Menschen ohne Hoffnung
Reise in den Irak. Von Dr. Eva-Maria Hobiger
Dr. Hobiger ist Fachärztin für Radioonkologie (Strahlentherapie) in
Wien und war während der vergangenen Jahre mehrmals in Irak, zuletzt
im März 2003. Sie ist Gründerin des Hilfsprojekts "Aladins Wunderlampe - Hilfe für krebskranke Kinder im Irak" und medizinische Koordinatorin der Gesellschaft
für Österreichisch-Arabische Beziehungen in Wien.
Wir dokumentieren ihren Bericht, den sie am 15. Mai, nach einer dreiwöchigen Reise durch den Nachkriegs-Irak, niederschrieb. Der Text ist eine sehr gute Ergänzung zum Bericht von Dr. Claußen, IPPNW, den wir ebenfalls dokumentiert haben.
Am 20. März 2003 um 5.35 Uhr morgens (Lokalzeit Bagdad) starben die
Hoffnungen aller, die sich im Laufe der vergangenen Monate für eine
friedliche Lösung der Irakproblematik eingesetzt hatten. Die britisch-
amerikanischen Koalitionsmächte hatten mit der Bombardierung Bagdads
begonnen, ein Angriffskrieg ohne Mandat der Vereinten Nationen, im
Widerspruch zu allen internationalen Konventionen, im Widerspruch zur
UN-Charta, im Widerspruch zu Millionen Menschen auf dieser Welt. Die
irakische Bevölkerung erlebte den Auftakt zum dritten Krieg innerhalb
von 23 Jahren. Nur wenige Stunden davor hatte ich ein e-mail von
einem Freund aus dem Irak erhalten: "Wir haben nur einen einzigen
Wunsch, den nach Frieden... die Menschen hier warten auf ein Wunder".
Dieser Wunsch blieb unerfüllt.
Fünf Wochen später, am 27. April 2003, breche ich zu meiner nächsten
Irakreise auf. Der Krieg ist zwar noch nicht offiziell für beendet
erklärt, jedoch haben die amerikanischen und britischen Streitkräfte
das Land besetzt bzw. befreit - um bei ihrer Diktion zu bleiben -
Bagdad wurde zur Überraschung aller ohne nennenswerten Widerstand
eingenommen, das irakische Regime ist von der Bildfläche verschwunden.
Verschwunden oder zerstört sind die unzähligen Statuen und Bilder des
Diktators. Dem Krieg sollte also Frieden folgen, aber dem ist nicht
so in Bagdad und auch nicht in den anderen irakischen Städten. Im
Irak herrscht Anarchie. Nach der einhelligen Meinung der Stadtbewohner
ist es jetzt gefährlicher, sich in Bagdad aufzuhalten, als während
der Bombardierungen. Diese wären zumindest zu 90 % berechenbar
gewesen, die jetzige Situation ist jedoch völlig unberechenbar.
Von Amman nach Bagdad
Von Amman kommend erreicht man nach stundenlanger Autofahrt die
jordanisch-irakische Grenze. Zwei große Flüchtlingslager befinden
sich einige Kilometer vor der Grenze, sie stehen leer. Die jordanischen Zollbeamten haben die Arbeit nachts eingestellt und so
stauen sich lange Autoschlangen bis zum Morgen, bis um 8 Uhr früh
der Dienst für die Beamten beginnt. Jeder will so rasch als möglich
abgefertigt werden, jeder will bei Tageslicht den Weg nach Bagdad
zurücklegen. Gilt die Straße schon tagsüber als extrem gefährlich,
so wird sie nachts zur tödlichen Falle. Ungezählte Überfälle gab
es hier in den vergangenen Wochen. Satellitenschüsseln sind derzeit
ein beliebtes Importgut, es gibt Autos, die zehn davon geladen
haben. Andere sind bis zum Dach voll mit Coladosen, der illegale -
zollfreie - Import blüht. In Bagdad stehen sie dann mit ihren
Autos an den Straßenrändern und verkaufen die geschmuggelte Ware.
Fahrt durch das Niemandsland: Hunderte kleine Zelte, von UNHCR
errichtet, stehen hier, mehr als tausend Flüchtlinge sollen sich
hier im Land zwischen zwei Ländern aufhalten. In den Irak wollen
oder können sie nicht mehr, Jordanien will sie nicht. So sind
ihre winzigen Zelte der glühenden Sonne ausgesetzt und das Internationale Rote Kreuz kümmert sich um sie. An der irakischen Seite
erwarten uns amerikanische Soldaten, kein Iraker ist zu sehen.
Eine eigenartige Szene: Amerikaner an der irakischen Grenze,
irgendwie gehören sie hier nicht her, es sind die Landesbewohner,
die die Grenze zu bewachen, die den Fremden zu empfangen haben.
2 km danach ein weiteres Zeichen der neuen Freiheit: der Mangel
an Benzin (im Land mit unermesslichen Erdölvorräten) bringt einigen
Arbeitslosen Beschäftigung durch den Betrieb von mobilen Tankstellen:
ein Kanister und ein Schlauch - und schon ist die mobile Tankstelle
errichtet, mit dem Schlauch winkt man den potentiellen Kunden zu.
Amerikanische Panzer neben der Straße, lange Kolonnen von Militärfahrzeugen auf der Fahrbahn, ein Soldat macht das Siegeszeichen in
unsere Richtung. Dazwischen immer wieder Autowracks, kratertiefe
Einschläge in der Straße - nicht auszudenken, wenn man hier nachts
unterwegs wäre. Ein ausgebrannter Autobus am Straßenrand, in dem
mehrere Menschen starben, als der Bus ins Visier genommen wurde.
Bei einer Tankstelle wurde ein Haus zerbombt, das eine Telefonzelle
beherbergte, der Fahrer, der eben mit seiner Familie telefoniert
hatte, starb. 180 km vor Bagdad finden wir eine Tankstelle, bei der
es Benzin gibt und kommen ins Gespräch mit den Leuten. Die Häuser
hier wären zerstört worden, da die amerikanischen Soldaten der
Meinung waren, es handle sich um Waffenlager. Der Pächter der Tankstelle holt Benzin nach wie vor von der alten Verteilungsstelle,
wenn der Vorrat dort erschöpft sein wird, wird er kein Einkommen
mehr haben. Ein anderer, etwa 30jähriger Mann hat Politikwissenschaften studiert, nun arbeitet er hier an der Tankstelle. Er zieht
ein bitteres Resümee: Saddam Hussein hat uns sehr geschadet, er hat
uns lächerlich gemacht vor der Welt. Nun kommen die Amerikaner, sie
plündern uns aus und erlauben, dass wir ausgeplündert werden. Von
nun an wird die Welt glauben, im Irak leben ausschließlich Diebe.
Hat er Hoffnung auf eine bessere Zukunft? Nein, aber die Amerikaner
sollen das Land verlassen und den Irakern ihre Menschenwürde zurückgeben. Die Iraker werden den Aufbau ihres Landes allein schaffen,
wenn man sie lässt. .. aber man wird sie nicht lassen.
30 km vor Bagdad bei Abu Ghraib finden sich die Spuren von heftigsten
Kämpfen. Alle Leitschienen der Autobahn sind zerstört, Dutzende
ausgebrannte zivile Fahrzeuge stehen auf der Fahrbahn, zerstörte
irakische Panzer, gefällte Bäume. Kein Mensch weiß, wieviele hier
ihr Leben lassen mussten. Der Anblick von Bagdad ist erschreckend.
Das internationale Messegelände liegt in Schutt und Asche (warum
eigentlich?), die Ministerien sind entweder zerbombt oder rußgeschwärzt, die Kommunikationseinrichtungen bestehen nur mehr aus
einem unentwirrbaren Durcheinander von Stangen und Drähten. Die
großen Hotels sind teilweise ausgebrannt. Die Silhouette von Bagdad
entlang des Tigris war von diesen Gebäuden geprägt, nun sind es die
Spuren des Todes, die die Stadt prägen. An allen Straßenecken sieht
man schwarze Fahnen angebracht, auf ihnen sind mit weißer und gelber
Schrift die Namen der Toten dieses Krieges zu lesen. Ein Sandsturm
hatte während des Krieges drei Tage lang gewütet, seine Spuren sind
noch überall zu sehen, alles ist mit einer gelblich-fahlen Schicht
überzogen und lässt die Stadt noch trostloser erscheinen. Abfall
türmt sich in den Straßen, die Müllabfuhr funktioniert nicht.
