Politisch wirkungslos und menschlich eine Katastrophe
Elf Jahre Wirtschaftssanktionen gegen den Irak. Von Hans-Christof von Sponeck
Der folgende Artikel von Hans von Sponeck erschien in der Novemberausgabe 2001 der Blätter für deutsche und internationale Politik. Von Sponeck war früher beigeordneter Generalsekretär der UN und Koordinator für humanitäre Programme im Irak ("Öl für Nahrung"). Aus Protest gegen das Fortbestehen des Embargos trat von Sponeck im Jahr 2000 von seiner Funktion zurück - dasselbe tat vor ihm auch schon sein Vorgänger bei der Koordination des "Öl-für-Nahrung-Programms", Dennis Halliday. Seither setzt er sich auf verschiedenen Ebenen für eine Beendigung des Embargos gegen Irak ein. Wir dokumentieren den Artikel in gekürzter Form.
Seit elf Jahren sind die Wirtschaftssanktionen gegen den Irak in Kraft.
Ein
Rückblick macht deutlich, dass diese Sanktionen bisher politisch
wirkungslos
und menschlich eine Katastrophe sind. Die Regierung von Saddam Hussein
sitzt
fester im Sattel, als die meisten anderen im Mittleren Osten. Die
wirtschaftliche und soziale Infrastruktur aber ist zerstört, die
irakische
Bevölkerung traumatisiert, verarmt, entmutigt. Mit den internen
Repressalien
zusammen haben die Sanktionen einen menschlichen Schaden angerichtet,
von
dem der Irak noch lange Jahre nach einer Aufhebung des Embargos
gezeichnet
bleiben wird.
... Auswärtige Ämter
wissen
aus Berichten des Internationalen Roten Kreuzes, der Vereinten Nationen
und
anderer humanitärer Organisationen, dass auf keinem Gebiet, angefangen
von
der Wasser- und Elektrizitätsversorgung, der Landwirtschaft, der
Schulbildung bis hin zur Ernährung und dem Gesundheitsschutz, den
Bedürfnissen der Bevölkerung auch nur annähernd Rechnung getragen wird.
Das
Kinderhilfswerk UNICEF berichtet zum Beispiel in seiner Bestandsaufnahme
für
das Jahr 2001 über die globale Lage der Kinder (UNICEF, The State of the
World's Children, New York 2000), dass die Kindersterblichkeit in den
Jahren
1990 bis 2000 im Irak um 160% gestiegen ist. Dies ist die höchste
Steigerungsrate unter allen 188 Ländern, die begutachtet wurden. Die
Ursachen für diese außergewöhnliche Verschlechterung: verschmutztes
Wasser,
Unterernährung und fehlende Medikamente.
... Der Bildungsstand der irakischen Bevölkerung ist als Folge der
Sanktionspolitik schlecht. 1987 konnten laut UNESCO 80% der Bevölkerung
lesen und schreiben; zehn Jahre zuvor waren es nur 52% gewesen. Die
UNESCO
hatte dem Irak für diesen Erfolg der Alphabetisierung damals einen Preis
verliehen. Im Jahr 1995 war die Zahl der Lese- und Schreibkundigen aber
wieder auf 58% abgesunken. Viele junge Menschen können heute nicht mehr
studieren, weil die Eltern mittellos geworden sind.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat im Jahr 1999 angedeutet, dass
immer mehr Menschen im Irak aus psychischen Gründen ihre beruflichen
Tätigkeiten aufgeben müssen. Die Zahl der Patienten mit psychischen
Problemen sei in den 90er Jahren um ein Vielfaches gestiegen. Besonders
Besorgnis erregend ist die Entwicklung bei den Kindern: Von 1990 bis
1998
ist in der Gruppe der unter 14-Jährigen die Zahl der psychisch Kranken
um
124% gewachsen.(Social Conditions in Iraq, UN-Report to UN Security
Council,
Bagdad, 24.3.2000, S.10.)
...
Noam Chomsky (Noam Chomsky, Rede aus dem Jahr 1996 vor MIT-Studenten)
weist
mit Recht darauf hin, dass es nicht darum gehe, den Anteil der Schuld an
dieser Entwicklung beim Sicherheitsrat oder bei der irakischen Regierung
zu
analysieren. Beide Seiten hätten die moralische Verpflichtung, ihre
Schuld
abzutragen. Es sei an dieser Stelle an den Artikel 50 der Haager
Konvention
erinnert: "Keine Strafe [...] darf über eine ganze Bevölkerung wegen der
Handlungen einzelner verhängt werden, für welche die Bevölkerung nicht
als
mitverantwortlich angesehen werden kann."
