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"Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung"

Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder am 14. März 2003 vor dem Deutschen Bundestag

Im Folgenden dokumentieren wir den außenpolitischen Teil der mit viel Spannung erwarteten Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 14. März 2003. Gerhard Schröder konzentrierte sich dabei auf den drohenden Irakkrieg sowie auf die Perspektiven einer starken Europäischen Union. Es ist die zweite Regierungserklärung des Kanzlers zum Irakkonflikt nach nur einem Monat (vgl. seine Regierungserklärung vom 13. Februar). Interessant ist, dass Schröder diesmal die Lockerung des Embargos als Gegenleistung für die erfolgte Abrüstung des Irak in Aussicht stellt. So hatte es schließlich auch die Resolution 687 (1991) vorgesehen. Alle entsprechenden Anträge auf eine Aufweichung der Sanktionsbestimmungen sind bisher an der Veto-Position der USA gescheitert.


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

In der Verantwortung für die Zukunft unseres Landes habe ich der Regierungserklärung ein doppeltes Motto vorangestellt. Es beschreibt, worum es heute geht: Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung.

Wir müssen den Mut aufbringen, für den Frieden zu kämpfen, solange noch ein Funken Hoffnung besteht, dass der Krieg vermieden werden kann.

Wir müssen den Mut aufbringen, in unserem Land jetzt die Veränderungen vorzunehmen, die notwendig sind, um wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und der sozialen Entwicklung in Europa zu kommen.

Die Lage - das spürt jeder hier im Haus, aber auch draußen - ist international wie national äußerst angespannt. Die Krise um den Irak belastet weltweit die ohnehin labile Konjunktur.

Deutschland hat darüber hinaus - das gilt es ebenfalls zu sehen - mit einer Wachstumsschwäche zu kämpfen, die auch strukturelle Ursachen hat. Die Lohnnebenkosten haben eine Höhe erreicht, die für die Arbeitnehmer zu einer kaum mehr tragbaren Belastung geworden ist und die auf der Arbeitgeberseite als Hindernis wirkt, mehr Beschäftigung zu schaffen. Investitionen und Ausgaben für den Konsum sind drastisch zurückgegangen, übrigens nicht zuletzt seit an den Börsen allein in Deutschland während der vergangenen drei Jahre rund 700 Milliarden Euro buchstäblich vernichtet worden sind.

In dieser Situation muss die Politik handeln, um Vertrauen wieder herzustellen.

Wir müssen die Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung verbessern.

Ich möchte Ihnen heute Punkt für Punkt darlegen, welche Maßnahmen nach Überzeugung der Bundesregierung vorrangig ergriffen und umgesetzt werden müssen - für Konjunktur und Haushalt, für Arbeit und Wirtschaft, für die soziale Absicherung im Alter und bei Krankheit.

Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.

Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leisten müssen: Unternehmer und Arbeitnehmer, freiberuflich Tätige und auch Rentner. Wir werden eine gewaltige gemeinsame Anstrengung unternehmen müssen, um unser Ziel zu erreichen.

Aber ich bin sicher: Wir werden es erreichen.

Bevor ich zu den Einzelheiten komme, verlangt die dramatische internationale Lage einige deutliche Worte zur Krise in und um den Irak. In den vergangenen Tagen und Wochen hat die Bundesregierung ihre Anstrengungen noch einmal verschärft, diese Krise politisch zu lösen. Gemeinsam mit unseren französischen Freunden, aber auch mit Russland, China und der Mehrheit im Weltsicherheitsrat sind wir mehr denn je davon überzeugt, dass die Abrüstung von Massenvernichtungsmitteln im Irak mit friedlichen Mitteln herbeigeführt werden kann und herbeigeführt werden muss.

Die Berichte der Waffeninspekteure zeigen, dass der Irak unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft inzwischen besser und auch aktiver kooperiert.

Die Zerstörung der aI-Samud-Raketen ist ein sichtbares Zeichen tatsächlicher Abrüstung. Das beweist: Die Inspektionen und die Inspekteure sind ein wirksames Instrument, das jetzt nicht beendet werden darf.