Tagelang liegt ein totes Pferd auf der Abu Nawas-Straße und verbreitet einen bestialischen Gestank. Die sonst so belebte und
menschenüberfüllte Rasheed-Straße ist verwaist. Kein Auto, kein
offenes Geschäft, kein Mensch weit und breit, kaum zu glauben, dass
das noch die Stadt ist, die ich vor sechs Wochen verlassen habe.
Der Platz um das Hotel Palestine ist großräumig abgesperrt, Stacheldraht verhindert den Zutritt, Soldaten auf ihren Panzern bewachen
eines der amerikanischen Hauptquartiere, das in diesem Hotel untergebracht ist. Es sind blutjunge Soldaten mit Kindergesichtern und
genauso benehmen sie sich auch. Selbst um in das kleine Hotel Al
Fanar zu kommen, das nebenan liegt, benötigt man einen Presseausweis.
Die Gehsteigkanten sind zerbröckelt unter dem Gewicht der darüber
rollenden Panzer. Auf der Säule, die einst die Statue des Diktators
trug, steht eine eindeutige Botschaft: All done, go home! (Es ist
alles getan, geht nach Hause!)
Die neue Freiheit heißt Anarchie
Bagdad trug vor langer Zeit den Beinamen "Stadt des Friedens", heute
ist es eine Stadt der Anarchie, ein Dschungel, in dem das Recht des
Stärkeren herrscht, wie es ein Arzt mir gegenüber ausgedrückt hatte.
Eine Stadt, in der 1200 Schwerverbrecher herumlaufen, die im Rahmen
der Generalamnestie im Herbst des Vorjahres freigelassen wurden und
die nun ihrem Handwerk ungehindert nachgehen. Es gibt keine Polizei,
es gibt keine Ordnungsmacht und die Meinung der Besatzer lautet
stereotyp: "Das ist nicht unsere Aufgabe". Auf vier riesigen Märkten
in Bagdad kann man jede nur erdenkliche Waffe kaufen, von der
Kalaschnikow für 12 Dollar bis zur Handgranate, ja sogar Bomben.
Diese Waffen stammen aus ausgeplünderten Waffenlagern. Das Spiel mit
der neuen Beute beginnt spätestens um 6 Uhr nachmittags und dauert
meist bis 2 Uhr morgens, jedoch hört man neben den zum Spaß abgegebenen Schüssen auch erbitterte Gefechte jede Nacht. In manchen
Stadtvierteln toben abends heftigste Kämpfe. Immer wieder erschüttern
Explosionen die Stadt, einmal war eine Tankstelle betroffen und
mehrere Menschen starben. Raubüberfälle auf offener Straße tagsüber
sind an der Tagesordnung, ein Mitglied der Friedensbewegung "Iraqi
Peace Team" wurde mittags von 10 Männern überwältigt und ausgeraubt.
Täglich erzählen die Nachbarn und die Fahrer die Geschichten, die
in der vergangenen Nacht passierten. Hinter dem Haus, in dem ich
wohnte, fand einmal früh abends eine Hinrichtung auf offener Straße
statt, ebenso konnten die Mitarbeiter der deutschen Hilfsorganisation
Cap Anamur eine Hinrichtung durch drei Leute mittags auf der Straße
beobachten, in Sichtweite der amerikanischen Soldaten. Eine Frau
in der Nebenstraße wurde morgens tot aufgefunden, ein Schuss in den
Mund hatte sie getötet. Ein Mann wurde vor der Apotheke erschossen.
Raubüberfälle auf Autos sind besonders häufig, die Autos werden
gestoppt, die Insassen werden mit der Waffe gezwungen, auszusteigen
und die Räuber fahren mit der Beute davon. Gemeinsam mit den früheren
Regierungsautos werden diese Autos dann in den Iran und in die Türkei
verkauft.
Von der gynäkologischen Abteilung des Ibn Balady Hospitals in der
früheren Saddam City hört man von weiteren Gewalttaten: Familienracheakte in Form von Vergewaltigungen von jungen Mädchen, die
Angehörigen der Opfer vergewaltigen ihrerseits die Schwestern
der Vergewaltiger - eine endlose Spirale der Gewalt. Die früheren
Mitglieder der Baath-Partei und all diejenigen, die sich durch
Korruption enorme Vorteile herausholen konnten, sind alle potentielle
Ziele. Wie ist diese endlose Spirale der Gewalt zu stoppen? Sie
wird immer schwerer zu stoppen, mit jedem einzelnen Tag, an dem
diese Anarchie herrscht. An einem Tag erschienen Polizisten auf
der Straße, jedoch verweigerte man ihnen, Waffen zu tragen, nur ein
Knüppel war ihnen erlaubt. Was soll ein Polizist ohne Waffe in einer
Stadt, in der nahezu jeder bewaffnet ist? Er bringt sich höchstens
selbst in Gefahr und die Folge war, dass am nächsten Tag kein
Polizist in den Straßen Bagdads zu sehen war, ebenso wenig wie an
den folgenden Tagen.
Die Lebensbedingungen sind unerträglich
Seit zwei Monaten wurden keine Gehälter mehr ausbezahlt, da es
keinerlei Administration gibt. Die Menschen wissen nicht mehr,
wie sie ihren Lebensunterhalt finanzieren sollen. Viele leben
noch von den doppelten Lebensmittelrationen, die die Regierung
seit November ausgeteilt hatte, aber diese Vorräte werden in
spätestens 3-4 Wochen zu Ende gehen. Wenn nicht bald Lebensmittel
in großem Umfang in den Irak gelangen, so steht eine furchtbare
Hungersnot bevor. Die Preise der Lebensmittel sind jetzt schon
dreimal höher als vor dem Krieg und eine Gasflasche, wie sie zum
Kochen verwendet wird, kostete früher 250 Dinar, jetzt kostet sie
27.000 Dinar. Das entspricht 14 Dollar und es gibt nicht sehr viele
in Bagdad, die sich das leisten können. Mehr als 160 Parteien gibt
es in der Stadt, teilt man mir bei der Ankunft mit, aber so genau
weiß das keiner, denn täglich sprießen neue Parteien aus dem Boden
und immer wieder kann man Häuser sehen, die einfach in Besitz
genommen wurden, um darin eine neue Partei zu gründen.
Der Verkehr funktioniert - irgendwie - auch ohne Polizisten, hin
und wieder ergreift ein Zivilist die Initiative und regelt den
Verkehr, der aufgrund des Benzinmangels und der schlechten Sicherheitslage eingeschränkt ist. Vor den wenigen Tankstellen, die mit
Benzin beliefert werden, stehen Hunderte Fahrzeuge in Dreierreihen
oft um drei Häuserecken angestellt. Nicht nur die Tanks werden
befüllt, auch Kanister und rasch entsteht eine weitere mobile
Tankstelle, unweit von der wartenden Schlange. Irgendjemanden dauert
es immer zu lange und er kauft dann das Benzin zum zehnfach höheren
Preis. Fünfzehn, zwanzig solcher mobilen Tankstellen gibt es dann
im Umfeld und diese bringen eine enorme Gefahr mit sich, denn immer
wieder sieht man Leute neben den Plastikkanistern rauchen.