Das Programm "Öl für Nahrung" war im Jahr 1995 vom UN-Sicherheitsrat zur
Abwendung der humanitären Katastrophe im Irak eingeführt worden. Es
konnte
(oder sollte?) seinen Zweck allerdings nur sehr begrenzt erfüllen. Von
Dezember 1996 bis Juli 2001 hatte der Irak offiziell aus Ölexporten 44,4
Mrd. Dollar eingenommen. Davon waren 26 Mrd. Dollar vom
UN-Sicherheitsrat
für das Programm "Öl für Nahrung" bewilligt. Tatsächlich sind in den
viereinhalb Jahren aber nur Güter im Wert von 13,5 Mrd. Dollar im Irak
eingetroffen (United Nations Office of the Iraq Programme Oil for Food,
Weekly Update, 13.-17.7.2001), das sind pro Kopf der Bevölkerung ganze
119,70 Dollar im Jahr. Im selben Zeitraum wurden der
UN-Kompensierungskommission über 12 Mrd. Dollar der irakischen
Öl-Einnahmen
zuerkannt. Die Kommission regelt die Wiedergutmachung gegenüber
Regierungen,
Firmen und Einzelpersonen für Verluste, die diese durch Iraks Invasion
in
Kuwait erlitten haben.
Wenn zukünftig die Geschichte der internationalen Sanktionspolitik
erforscht
wird, taucht sicher immer wieder die Frage auf, wie im Fall Iraks eine
völkerrechtliche, ethische und menschliche Fehlentscheidung des
UN-Sicherheitsrats so lange aufrecht erhalten bleiben konnte und warum
die
Europäische Gemeinschaft und die Bundesrepublik sich nicht aktiver für
eine
dem Völkerrecht entsprechende, humane Irak-Politik eingesetzt haben. Das
Leiden der irakischen Bevölkerung und die Missachtung bestehenden Rechts
durch den Sicherheitsrat wären Grund genug für einen neuen Ansatz in
der
Irak-Politik gewesen. ...
Vor 1990 hat es wenige vom UN-Sicherheitsrat verhängte Sanktionen
gegeben.
Die 90er Jahre kann man als erste Dekade internationaler Sanktionen
ansehen.
In diesen zehn Jahren wurden mehr Sanktionen verhängt als in den 45
Jahren
zuvor, seit der Gründung der Vereinten Nationen. Irak musste in dieser
Zeit
die härtesten Wirtschaftssanktionen hinnehmen, die je gegen ein Land
ausgesprochen worden sind. Der Fall Irak ist damit zu einem Prüfstein
für
das Völkerrecht geworden.
Die inzwischen zehn Jahre währenden Sanktionen gegen den Irak haben die
Schwächen dieses Druckmittels offenbart. Artikel 39 der UN-Charta sieht
Sanktionen dann vor, wenn eine Regierung den Frieden in der Welt
gefährdet
oder gebrochen hat und wenn ein Akt der Aggression vorliegt. Eine
Definition
der Umstände gibt es nicht und damit auch keine objektive Anwendung des
Artikels 39. Ähnlich verhält es sich mit anderen Artikeln der Charta wie
zum
Beispiel Artikel 24.2, demzufolge der Sicherheitsrat angehalten ist, in
seinen Entscheidungen Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen zu
beachten. Auch diese sind nicht präzise beschrieben, die willkürliche
Auslegung möglich. Hinzu kommt, dass die Sanktionsresolutionen selber zu
allgemein formuliert sind. Als Beispiel lassen sich die Resolutionen 687
von
1991 und 1284 von 1999 anführen. Die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen
gegen den Irak wird dort an die Bedingung geknüpft, dass das Land "alle
vorgesehenen Verpflichtungen eingegangen ist" und "in jeder Hinsicht
kooperiert hat". Was das konkret bedeutet, hat der Sicherheitsrat nie
festgelegt. Anstelle einer objektiven und kontrollierbaren Anwendung der
Bestimmungen des Sanktionsrechts ist ihre Manipulation zu politischen
Zwecken möglich. Im Fall des Irak wird eine objektive Überprüfung der
Sanktionen ganz einfach verhindert.
