dabei sind die Schlüsselresolutionen von
1991 und 1999 bewusst unklar formuliert; die Amerikaner nennen dies "konstruktive
Ungenauigkeit", "constructive ambiguity". Ohne genau definiertes Abrüstungsziel
können die USA die Willfährigkeit der Iraker bequem als ungenügend bezeichnen. ...
Eine detaillierte Analyse der Bedürfnisse der irakischen Bevölkerung hat es weder
zu Beginn der Sanktionen noch später gegeben. Ebenso gibt es keine Strategie für
die Aufhebung eines Embargos. Die Regularien im UN-Sicherheitsrat wurden ... für Irak so angewandt, dass die diplomatischen Vertreter
Iraks selten die Gelegenheit haben, an den Entscheidungen über ihr Land
teilzunehmen. ...
Der Präsident des UN-Sicherheitsrats musste im Januar 1999 die 15
Ratsmitglieder daran erinnern, dass es zu ihren wichtigen Aufgaben gehört, die
Folgen ihrer Sanktionspolitik auf das Leben der Bevölkerung kontinuierlich zu
verfolgen. Dies geschieht auch weiterhin nicht. Eine politische Berichterstattung an
den UN-Sicherheitsrat durch die UN-Vertretung in Bagdad gibt es nicht. Versuche,
über die Routineberichte des Öl-für-Nahrungsmittel-Programms hinaus zu
informieren, sind abgelehnt worden. ...
Der Fall Irak zeigt, dass unter solchen Bedingungen die Handhabung politischer
Konflikte unmöglich ist. Grundrechte der Freiheit wie auch internationales Recht
werden den machtpolitischen Interessen einzelner Staaten geopfert. Durch die
Sanktionen werden bewusst Lebensbedingungen geschaffen, die eine Gesellschaft
zestören - ein Verstoß gegen die Genozid-Konvention. Wenn durch Sanktionen
der Bevölkerung das Recht auf Arbeit, auf Gesundheit, auf Nahrungsmittel und
Behausung genommen wird, ist dies ein Verstoß gegen den Internationalen Pakt
über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Wenn in Folge der Sanktionen
5000 Kinder im Monat sterben, weil sie unterernährt sind oder medizinisch nicht
versorgt werden können, verstößt dies gegen das UN-Übereinkommen über die
Rechte des Kindes. Wenn von den USA und Großbritannien in Irak
Flugverbotszonen eingerichtet werden, für die es kein Mandat des
UN-Sicherheitsrats gibt, ist dies eine Verletzung der Souveränität eines
unabhängigen Staates.
Dies hervorzuheben und zu verurteilen, bedeutet nicht, dass schwere Vergehen
eines Diktators gegen sein Volk zu dulden. Den erkennbaren Schaden, den die
Sanktionen angerichtet haben, und der damit verbundene Druck einzelner
Regierungen, der Wirtschaft und des internationalen Gewissens haben im letzten
Jahr zur Suche nach einer neuen Irak-Politik geführt. Im UN-Sicherheitsrat kam der
Begriff der "intelligenten" Sanktionen auf. "Intelligente", auf die Führung gerichtete
Sanktionen bei gleichzeitigem Schutz der Bevölkerung wären eine vertretbare
Alternative gewesen. Die diesbezüglichen Vorschläge der Engländer vom Juni 2001
zu einer neuen Irak-Politik schienen dieser Art zu sein, stellten sich dann aber als
derartig beschämende Unehrlichkeit heraus, dass sie im Sicherheitsrat abgelehnt
wurden. Das Leiden der Bevölkerung wäre nicht vermindert, sondern erhöht worden.
An den rechtlichen, wirtschaftlichen, moralischen und ethischen Gründen, warum
die Irak-Politik des UN-Sicherheitsrats sich grundsätzlich ändern muss, hat sich
also nichts geändert!
Nach zwei Weltkriegen haben die Länder der Europäischen Union den Wert eines
dauerhaften Friedens hochzuhalten. Gerade in der gegenwärtigen Zeit, in der sich
die Gewissenlosigkeit von Macht erweist, müssen es die europäischen
Regierungen, und besonders unsere eigene, als Herausforderung ansehen, den
amerikanischen Freund und Verbündeten zu überzeugen, dass es friedliche
Alternativen für die Lösung des Irak-Konflikts gibt. Die UN muss wieder das
Instrument der friedlichen Konfliktlösung werden, als das sie geschaffen worden ist. ...
Einen Frieden im Mittleren Osten wird es ohne die Lösung der Irak-Frage nicht
geben. Alle Seiten, besonders die USA und Irak, müssen erkennen, dass es ohne
Kompromisse auch keinen Fortschritt geben wird. Der von den Russen im letzten
Jahr vorgelegte Resolutionsentwurf ist ein Vorschlag für eine friedenspolitische
Alternative: Irak erlaubt die Rückkehr von UN-Waffeninspekteuren; nach 60 Tagen
geben die USA ihre Zustimmung zur Aufhebung der Wirtschaftssanktionen. (. . .)
Anlässlich des arabischen Gipfeltreffens in Amman im März 2001 hatte König
Abdullah von Jordanien eine Vermittlerrolle zwischen Kuwait und Irak übernommen.
König Abdullah, der bereits Kuwait besucht hat, sollte nun auch die wichtige Reise
nach Bagdad antreten. Der Generalsekretär der Arabischen Liga, Dr. Amr Moussa,
gegenwärtig auf dem Weg nach Bagdad zu seinem ersten Besuch, kann hier
wertvolle Vorarbeit leisten.
Einen Beitrag zum Frieden kann auch durch die Intensivierung des politischen
Dialogs in Irak selber geleistet werden. Der Kontakt zwischen dem kurdischen
Norden und Bagdad existiert. Meine Gespräche in Irak im letzten Juni haben
gezeigt, dass alle Seiten interessiert sind, über die Zukunft des Landes und des
kurdischen Nordens miteinander zu sprechen. Die Forderungen der Kurden-Führer
Barzani und Talabani sind bekannt: Garantien für ihre lokale Autonomie, die
gerechte Verteilung der staatlichen Einkünfte, ein Ende der Arabisierung von Kirkuk
und anderer Gebiete in der Nähe der Kontrollinie und langfristig die Schaffung eines
föderalen Staates.
Es wird im kurdischen Norden immer wieder erwähnt, dass man zuerst Iraker und
dann erst Kurde sei. Man weiß dort, dass der Traum von der Unabhängigkeit mit
der geopolitischen Realität nichts zu tun hat. Dieses Wissen macht aber die
Gespräche mit Bagdad über die gemeinsame Zukunft nicht leichter. Bagdad wird
sicher nicht über eine Föderation sprechen wollen. Die USA und Großbritannien
wissen wohl, dass die Wiederaufnahme von Gesprächen zwischen Bagdad und
Irakisch-Kurdistan die Entspannung der inter-irakischen Lage bewirkt; daher sind
die beiden Länder gegen solche Gespräche.
Es ist am UN-Generalsekretär, darauf zu dringen, dass Mitgliedsstaaten der
Vereinten Nationen die Souveränität und die territoriale Integrität Iraks respektieren,
so wie es in allen relevanten UN-Resolutionen gefordert ist. ...
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