Warum es in Bagdad kaum Strom gibt, versteht niemand, denn
das Elektrizitätswerk wurde nicht zerstört, es war von einigen
Plünderungen betroffen, jedoch sind die Ersatzteile bereits
vorhanden. Man erzählt sich, dass der Einbau der - deutschen -
Ersatzteile verhindert wird, weil amerikanische Firmen das
Elektrizitätswerk renovieren sollen. Ein Angestellter des
Elektrizitätswerkes hat dies mit seinem Leben bezahlt, ein
wütender Einwohner hat ihn persönlich für den Mangel an Strom
verantwortlich gemacht und erschossen. In Al-Wihda , wo ich
wohnte, gab es an manchen Tagen zwei Stunden Strom, manchmal
auch nur zwanzig Minuten. Im Rest der Stadt war es auch nicht
besser. Die meisten Häuser haben elektrisch funktionierende
Wasserpumpen, was bedeutet, dass die Leute auch kein Wasser
zur Verfügung haben. Einen Generator können sich nur wenige
leisten und so gibt es bei dieser Hitze, die nun täglich
zunimmt, weder einen Kühlschrank noch eine Klimaanlage. Und
die Abende sind dunkel und lang, während man den Schiessereien
draußen zuhört. Um 20 Uhr sollte man zu Hause sein, danach ist
es zu gefährlich, ab 23 Uhr herrscht Ausgangssperre. Dann rollen
Panzer durch die Straßen und zerstören die Fahrbahnen mit ihrem
Gewicht und ihren Laufketten. Hubschrauber kreisen stundenlang
über die Stadtviertel. Früher erwachte die Stadt um 20 Uhr erst
richtig zum Leben, da es dann kühler wird und man mit der Familie
oder Freunden im Freien sitzt. Während des Krieges haben die
meisten Menschen ihr Haus nicht verlassen, jetzt verlassen sie
es nur tagsüber und nur dann, wenn es unbedingt sein muss. Zu
groß ist die Angst vor Überfällen, zu groß ist die Angst, ein
leeres Haus nach der Rückkehr vorzufinden. Früher waren sie
Gefangene des Regimes, nun sind sie Gefangene der Unsicherheit.
Und jeder Iraker meint: "Vor allem anderen, vor Strom und Wasser,
vor Essen und funktionierenden Spitälern brauchen wir Sicherheit.
Wir brauchen eine Regierung, die uns die Sicherheit wieder gibt.
Wir brauchen Polizisten auf den Straßen, wir brauchen Richter,
die Straftaten verfolgen." Am fünften Tag meines Aufenthaltes in
Bagdad hatte die Schule offiziell wieder begonnen, jedoch fanden
sich in den Schulen kaum Lehrer oder Schüler ein. Zu groß ist die
Angst, die Kinder, v.a. die Mädchen auf die Straße zu lassen. Eine
Englischlehrerin sagte mir, dass sie sich einfach fürchte, Unterricht
zu halten und daher zu Hause bliebe. Dabei ist in vier Wochen Schulschluss, die Kinder haben nun zwei Monate verloren, es wäre höchste
Zeit, dass ein geregelter Unterricht beginnt.
Die Kommunikationseinrichtungen wurden durchgehend zerstört, man
kann innerhalb weniger Stadtviertel in Bagdad telefonieren, jedoch
kein Gespräch zwischen den Vierteln oder nach außen führen. Selbstverständlich wurden mit dem Informationsministerium auch die Internetprovider zerstört und so leben die Iraker in völliger Isolation.
Diese Tatsache machen sich Leute zunutze, die es sich leisten können,
ein Satellitentelefon zu kaufen. Sie stehen auf der Straße und
bieten es den Leuten an, die ihren Verwandten im Ausland mitteilen
möchten, dass sie noch leben. Drei Dollar für eine Minute - ein
gutes Geschäft. Und ein Zeichen der neu gewonnenen "Irakischen
Freiheit". Der Besitz eines Satellitentelefons war den Irakern früher
strengstens verboten.
Täglich stehen schwarze Rauchwolken über Bagdad, noch immer werden
Brände gelegt, immer wieder gibt es Explosionen. Und während
die meisten Geschäfte geschlossen bleiben, weil man Plünderungen
befürchtet, stehen Männer mit hölzernen Handwägen auf den Straßen
und verkaufen Gemüse und andere Lebensmittel oder Eisblöcke.
Kühlschränke können kaum betrieben werden wegen des Strommangels
und die Außentemperatur beträgt nun schon zwischen 35 und 40
Grad. Aufgrund der unsicheren Lage sind auch alle Firmen und Büros
geschlossen und kaum jemand hat die Chance, ein Gehalt zu bekommen.
Mein Fahrer Rafid, früher Bauingenieur, bringt mich ins Stadtviertel
Mansour, an den Ort, wo am 7. April vier 900 Kilogramm-Bomben abge-
worfen wurden mit dem Ziel, Saddam Hussein zu töten. Es ist ein Ort
des Grauens, ein Ort, wo man mit Entsetzen vor Augen geführt bekommt,
was moderne Waffen anrichten können. Vier Häuser sind förmlich
atomisiert, ein riesiger Krater klafft im Boden. Saddam Hussein soll
hier gewesen sein, berichten die Nachbarn, aber 10 Minuten bevor die
Bomben fielen, hatte er die Gegend verlassen. Er starb hier nicht,
aber die Namen von neun toten Kindern stehen auf einer schwarzen
Trauerfahne.
Plünderungen im Nationalmuseum - ein Schock für viele Iraker
Ganz besonders geschockt sind die Menschen über den Verlust und
die Zerstörung ihres Kulturerbes. Das Nationalmuseum war der Stolz
der Iraker, v.a. der gebildeten Schicht, ebenso die Bibliotheken.
Schätze, die vom Ursprung der Menschheit zeugen und deren Wert
alle Zahlen übersteigt, sind für immer verloren gegangen. "Auch
wenn Saddam Hussein uns unsere Seelen genommen hat, so erfolgte
die Anstiftung zur Plünderung dieses Museums niemals durch einen
Iraker" - lautet die einhellige Meinung aller Bagdader. Und tatsächlich gibt es unzählige Augenzeugenberichte, dass nicht die
Iraker die ersten waren, die Gegenstände aus dem Museum davontrugen,
sondern amerikanische Soldaten, die auch das Tor des Museums aufgebrochen hatten. Erst danach wurden die vor dem Gebäude anwesenden
Iraker aufgefordert, sich zu bedienen. In der weiteren Folge
ersuchten Mitarbeiter des Museums wiederholt um Schutz, dieser Bitte
wurde mit dem stereotypen Satz, der im ganzen Land zu hören ist,
entgegnet: "Das ist nicht unsere Aufgabe!" Diese Erzählungen hört
man überall und auch noch viele weitere. So war ein Universitätsprofessor anwesend, als die Soldaten das Tor der Universität aufbrachen, er bot ihnen einen Schlüssel an, aber man meinte, den
brauche man nicht, man habe ausreichend Mittel, die Tür aufzubrechen.
Anschließend wurden die auf der Straße anwesenden Leute, die das
Geschehen beobachteten, zum Plündern der Universität aufgefordert
mit den Worten "Come on, Ali Baba, it's yours". (Ein Dieb wird im
Irak als "Ali Baba" bezeichnet). Wie sehr ein solches Verhalten die
Iraker in ihrer Würde und ihrem Stolz trifft, wird ein amerikanischer
Soldat niemals ermessen können. Am Tag vor meiner Abreise erzählte
mir ein Ingenieur freudestrahlend, dass ein Bibliotheksdirektor vor
dem Krieg vier LKWs mit wertvollen Büchern füllte und sie im eigenen
Haus und in Häusern von Freunden versteckte, um sie vor Diebstahl
zu schützen. Nun brachte er sie zurück und wurde als Held gefeiert,
denn er hatte einen Teil des irakischen Kulturerbes bewahrt und ganz
Bagdad freute sich darüber an diesem Tag.
Wo bleibt ein Gesundheitssystem?