Wichtig ist auch zu wissen, dass eine sorgfältige Analyse der
Lebensbedingungen der Bevölkerung und ihrer Minimalbedürfnisse zu Beginn
der
Sanktionen nicht stattgefunden hat. Ebenso wenig sind später die
Auswirkungen der Sanktionen erforscht worden. Damit hat der
UN-Sicherheitsrat keine Basis für eine humanitäres Programm geschaffen. ...
Im Januar 1999 musste der Präsident des UN-Sicherheitsrats die
Mitglieder
daran erinnern, dass die kontinuierliche Überwachung der Auswirkungen
der
Sanktionen im Irak zu den wichtigen Aufgaben und Verpflichtungen des
Gremiums gehört. Als Folge dieser Ermahnung wurde im Frühjahr desselben
Jahres eine Gutachtergruppe eingesetzt, die unter dem Vorsitz von
Botschafter Celso Amorim, Ständiger Vertreter Brasiliens bei den
Vereinten
Nationen, stand. So nützlich die Einrichtung des
Untersuchungsausschusses
war, ein Ersatz für eine ständige und sorgfältige Beobachtung der
Lebensbedingungen durch den Sicherheitsrat konnte er nicht sein. ...
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum man dem Irak in den ersten
Jahren des Programms "Öl für Nahrung" nur den Verkauf vollkommen
unzureichender Ölmengen, nämlich für maximal 1,3 Mrd. Dollar im Verlauf
von
sechs Monaten oder 112 Dollar pro Einwohner erlaubte. "Öl für Nahrung"
konnte deshalb die Bedürfnisse der irakischen Bevölkerung nicht
annähernd
befriedigen. Diese Problematik hat sich auch nach der Anhebung der
Öleinkünfte nicht grundsätzlich geändert. Ursprünglich zeitlich
begrenzte
Sanktionen wuchsen sich so zu einer unbefristeten und ungezielten
Strafexpedition aus, wobei geflissentlich ignoriert wurde, dass
"Sanktionen
die Zielsetzungen der Völkergemeinschaft reflektieren müssen und nicht
nur
die nationalen Interessen der einflussreichsten Mitglieder" (des
Sicherheitsrats).(International Peace Academy, The Sanctions Decade, New
York 2000, S. X.)
...
"Intelligente Sanktionen"
Die Berichte internationaler Organisationen über die humanitäre
Katastrophe
im Irak, die Aussagen von Völkerrechtlern in der
UN-Menschenrechtskommission
über die Verletzung der Menschenrechte, die Sanktionsmüdigkeit von
Staaten
der Arabischen Liga (insbesondere von Syrien, Jordanien und Ägypten) und
nicht zuletzt die immer stärker werdende Forderung der
Weltöffentlichkeit,
die Wirtschaftssanktionen aufzuheben, haben die Regierungen der USA und
Großbritanniens letztlich gezwungen, dem Sicherheitsrat im Frühjahr 2001
neue Vorschläge für die Irak-Politik vorzulegen. Hier bestand die
Gelegenheit zu einem Neubeginn, eine Möglichkeit für einen dem
Völkerrecht
entsprechenden, humanen Ansatz. Verlangt wurden "intelligente"
Sanktionen,
was Beobachter zu der Frage veranlasste, wie denn dann die bestehenden
Sanktionen zu bezeichnen seien. Als Großbritannien Entwürfe dieser
"intelligenten" Sanktionen im Frühsommer 2001 im Sicherheitsrat
vorstellte,
konnte man schnell feststellen, dass sich hinter einem
vielversprechenden
Begriff die alte Politik versteckte.
Im Rahmen der vorgeschlagenen neuen Irak-Politik sollte die Einfuhr von
zivilen Gütern grundsätzlich freigegeben werden - mit Ausnahme von
Materialien und Geräten, die möglicherweise bei der Herstellung von
Massenvernichtungswaffen Verwendung finden konnten. So ermögliche die
internationale Gemeinschaft den Irakern ein weitgehend normales Leben -
womit man indirekt einräumte, dass zuvor die bestehenden Sanktionen eben
das
verhindert hatten. Großbritannien ging es aber, mit voller Unterstützung
der
USA, vor allem darum zu erreichen, dass Leiden der Zivilbevölkerung
zukünftig allein dem irakischen Regime hätten angelastet werden können.