Mit einem ausgedehnten Inspektionsregime können wir nachhaltige und nachprüfbare Abrüstung erreichen. Deshalb war und bleibt es richtig, dass wir auf der Logik des Friedens beharrt haben, anstatt in eine Logik des Krieges einzusteigen.

Der Irak muss unter internationaler Kontrolle umfassend und nachvollziehbar abrüsten, übrigens auch deshalb, damit die Wirtschaftssanktionen, unter denen vor allen Dingen das irakische Volk leidet, gelockert und schließlich aufgehoben werden können. Das sind die Bedingungen, unter denen Frieden und Freiheit gedeihen können. Wir sollten daran festhalten, mit all unserer Kraft mitzuhelfen, dass diese Bedingungen realisiert werden können.

Wir werden sowohl unsere Verantwortung als auch unsere mitgestaltende Rolle in einer multipolaren Weltordnung des Friedens und des Rechts nur dann umfassend wahrnehmen können, wenn wir das auf der Basis eines starken und geeinten Europas tun. Es geht um die Rolle Europas in der internationalen Politik. Aber es geht auch um die Unabhängigkeit unserer Entscheidungen in der Welt von morgen.

Beides - auch das ist Gegenstand dieser Debatte - werden wir nur erhalten können, wenn wir wirtschafts- und sozialpolitisch beweglicher und solidarischer werden, und zwar in Deutschland als dem größten Land in Europa, was die Wirtschaftskraft angeht, und damit natürlich auch in Europa.

Diesen Zusammenhang zwischen unseren wirtschaftlichen und damit auch unseren sozialen Möglichkeiten einerseits und unserer eigenen Rolle in Europa und Europas Rolle in der Welt andererseits darf man nicht aus den Augen verlieren; denn er ist für uns und unsere Gesellschaft genauso wichtig wie für unsere Partner in Europa.

Dieses Europa ist eben mehr als die Summe seiner Institutionen und mehr als ein gemeinsamer Binnenmarkt. Deutschland hat dazu unter allen Bundesregierungen entscheidend beigetragen. Europa ist eine Idee, der wir uns verpflichtet fühlen, eine Idee des geeinten Kontinents, der Kriege und Nationalismen überwunden hat oder dabei ist, sie zu überwinden. Heute kann und muss Europa Frieden und Stabilität, Gerechtigkeit und wirtschaftliche Kraft sowie Entwicklungschancen exportieren. Auch dafür müssen wir uns fit machen.

Deutschland leistet hierzu - das dürfen wir ruhig selbstbewusst, ja sogar stolz sagen - einen entscheidenden Beitrag, politisch wie finanziell. Wir finanzieren die Europäische Union zu einem Viertel. Wir zahlen jedes Jahr rund 7 Milliarden Euro mehr in die europäischen Kassen ein, als wir zurückbekommen. Das macht uns mit Abstand zum größten Nettozahler der Gemeinschaft. Wir akzeptieren das nicht nur, weil diesem Europa die Überzeugung zugrunde liegt, dass Kooperation besser ist als Konfrontation - ich denke, darüber sind wir uns in diesem Hohen Hause einig -, sondern auch, weil unser europäisches Sozialmodell, das auf Teilhabe beruht statt auf ungezügelter Herrschaft des Marktes, nur gemeinsam gegen die Stürme der Globalisierung wetterfest gemacht werden kann.

Um in Europa eine führende Position einnehmen zu können, haben wir gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien für die beiden bevorstehenden Gipfel in Brüssel und Athen Vorschläge für eine europäische Industriepolitik erarbeitet. Mit diesen Vorschlägen wollen wir dafür sorgen, dass zum Beispiel die Schiffbau- und die Chemieindustrie auch in Europa eine Zukunft haben. Denn die Industrie ist - das ist in Brüssel gelegentlich vernachlässigt worden - das Fundament unserer Wirtschaft. Deshalb müssen wir die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie verbessern. Das ist die Grundidee meiner gemeinsamen industriepolitischen Initiative mit Staatspräsident Chirac und Premiermi­nister Blair, die wir unseren Partnern in der nächsten Woche auf dem Gipfel in Brüssel vorlegen werden.

Aus der Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder am 14. März 2003 vor dem Deutschen Bundestag.
Quelle: Homepage der Bundesregierung (www.bundesregierung.de)



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