Das Gesundheitsministerium ist geplündert und teilweise ausgebrannt,
bis zum 10. Stockwerk. In der 11. Etage sind noch einige Büros
intakt. Es gibt natürlich keinen funktionierenden Lift und auf dem
Weg in diese Büros kapitulieren die Raucher. Dort oben residiert
ein kompetenzloser Iraker, der auf die Befehle seines amerikanischen
Vorgesetzten warten muss und der in den 14 Tagen meines Aufenthaltes
dreimal ausgewechselt wurde. Knapp vor meiner Abreise wurde ein
Vertreter des früheren Gesundheitsministers auf diesen Posten
gesetzt, was sofort heftige Proteste unter der Ärzteschaft hervorgerufen hat. 1000 Ärzte demonstrierten vor dem Ministerium,
verlangten eine Gesundheitsstruktur, kompetente Leute in den
Schlüsselstellen, die nicht durch Korruption und Parteimitgliedschaft
vorbelastet sind und sie verlangten Gehälter. Zwei Tage später wurden
als "Notstandshilfe" 20 Dollar an alle im Gesundheitswesen Tätigen
ausbezahlt, ein lächerlich geringer Betrag angesichts der gestiegenen
Preise. Enorme Spannungen gibt es unter dem Personal in den
Spitälern. Das Ibn Balady Hospital wurde zwar durch zwei Scheichs
vor Plünderungen bewahrt, aber dem Direktor wurde bedeutet, er möge
nicht mehr kommen. Seither sind Machtkämpfe entbrannt, die noch
durch die Tatsache verschärft werden, dass Ärzte, die in den nun
ausgeplünderten Militärspitälern gearbeitet hatten, hierher kamen
und Arbeit suchten. In der weiteren Folge wurde der Verantwortliche
nahezu täglich ausgewechselt und die schlimmste Begleiterscheinung
dieser Machtspiele ist die Tatsache, dass oft nachmittags und
nachts kein einziger Arzt im Spital war, oft nicht einmal eine
Krankenschwester. Diese hatte aus Angst vor Überfällen das Weite
gesucht. Zurück blieben schwerkranke Kinder und erwachsene Patienten,
unversorgt und ihrem Schicksal ausgeliefert. Diese Kriegsopfer wird
niemand je zählen, sie sind die sogenannten "Kollateralschäden", die
man zur Durchsetzung von politischen Zielen in Kauf nimmt.
Ein Arzt für Intensivmedizin meinte, er kenne sein Land nicht mehr,
er kenne seine Leute nicht mehr. Niemals hätte er sich träumen
lassen, eines Tages so etwas zu sagen, denn er hatte sein Land immer
geliebt, aber jetzt hasst er sein Land. Er hasst sein Land und die
Menschen, die anderen das antun. Und: er will weg, weg aus diesem
Land. Damit ist er nicht allein, egal ob man mit 20jährigen spricht
oder mit 70jährigen, von allen hört man das Gleiche: Weg, nur weg
von hier, hier gibt es keine Zukunft, hier gibt es keine Hoffnung,
hier gibt es kein Leben. Aber wohin bloß?
Scheich Ali Ala führt durch Sabia Khasour, ein Armenviertel
angrenzend an Sadr City (früher: Saddam City). In einer Schule
hat er eine behelfsmäßige Ambulanz eingerichtet, Kinder mit
verbrannten Gesichtern werden hier behandelt, ein 16jähriger
Junge ist querschnittgelähmt, ein Projektil hat sein Rückenmark
durchtrennt. Zusammengekrümmt liegt er in einer Ecke. Unzählige
Patienten warten im Hof. Die Ambulanz wurde in den Räumen der
derzeit leer stehenden Schule eingerichtet, einer Schule, wo es
weder Wasser und Strom noch Fensterglas gibt und die Kinder zum
Teil auf dem Boden sitzend unterrichtet werden. Die staatlichen
Lehrer, die hier unterrichten, haben vor kurzem beim Scheich
vorgesprochen. Seit fast drei Monaten gab es kein Gehalt mehr,
sie wissen nicht, wie sie überleben können. Ungefähr 50.000
Menschen leben in diesem Armenviertel, das weder Kanalisation
besitzt noch eine funktionierende Wasserleitung. Der Scheich
erzählt über viele zivile Opfer in diesem Wohngebiet, da die
irakische Armee ihre Panzer in der Nähe von Wohnhäusern postiert
hatte und diese dann von den Amerikanern unter Beschuss genommen
wurden, dabei wurden die Häuser getroffen und deren Bewohner getötet.
Auch Streubomben seien hier eingesetzt worden. In einem zerstörten
Wohnhaus zeigt er uns eine Bombe, die noch nicht explodiert ist.
Man hatte die Amerikaner gebeten, diese zu entfernen, da die Kinder
kaum fernzuhalten sind. Die Antwort war gewesen, dass man für Aufräumarbeiten nicht zuständig sei. In einem anderen Armenviertel
sind 80 % der Leute, die dort leben, Analphabeten. Der Transport
zur nächsten Schule ist zu teuer für die arme Bevölkerung.
Die Situation in vielen Spitälern war schon vor dem Krieg nicht
einfach, jetzt kamen Plünderungen hinzu, aber im großen und ganzen
funktionieren die Spitäler wieder notfallsmäßig. Nur wenige öffentliche Spitäler wurden komplett geplündert, wie z.B. das Zentrum
für Herzchirurgie, hingegen wurden fast alle Militärspitäler
ausgeplündert. Die Geräte werden auf den Märkten angeboten oder
auch in den anderen Spitälern, so erzählte mir eine Schwester des
kleinen katholischen Privatspitals Al Hayat, dass ihr ein Ultraschallgerät um 60.000 Dinar angeboten wurde, das entspricht etwa
30 Dollar. Selbstverständlich hat sie das Angebot abgelehnt. Das
Medikamentenvorratslager des Gesundheitsministerium wurde geschützt
und so können die Spitäler in Bagdad noch versorgt werden - mit
großen Lücken natürlich. Ein schwieriges Problem stellt die Situation
auf dem Gebiet der Chirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie da.
Durch die große Anzahl von Verletzten, die innerhalb kurzer Zeit
versorgt werden musste, sind die Operationssäle verschmutzt und
können infolge des Mangels an Desinfektionsmittel nicht entsprechend
gereinigt werden. Es gibt praktisch keine Materialien für Operationen
und so können an der großen chirurgischen Abteilung in der "Medical
City" derzeit nur mehr geschlossene Brüche eingegipst werden,
Operationen sind nicht möglich. Ich habe einen Mann besucht, der
durch eine Schussverletzung eine Trümmerfraktur des Oberschenkelknochens erlitt. Man hat den Bruch mit einer sogenannten äußeren
Fixierung ruhiggestellt und den Mann sofort nach Hause entlassen,
wo er nun mit einer schweren Wundinfektion liegt, das Bein hat den
dreifachen Umfang im Vergleich zum anderen, wahrscheinlich wird er
bald eine Thrombose erleiden. Ein schmerzstillendes Medikament hatte
er nicht zur Verfügung. Ähnlich dürfte es allen Kriegsverletzten
ergehen. Während dieser Mann hilflos zu Hause lag, wurde nachts
sein Auto gestohlen. Erschwerend für die Arbeit des Krankenhauspersonals sind die Spannungen innerhalb des Personals - da fast
nirgends die bisherigen Führungspersonen geduldet werden - und
erschwerend ist die anhaltende Bedrohung durch Plünderungen. Bei den
Fahrten durch Bagdad konnte ich täglich beobachten, wie Einrichtungsgegenstände aus verschiedenen Gebäuden abtransportiert wurden.
Immerhin konnte ich feststellen, dass einzelne Spitäler, wie z.B. das
Mansour Teaching Hospital for Children oder auch St. Raphael Hospital
durch amerikanische Soldaten geschützt sind. Warum man diese schützt
und andere nicht, bleibt unerklärlich, wie vieles was derzeit in
Bagdad vor sich geht und die Einwohner der Stadt erzürnt.
"Die Plünderungen sind ein politisches Problem, kein soziales"
meint ein Arzt und er fügt hinzu, "solange die Besatzungsmacht nicht
dafür sorgen wird, dass man sich auf der Straße sicher bewegen kann,
solange wird die Stadt weiter in Agonie versinken." Wasser, Strom,
Lebensmittel, Medikamente - das alles ist wichtig, aber sekundär,
das Allerwichtigste ist die Sicherheit. Die Leute sind enttäuscht
von den Amerikanern, zwar froh, das diktatorische Regime los
geworden zu sein, hätten sie zunächst Hoffnung gehabt, nun ist
diese Hoffnung erneut enttäuscht worden. "Sie sind nicht gekommen,
uns zu befreien, wir interessieren sie nicht und sie verstehen uns
nicht. Sie sind nur an unserem Öl interessiert. Warum haben sie
das Ölministerium sorgfältig geschützt und alle Unterlagen über die
Ölförderung sichergestellt? Warum haben sie unsere Spitäler nicht
geschützt, unsere Kunstschätze? Warum haben sie die Verwaltungsgebäude nicht geschützt, denn niemand kann jetzt seinen Besitz
nachweisen, die Grundbücher sind verbrannt, niemandem kann ein
Pass ausgestellt werden. Alle Unterlagen über unser Volk wurden
vernichtet. Braucht man noch einen anderen Beweis, woran die
Amerikaner in Wahrheit interessiert sind?"