Gleichzeitig wollten die Engländer die Grenzen des Iraks hermetisch
abschließen und von internationalen Beobachtern und Inspektoren
kontrollieren lassen, um so den illegalen Handel, besonders die von den
Vereinten Nationen nicht erlaubte Ausfuhr irakischen Öls, zu
unterbinden. Der Regierung Saddam Husseins wollte man auf diese Weise jede
Möglichkeit
nehmen, Geld in die Hand zu bekommen. Die Verwaltung der Einnahmen aus
genehmigten Ölexporten sollte wie bisher den Vereinten Nationen
obliegen,
ausländische Investitionen sollten im Irak weiterhin nicht gestattet
sein.
All dies schien plausibel, wenn das Hauptziel der Irak-Politik die
Entfernung der Regierung sein sollte, wie es das vom amerikanischen
Kongress
im Oktober 1998 ratifizierten "Iraq Opposition Act" vorsieht. Im
multilateralen Rahmen des UN-Sicherheitsrats wäre eine solche Politik
mit
Sicherheit auf Widerstand gestoßen. Die "intelligenten" Sanktionen
sollten
daher allen Seiten im Sicherheitsrat gerecht werden - denen, die
entscheidende Verbesserungen für die Zivilbevölkerung forderten, wie
denen,
die durch den neuen Ansatz hofften, den Prozess des Machtwechsels in
Bagdad
zu befördern. Doch die Unehrlichkeit wurde schnell deutlich.
Ausschlaggebend
für die negative Reaktion im Sicherheitsrat (vor allem seitens
Russlands)
wie im Mittleren Osten und der Türkei waren wirtschaftliche Gründe.
Das Unterbinden des "illegalen" Handels hätte nämlich Jordanien, Syrien
und
die Türkei, die westlichen Anrainerstaaten des Iraks, aber auch etwa
Ägypten, in große wirtschaftliche und in der Folge politische
Schwierigkeiten gebracht. In Amman ging man sogar so weit zu sagen,
solche
Sanktionen gefährdeten die Zukunft des Königshauses. Die weltweiten
Sanktionsgegner fanden andere schwerwiegende Argumente: Irak habe kein
Recht, seine Öl-Einnahmen für laufende Kosten zu nutzen. Die Ausgaben
für
die Verwaltung des Landes und die Gehälter, die Erhaltung der
Infrastruktur,
für Krankenhäuser und Schulen müssten daher aus anderen Einnahmen,
hauptsächlich durch den Verkauf von Öl außerhalb des Programms "Öl für
Nahrung" bestritten werden. Schlösse man die Grenzen zum Irak und nähme
damit dem Land diese Einnahmen, würde sich das Leben für die
Zivilbevölkerung entscheidend verschlechtern. Zur Klarstellung: Die
genaue
Höhe dieser Zusatzeinnahmen ist nicht bekannt; der höchste bislang
international genannte Betrag beläuft sich auf 3 Mrd. Dollar. Das wäre
für
eine Bevölkerung von 23 Millionen Menschen ein Pro-Kopf-Betrag von 130
Dollar pro Jahr - eine ernüchternde Zahl, wenn man etwa berücksichtigt,
wie
viel allein die Verwaltung eines Landes von der Größe Iraks kostet.
"Intelligente" Sanktionen, wie von den Engländern vorgeschlagen, sind
daher
weder intelligent noch human oder völkerrechtlich vertretbar und somit
zu
Recht auf Ablehnung gestoßen. Die Irak-Politik des Sicherheitsrats
steckt
nun in einer Sackgasse. Aus dieser mit einer Kehrtwendung in Richtung
einer
friedlichen Konfliktlösung herauszukommen, dürfte äußerst schwer fallen.
...
Angesichts der internen Situation im Irak und der angespannten Lage im
gesamten Mittleren Osten ist ein Dialog auf allen Ebenen dringend
erforderlich. Ein Anfang machten im Frühjahr 2001 Gespräche zwischen der
Regierung Iraks und dem UN-Generalsekretär. Es ist zu bedauern, dass
diese
Unterredungen auf Druck der USA und Großbritanniens nicht wie vorgesehen
zügig weitergeführt werden. Der Irak hatte bereits im Februar dem
Generalsekretär ein umfassendes Arbeitspapier überreicht, das alle
anstehenden Themen - von der Abrüstung bis zu Kompensationsfragen, von
vermissten Kuwaitis bis zur humanitären Situation - behandelt. Für
weitere
Gespräche, auch zwischen dem Irak und dem Sicherheitsrat, so ist
geplant,
soll dieses Dokument die Grundlage bilden.
...
Aus: Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2001, S. 1353-58
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