Tatsächlich ist das Verhalten der Amerikaner nicht nachzuvollziehen,
es sei denn, man schließt sich der Meinung vieler Iraker an, eine
Meinung, die übrigens auch von vielen Hilfsorganisationen vertreten
und deutlich geäußert wird: Indem man der Anarchie nicht Einhalt
gebietet, kann man der Welt leichter weismachen, dass die eigene
Präsenz erforderlich ist. Ein britischer Offizier in Basra meint auf
die Frage einer deutschen Journalistin, wie lange er denn hier sein
werde: "Viele, viele Jahre...."
Von Bagdad nach Basra
Fahrt nach Basra. Welche Straße die sicherste ist, wird unter den
Fahrern täglich als Geheimtipp gehandelt. Erst vor zwei Tagen war
ein Autobus bei Amara überfallen worden und einzeln fahrende Autos
sind sehr gefährdet. Am Sonntag, den 4. Mai frühmorgens fahren wir
los, und unser Weg wird über Kut und Amara führen. Wir, das sind
fünf Personen mit einem Auto: Karin, eine deutsche Journalistin,
ihr Dolmetsch Jalal, der Fahrer Abu Naji, Bashar, unser technischer
Koordinator im Irak und ich. Als Bashar mir seine Absicht, mitfahren
zu wollen, mitteilte, habe ich protestiert, ich wollte ihn nicht in
diese Gefahr bringen, aber mein Protest war zwecklos. Endlich hätte
er eine Gelegenheit, etwas für sein Volk zu tun, meinte er. Schon
nach kurzer Fahrt stehen wir im Stau. Die Brücke über den Diyala
wurde von der irakischen Armee zerstört, um den Amerikanern den Weg
abzuschneiden. Auf einem schmalen Grat kann man den Fluss überqueren,
rechts und links gähnt der Abgrund. Fast eine Stunde warten wir,
bis wir an der Reihe sind. Hier wird der Verkehr von amerikanischen
Soldaten geregelt. Einige Tage später wird es hier einen Selbstmordanschlag geben, bei dem mehrere Soldaten sterben.
Kampfspuren säumen die Straße, immer wieder zerstörte Panzer, ausgebrannte Fahrzeuge. Die primitiven Militärstellungen, die die Straße
säumten, sind zerstört. Wir überqueren die nächste zerstörte Brücke,
wenn man sich den verbliebenen Fahrbahnbelag ansieht, kommen Zweifel
auf, wann auch der Rest der Brücke im Fluss versinken wird. Kurzer
Stop in Amara, wo wir Tee trinken, wir befinden uns nun in der
britisch kontrollierten Zone. Um uns sammeln sich die Leute und jeder
will seine Meinung kundtun. Die Wasserqualität ist sehr schlecht,
viele leiden an Durchfall und Fieber und auch hier ist man sich
einig: vor allem anderen brauchen wir Sicherheit. Dass Saddam Hussein
nicht mehr da ist, darüber sind alle froh. "Er hat uns bestohlen, er
war besessen davon, Waffen zu kaufen und Kriege zu führen". Die Leute
genießen es, endlich nach so vielen Jahren des Schweigens und der
Angst vor dem Geheimdienst, offen zu reden, über all das, worüber sie
jahrzehntelang schweigen mussten. Niemand senkt mehr seine Stimme,
wenn er den Namen des Diktators ausspricht und alle sprechen offen
über die von ihm verübten Verbrechen - undenkbar noch vor wenigen
Wochen. Aber sie halten auch mit ihrer Kritik an den neuen Machthabern nicht zurück: "Die Briten kümmern sich um nichts. Sie und die
Amerikaner sollen unser Land verlassen."
Der Anblick von Basra war immer schon erschütternd, nun aber ist er
noch trauriger. Etliche zerbombte Häuser sind dazugekommen, noch mehr
sind verbrannt. Ganze Häuserzeilen sind verwüstet, so auch entlang
des Ufers des Shatt-el-Arab. Die Bronzestatuen der im Irankrieg
gefallenen Offiziere wurden alle entfernt, man hat sie pro Stück um
200 Dollar in den Iran verkauft. Zurück blieben die leeren Sockel.
Das Sheraton-Hotel, dessen Name ein Relikt aus besseren Zeiten war,
ist nur mehr eine Brandruine. 300 Menschen haben hier gearbeitet,
nun sind sie arbeitslos. Dr. Akkram, ein Arzt des Teaching Hospitals,
war im Dienst, als das Haus von Ali Hassan Al Majeed ("Chemie Ali")
bombardiert wurde. Nach Meinung der Menschen in Basra wurde dieser
nicht getötet, wohl aber wurde die gesamte Familie von Dr. Akkram,
der der Eigentümer des Nachbarhauses war, ausgelöscht: die Frau, 2
Söhne, 2 Töchter, Geschwister und Vater - insgesamt 11 Personen. Wie
kann man da weiterleben?
Angst unter den Christen
Erzbischof Gabriel Kassab freut sich sehr, uns zu sehen und sofort
berichtet er: "Wir sind in einer miserablen Lage, niemand hilft uns.
Verschiedene Organisationen kamen, haben Hilfe versprochen, aber
nichts geschah." Am ersten Tag nach der Einnahme der Stadt kam ein
britischer Major, ihm hat der Bischof seine Meinung über den Krieg
gesagt, seither kam der Major nicht mehr. Die Militärpriester aber
kommen täglich, um die Messe zu feiern. Bischof Kassab zeigt uns
einen Granatsplitter von etwa 10 cm Größe, der am 2. April durch
sein Fenster flog, als ein der Stadtverwaltung gehörendes Haus
in nur 60 Meter Entfernung bombardiert wurde. Auch das Dach des
Bischofshauses wurde durchsiebt mit Tausenden kleinen Splittern.
Der Bischof blieb unverletzt, aber die Erlebnisse der letzten Wochen
stehen ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Er sieht schlecht aus
und hustet seit zwei Monaten. Und auch er verlangt nach Sicherheit,
vor allem anderen. Und dann erzählt er eine fast unglaubliche
Geschichte und doch ist sie wahr, sie wurde mir später auch von
anderen in Basra erzählt: Die Engländer hatten Hilfspakete von den
LKWs in die Menschenmenge geworfen, allerdings nur so lange, als
die Journalisten filmten. Als diese ihre Kameras wegpackten, wurde
auch der LKW verschlossen. "Es waren schwierige und schreckliche
Tage, die hinter uns liegen. Viele Menschen haben in den Kirchen
Zuflucht vor den Bomben gesucht, sie haben dort auch übernachtet.
Wir haben alle große Angst gehabt. Die Verletzten mussten lange
Zeit auf medizinische Versorgung warten, da es so viele waren". Am
6. April hat man erstmals britische Soldaten in der Stadt gesehen,
am selben Tag begannen die Plünderungen, es wurde zerstört und verbrannt. "Das hat uns neuerlich in Angst und Schrecken versetzt."
Die einzige Apotheke der Stadt, die während des Krieges geöffnet
war, war die Armenapotheke des Bischofs. Und er hat Nahrungsmittel
verteilt, auch an die Moscheen, von wo sie weiter verteilt wurden.
Ein Priester hat den geborgten Kleinbus zur Verteilung der Lebensmittel gefahren, als der Priester erkrankte, sprang der Bischof als
Fahrer ein. Nun aber gibt es nichts mehr zum Verteilen und auf die
Armen wartet die Hungersnot.
Die Christen haben Angst vor der Zukunft, sie haben Angst vor einer
islamischen Regierung. Schon jetzt werden die Frauen auf der Straße
angesprochen und aufgefordert, ein Kopftuch und lange Ärmel zu
tragen. Bis vor wenigen Jahren trugen auch die muslimischen Frauen
kein Kopftuch. Der Bischof hatte in seiner Predigt am Sonntag die
Leute aufgefordert, sie mögen nicht provozieren durch ihre Kleidung.
"Wir haben große Angst", sagte mir ein syrisch-orthodoxer Christ,
"denn wir sind so wenige, was soll aus uns bloß werden?" Und alle
Christen wollen weg aus dem Land: "Hier gibt es für uns keine
Zukunft!" Wenn man mit den Leuten in den Straßen Basras spricht,
so hört man immer wieder den Ruf nach einer islamischen Regierung,
es soll aber keine fundamentalistische sein wie im Iran. Andere
Gesprächspartner wieder lehnen eine islamische Regierung strikt ab.
Wie die Regierung des zukünftigen Irak aussehen soll, weiß eigentlich niemand. Zu groß sind die Unterschiede in den Vorstellungen
und jede der neuen Parteien ringt um die Vormachtstellung. Der von
den Amerikanern favorisierte Oppositionelle, Ahmed Chalabi, genießt
unter den Irakern kein hohes Ansehen, die Transparente in den
Straßen zeugen davon.
Wiedersehen nach dem Krieg
Am 11. März hatte sich meine Freundin Dr. Jenan von mir mit den
Worten verabschiedet: "Ist das nun das letzte Mal, dass wir uns
sehen?" Dem Himmel sei Dank, am 4. Mai gibt es ein Wiedersehen
für uns in der Eingangshalle des Ibn Ghazwan Mutter-Kind-Spitals
in Basra. Aus Jenan sprudelt es förmlich heraus. "Wir sind in
einer fürchterlichen Lage, wir sind ständig bedroht. Aber wir
halten zusammen und wir haben gemeinsam unser Spital geschützt!"
Jenan war jeden Tag während des Krieges im Spital, oft bangte
sie während der Fahrt zum Spital um ihr Leben, aber das Leben
ihrer kleinen Patienten war wichtiger. Einige der Ärzte haben
seit Kriegsbeginn das Spital nicht mehr verlassen, sie haben
sich die Verteidigung des Spitals zur Aufgabe gemacht. Zeitweise,
als die Plünderer durch die Straßen zogen, haben sich die Ärzte
bewaffnet und Stellung am Eingang des Spitals bezogen. Eine Waffe
in der Hand zu haben, widerspreche ihrer Berufsauffassung, meint
Dr. Asaad und er ist überglücklich, dass er diese Waffe nicht
benutzen musste. Die Plünderer zogen ab. Dann suchten die Ärzte
die Engländer im Hauptquartier auf, das sie im Hotel Shatt-el-Arab
bezogen haben und baten um Schutz für das Spital, um Schutz für
100 schwerkranke Kinder. Sie erhielten die gleiche Antwort, die
die Leute in Bagdad von den Amerikanern erhalten: "Wir sind zum
Kämpfen da, nicht zum Beschützen. Das ist nicht unsere Aufgabe!"
Dr. Asaad meinte: "Seit Beginn des Krieges habe ich gewusst, dass
du kommen wirst, sobald du kannst. Wir haben uns gedacht, wenn ihr
einen so langen Weg auf euch nehmt, um uns zu helfen, so haben wir
die Verpflichtung, unsere Patienten zu schützen, unser Spital zu
schützen, das zu schützen, was ihr uns gebracht habt. Dieser Gedanke
hat uns Kraft gegeben in dieser Zeit!" Eine der Situationen, wo es
schwer fällt, die Fassung zu bewahren. Ich habe den Eindruck, dass
das gemeinsame Interesse, das Spital zu schützen, das Personal
zusammengeschweißt hat, im Gegensatz zu vielen anderen Spitälern
im Land. Mit gewissen Einschränkungen konnten die Kinder durchgehend
behandelt werden und Jenan und Asaad betonen, dass dies nur möglich
war, weil wir noch vor dem Krieg soviele Medikamente gebracht
hatten. Selbst aus dem 180 km entfernten Amara kommen Kinder zur
Behandlung von Kala Azar, weil es sich bis dort herumgesprochen hat,
dass das Spital in Basra das einzige im ganzen Irak ist, das über
das entsprechende Medikament verfügt.
Shejma, das Mädchen mit der Knochenmarkserkrankung ist zu Beginn
des Krieges gestorben. Jenan erzählt, dass sich das Mädchen vor
dem Krieg entsetzlich gefürchtet hatte. Nun erhält ein anderes
Kind mit der gleichen Erkrankung die Medikamente, die ich für Shejma
im März gebracht hatte. Jenan zeigt mir einige leukämiekranke Kinder,
alle erst innerhalb der letzten Tage diagnostiziert. Ein fünfjähriger
Bub hat einen unförmig aufgetriebenen Bauch, Diagnose: Lymphdrüsenkrebs. Ein etwa einjähriger Säugling zeigt einen riesigen blauschwarz verfärbten Tumor an der seitlichen Brustwand - die Eltern
wagten nicht, früher ins Krankenhaus zu kommen, sie leben außerhalb
Basras.
Die Sicherheitslage in Basra ist besser als in Bagdad, aber auch
hier gibt es Überfälle. So wurde am Tag unserer Ankunft das Auto
des Spitals, das zum Medikamentendepot unterwegs war, überfallen.
Die beiden Insassen wurden aus dem Auto gezerrt und das Auto
gestohlen. Das Medikamentendepot wurde bereits vor zwei Wochen
nahezu vollständig geplündert, ebenso das Lebensmittelvorratslager.
Es mangelt an vielen Medikamenten und ich erhalte eine lange
Wunschliste. 90 % der Kinder, die im Krankenhaus aufgenommen sind,
leiden an Durchfall. Es sind nur die sehr schweren Fälle, die hier
sind, alle anderen werden ambulant betreut.
Es gibt Cholera und Typhus in Basra, was nicht verwunderlich ist,
wenn man die Wassersituation kennt. Ein Besuch beim Internationalen
Komitee vom Roten Kreuz erklärt einiges. Das Wassersystem in Basra
ist kompliziert und die Versorgung hängt von insgesamt 15 Stationen
ab, die alle funktionieren müssen, damit es Leitungswasser gibt in
der Stadt. Auch hier hören wir: das Allerwichtigste ist die Sicherheit
für die Einrichtungen und das Personal. Keine einzige der Stationen
war bombardiert worden, warum also funktioniert die Wasserversorgung
nicht? Die Leute bohren Wasserrohre an, um zu Wasser zu gelangen
und jeden Tag werden Kupferrohre entwendet, die am Markt um ein
paar Dinar verkauft werden. Es wäre ein Leichtes, diese 15 wichtigen
Stationen zu schützen, meint der IKRK-Experte, aber die Briten
lehnen den Schutz ab und so leisten die IKRK-Leute Sisyphos-Arbeit.
Sie flicken jeden Tag neu an den Leitungen, ersetzen Rohre und am
nächsten Tag beginnen sie ihre Arbeit von vorne. Der IKRK-Mann hat
Verständnis für die Armen, die sich ein paar Dinar mit den Kupferrohren verdienen möchten, aber für ihn liegt hier ein klarer Bruch
der Genfer Konvention vor: "Die Briten sind verantwortlich für diese
Situation!" Die Temperaturen steigen täglich um diese Jahreszeit,
eine Epidemie scheint unausweichlich zu sein. Und Hunderte, ja
Tausende Kleinkinder werden in diesem Sommer sterben an Durchfall
und Austrocknung, sie werden sterben, weil die Besatzungsmacht kein
Interesse an der irakischen Bevölkerung zeigt. Auch diese Kinder
werden Kriegsopfer sein, aber ihr Name und ihre Anzahl wird in
keiner Kriegsopferstatistik zu finden sein. "Amerikaner und Briten
sind Lügner" so steht es an Hausmauern geschrieben und "Verlasst
unser Land!" Der Unmut der Bevölkerung macht sich nur vorsichtig
Luft. Zu schlecht waren die Erfahrungen mit Kritik an Machthabern
im Laufe der letzten 30 Jahre. Wie lange aber wird die Geduld der
Iraker reichen? Die Lage birgt enormen Sprengstoff in sich und wenn
seitens der Besatzungsmacht nicht bald gehandelt wird, steht dem
irakischen Volk die nächste Katastrophe ins Haus, vielleicht sogar
in Form eines Bürgerkrieges. Viele meiner Gesprächspartner fürchten
ihn.
Auch die Blutbank blieb von Plünderungen verschont, berichtet der
Direktor, Dr. Ala, stolz. Täglich übernachten mindestens 6 Leute
vom Personal hier, um die Einrichtungen zu schützen. Schmunzelnd
meint er, vielleicht wüssten die Plünderer auch nicht was eine
Blutbank ist und hätten Angst, hier einzudringen. Seit 2 Wochen
funktioniert der von uns gebrachte Plasmagefrierschrank nicht
mehr, der Direktor vermutet, dass die Stromschwankungen daran
schuld wären. Also macht sich Bashar ans Werk, um den Schaden
aufzuspüren, wie gut, dass er mitkommen konnte! Er erhält unverhofft Unterstützung von Ing. Mohammed, der die von uns beauftragte
Renovierung geleitet hatte. Die beiden arbeiten stundenlang und
finden schließlich den Schaden: der elektronische Temperaturregler
hat den Kriegsbedingungen in Basra nicht standgehalten. Er wird
ausgebaut und ich werde ihn mit nach Wien nehmen, um einen neuen zu
besorgen. Auch unsere Zentrifuge steht still, denn der Wasserdruck
ist viel zu schwach geworden und der Einbau einer Wasserpumpe war
aufgrund des Krieges noch nicht möglich. Es ist nicht leicht, unter
diesen schwierigen Bedingungen zu helfen! Ing. Mohammed war während
des Krieges in Kerbala, nun ist er nach Basra zurückgekehrt und
hatte sein Haus völlig leer vorgefunden. Später sah er seinen
Staubsauger am Markt wieder, zum Kauf angeboten von einem Mitarbeiter
seiner Firma. Ich frage einen Laborassistenten, was denn mit dem
Bild von Saddam Hussein geschehen wäre? Er lacht und meint, es wäre
im Lager, man könne ja nie wissen.... Diese Meinung ist öfters zu
hören im Süden, man werde es erst dann glauben, dass der Diktator
nie wiederkehrt, wenn man ein Foto seiner Leiche sähe. Andererseits
gibt es auch Aufschriften in den Straßen, in denen betont wird,
dass immerhin die Sicherheitslage im Staat unter Saddam Hussein
gewährleistet war. Der frühere Gesundheitsdirektor von Basra, mit
dem ich in der Vergangenheit einige Kämpfe auszufechten hatte,
wurde abgesetzt und arbeitet nun als normaler Arzt im Krankenhaus.
An seine Stelle wurde von den Engländern ein Militärarzt gesetzt,
der aber von den Ärzten der Stadt nicht akzeptiert wird und seine
Ablösung steht wohl unmittelbar bevor.
"Wann kommst Du wieder?" - eine Frage, die ich oft beantworten
muss in diesen Tagen. Aber die Antwort ist ohnehin klar: Sobald
als möglich, in etwa 3-4 Wochen und dann mit einer großen Hilfslieferung. Jetzt hatte ich nur etwa 130 kg Medikamente mitnehmen
können, diese habe ich aufgeteilt zwischen Spital und Armenapotheke.
Letzter Abend in Basra: die fünfjährige Sarah erwartet mich gemeinsam
mit ihrem Vater in der Lobby des winzigen Hotels (des einzigen, das
derzeit in Basra geöffnet hat). Er entschuldigt sich für sein spätes
Kommen: einer seiner Freunde hat heute seine 9jährige Tochter verloren, sie war auf eine Mine getreten.... Egal, wen man hier trifft,
egal, mit wem man spricht: überall verbirgt sich dahinter eine
Tragödie. Sarah konnte nicht behandelt werden mit den Medikamenten,
die ich mitgebracht hatte. Diese Medikamente erfordern eine genaue
Kontrolle gewisser Blutwerte, diese Kontrollen sind derzeit hier
nicht durchführbar und so blieb das Mädchen unbehandelt. Ein fünfjähriges Mädchen, das aufgrund seiner chronischen Schmerzen das
Lachen nicht gelernt hat und ein unglücklicher und unendlich
trauriger Vater sitzen mir gegenüber. Ich kann ihm nichts versprechen, aber ich muss versuchen, das Kind nach Österreich zur
Behandlung zu bringen. Allein für diesen Versuch ist der Vater
unendlich dankbar. Sarah kann nicht gehen, sie muss von ihrem Vater
getragen werden, einen Rollstuhl hat sie nicht. Die beiden verabschieden sich rasch, es ist spät und die nächtlichen Straßen sind
gefährlich. Panzer rattern vorbei.
Warten auf den Tod
Bashar und ich bleiben in der Hotelhalle sitzen. Ich würge an dem
Kloß in meinem Hals und Bashar sitzt in sich zusammengesunken da.
Dann beginnt er zu erzählen von den Tagen während des Krieges. Er
erzählt von der Angst, die er nicht beschreiben kann, vom Entsetzen
während der Bombardierungen. Während vier Wochen hatten er und seine
Familie das Haus nur ein einziges Mal verlassen. Das war, als in
unmittelbarer Nähe mehrmals Raketen einschlugen und es Explosionen
gab, die das Haus schwanken ließen und sie erwarteten, dass das Dach
über ihnen zusammenfiel. Da beschlossen sie, zu Freunden zu gehen
in ein anderes Stadtviertel, aber dann geschah dort das Gleiche.
Sie gingen zurück in ihr Haus und nahmen sich vor, dieses nicht mehr
zu verlassen. Sie wollten hier auf den Tod warten. Jede Nacht die
furchtbaren Bombardements, jede Nacht die Panik und jede Nacht ohne
Schlaf. Bewusst vermied er, tagsüber zu schlafen in der Hoffnung,
nachts den Lärm der Bomben zu verschlafen. Aber der Lärm war stärker.
Als Gefangene verbrachten sie die Zeit mit Lesen, Gesprächen und
Gebeten. Am fünften Kriegstag war es mir gelungen, nach Bagdad zu
telefonieren und Bashar erzählt, was ihm und seiner Familie dieser
Anruf bedeutete. Von da an wusste er, dass es Menschen draußen in
dieser Welt gibt, die mit den Irakern dachten und fühlten in diesen
schwierigen Tagen und dieses Wissen hielt ihn aufrecht, gab ihm
Kraft und die Hoffnung, zu überleben. Dann blieb das Telefon stumm,
die Kommunikationseinrichtungen waren zerstört, der Fernsehsender
verstummte und schließlich fiel der Strom aus. Das Leben reduzierte
sich immer mehr, abgeschnitten von der Welt. Die Bombennächte waren
endlos. Und als dann eine Nacht ohne Bombardements verging, wussten
sie, dass die Amerikaner Bagdad eingenommen hatten. Das erste was
er sah, als er wieder auf die Straße trat, war ein brennendes Bild
von Saddam Hussein, des Mannes, der das Leben so vieler Iraker
zerstört hatte. Ungläubig beobachtete er das Werk der Flammen. Saddam
Hussein war da, so lange er zurück denken konnte und der Diktator
bestimmte das Leben aller Iraker. Nun verschwand er vor Bashars Augen
von der Bildfläche. Nach den furchtbaren Tagen, die hinter ihm lagen,
war das ein Symbol der Hoffnung. Heute abend in Basra, vier Wochen
später, ist diese Hoffnung längst wieder geschwunden. Sein Heimatland
versinkt in Anarchie und es gibt keine Perspektive für die Zukunft.
Hoffnungslos
Der letzte Tag in Bagdad ist angebrochen und ich sitze im Garten
mit einem irakischen Freund. Die Blumen und das intensive Licht
des späten Nachmittags täuschen eine Idylle vor, die von Schüssen
in der Nähe rasch beendet wird. Ich habe das Privileg, morgen
abreisen zu dürfen, heimzukehren in mein Heimatland, in dem ich
mein Leben lang in Frieden und Sicherheit gelebt habe. Ich brauchte
nie darüber nachzudenken, ob es Strom gibt, oder Wasser oder Essen.
Alles das war immer da, mein Leben lang. Warum hat dieser Freund
nicht dieses Glück im Leben gehabt? Ich kenne die Antwort nicht.
Seine Anklage fasst die gesamte Tragödie des irakischen Volkes
zusammen. Sie richtet sich gegen Diktatur und Geheimdienststaat,
gegen Neokolonialismus und Hegemoniebestrebungen, gegen Krieg und
gegen jegliche Form der Gewalt:
"Hast Du schon je einen Menschen gesehen, der keine Hoffnung mehr
hat? Ohne Hoffnung kann ein Mensch nicht leben. Ich aber bin ein
Mann ohne Hoffnung. Soweit ich zurückdenke, gab es nur ein einziges
gutes Jahr in meinem Leben, das war 1989 - da hatten wir keinen
Krieg, da gab es kein Embargo. Wir haben aufgeatmet, aber ein Jahr
später wurde unsere Hoffnung rasch zunichte gemacht. Der nächste
Krieg stand vor der Türe, ein Krieg, der unendliches Leid über unser
Land gebracht hat, gefolgt von einem Embargo, das unser Land zerstört
hat. Saddam Hussein hat unser Leben zerstört, er hat mein Leben
zerstört, er hat die Seelen unseres Volkes zerstört. Die Amerikaner
zerstören das Wenige, was uns noch geblieben ist. Er hat den Reichtum
unseres Landes dazu verwendet, Waffen zu kaufen und er hat unser Volk
bestohlen. Nun kommen die Amerikaner und wollen unser Volk bestehlen,
sie halten unser Land besetzt, um es auszubeuten. Saddam Hussein hat
uns dreißig Jahre lang in Angst und Schrecken versetzt, die Amerikaner haben uns durch den Krieg in furchtbare Panik versetzt und nun
schaffen sie es, uns durch unsere eigenen Leute bedrohen zu lassen.
Wir haben Angst, unser Haus zu verlassen, wir haben Angst, auf die
Straße zu gehen. Mit diesem Verhalten wollen sie der Welt zeigen, dass
wir Iraker unfähig sind, uns selbst zu regieren. Sie präsentieren uns
der Welt als ein Volk von Dieben. Aber das sind wir nicht. Das, was
hier geschieht, würde überall auf dieser Welt geschehen, wenn es kein
Gesetz gibt. Wir verlangen nicht viel, wir wollen keinen Luxus, keinen
Reichtum. Wir wollen bloß leben, ein normales Leben führen, einem
Beruf nachgehen, uns fortbilden, eine Familie gründen. Mehr wollen
wir nicht. Wir Iraker haben wie alle anderen Menschen auf dieser
Erde ein Recht auf dieses Leben und nicht bloß auf eine Existenz, auf
ein Dahinvegetieren. Wir können so nicht weiterleben. Sie ignorieren
unsere Rechte, sie behandeln uns wie wilde Tiere, damit sie einen
Grund haben, hier zu bleiben, einen Grund, unser Land besetzt zu
halten. Wir möchten unsere Menschenwürde zurück. Das ist alles, was
wir fordern!"
Das Ende des Völkerrechts
Als ich meine Freunde wieder sah während dieser Reise, hat mich der
Anblick jedes einzelnen erschreckt. Die furchtbaren Erlebnisse der
letzten Wochen stehen unübersehbar in ihren Gesichtern geschrieben
und die Iraker befinden sich noch immer in einem Schockzustand. Es
gibt keine Zukunftsvision, die sie aus dem Schock befreien könnte.
Ein Land voller potentieller Flüchtlinge, aber kein Staat dieser
Erde will sie haben. Für 1000 von ihnen endete die Flucht im Niemandsland und die Europäische Union hat sofort mit Beendigung der
Bombardements das Asylrecht für Iraker aufgehoben. Die reichen
Länder des Westens machen ihre Grenzen immer dichter gegenüber den
Verzweifelten und Hoffnungslosen dieser Erde. Der Krieg ist nicht
vorbei für diese Menschen, die Gefährdung ist jetzt eine höhere als
noch vor wenigen Wochen - nun aber gelten sie als "befreit" und auf
weitere Hilfe brauchen sie nicht zu warten. Was bringt die Zukunft
für diese Menschen? Kampf gegen die Besatzungsmacht? Bürgerkrieg?
Es ist nicht einmal denkbar, dass es den so unglücklich agierenden
Besatzungsmächten bald gelingt, eine von allen akzeptierte Regierung
einzusetzen. Wie also soll es weitergehen? Es herrscht Ratlosigkeit.
Das Völkerrecht ist seit dem 20. März 2003 außer Kraft gesetzt. Der
Krieg war völkerrechtswidrig und das Verhalten der Besatzungsmächte
ist völkerrechtswidrig. Nach der Genfer Konvention sind sie verantwortlich für die Aufrechterhaltung der Ordnung, für Gesetze
und Recht, für den Schutz des Einzelnen und der Gemeinschaft. Wo
bleibt diese Verantwortung? Die stereotype Antwort: "Das ist nicht
unsere Aufgabe" stimmt schlichtweg nicht. Es IST ihre Aufgabe! Die
Nachrichten sind spärlich geworden über den Irak, es gibt keine
spektakulären Bilder mehr, denn die Anarchie ist zum Alltag geworden.
Der Journalistentross ist abgezogen aus Bagdad. Zurück blieb das
Elend, das jeder Krieg mit sich bringt, das nicht spektakulär ist
und das daher kaum jemanden mehr interessiert. Wie viele Menschen
sind Opfer dieses Krieges geworden? Die wahre Zahl werden wir nie
erfahren. Und auch die Zahl derer, die im Gefolge dieses Krieges
sterben, wird uns unbekannt bleiben. Die schwarzen Trauerfahnen mit
der weiß-gelben Schrift geben stellvertretend für viele andere ihr
stummes Zeugnis von den Toten. Wo bleiben die Demonstrationen gegen
das Unrecht, das jetzt im Irak vor sich geht? Wo bleibt unsere
Solidarität mit den Rechtlosen und Verzweifelten? Seit meiner Rückkehr kann ich mich des Eindruckes nicht erwehren, dass man uns
in den Medien weismachen will, dieser Krieg wäre ohnehin nicht so
schlimm gewesen. Wie viele Tote braucht es, damit ein Krieg verurteilt werden kann? Zehntausende? Hunderttausende? Die wird es als
Kriegsfolge in den nächsten Monaten ganz sicher geben! Und es gibt
23 Millionen Menschen, von denen jeder Einzelne an den Kriegsfolgen
leidet: Arbeitslosigkeit, Hunger, Krankheiten, keine medizinische
Versorgung, Anarchie - und ein ganzes Volk in Hoffnungslosigkeit
ohne jegliche Zukunftsperspektive. Ein sehr hoher Preis für den
militärischen Sieg und wohl ausreichend, um diesen Krieg zu verurteilen.
Als ich aus Amman kommend am 11. Mai in Wien das Flugzeug verlassen
will, stehen zwei Polizisten bereits an der Flugzeugtüre und
kontrollieren die Pässe. (Die normale Passkontrolle erfolgt später
im Flughafengebäude nochmals.) Mit dieser Maßnahme soll verhindert
werden, dass ein irakischer Flüchtling österreichischen Boden betritt,
ja auch nur den Boden des Flughafens betritt. Ein Flüchtling würde
also sofort in das Flugzeuginnere zurückgeschickt werden. Ich komme
aus einem Land voller potentieller Flüchtlinge, von denen jeder
Einzelne Grund genug hat, wegzugehen und nach den Erlebnissen der
letzten beiden Wochen kann ich jeden Einzelnen verstehen, der das
will. Und ich schäme mich, Besitzerin eines EU-Passes zu sein. Meine
Gedanken gehen zurück: heute vor einer Woche hat sich eine Frau in
Basra dafür bedankt, dass ich gekommen bin und sie meinte: "Sie hier
wiederzusehen nach diesen dunklen Tagen bringt uns den Frieden."
Wird es jemals einen wirklichen Frieden für dieses Volk geben - und
wann?
15. Mai 2003
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