"Außergewöhnlichste Katastrophe in der modernen Militärgeschichte"
Noam Chomsky über die Propaganda der Bush-Regierung, die (ausbleibenden) Massenproteste gegen den Irak-Feldzug und die Parallele zum Widerstand gegen den Vietnam-Krieg
Avram Noam Chomsky lehrt als Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Seit der Entwicklung der als Chomsky-Hierarchie bezeichneten Linguistiktheorie gilt der heute 76jährige Sprachwissenschaftler als einer der bedeutendsten Intellektuellen Nordamerikas. Seine Arbeiten sind bis heute ein Bezugspunkt für die Sprachwissenschaft.
Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit nutzte Chomsky stets auch die politische Bühne. Schon 1964 protestierte er gegen den Angriff der USA auf Vietnam. 1969 veröffentlichte er den Band "Amerika und die neuen Mandarine", eine Sammlung von Aufsätzen über den Vietnamkrieg. Ebenso deutlich bezog Chomsky Stellung gegen die US-amerikanische Politik in Kuba, Haiti, Osttimor, Nikaragua, im Palästinakonflikt und gegenüber den "Schurkenstaaten" sowie zum Golf- und Kosovo-Krieg. Heute ist er neben seiner weiter unbestrittenen Rolle für die Linguistik einer der klarsten Kritiker der Bush-Doktrin, der politischen Weltordnung und der Macht der Massenmedien.
Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview, das Harald Neuber für die Tageszzetung "junge Welt" im April 2005 mit Chomsky geführt hat.
Frage: Vor zwei Jahren, am 1. Mai 2003, hat US-Präsident George W. Bush auf dem Flugzeugträger »USS Abraham Lincoln« das offizielle Ende der Kampfhandlungen in Irak verkündet. Ist diese Propagandabotschaft nicht inzwischen von der Realität ad absurdum geführt worden?
Chomsky: Sie sagten es ja schon: Es war ein Akt der politischen Propaganda. Er wurde mit einem S3-Viking-Kampfjet auf den Flugzeugträger geflogen, stieg aus und verkündete quasi das Ende des Krieges. Es war eine Szene, die auf die Ansprüche der Medien – er war umringt von Kameras und Mikrofonen – zugeschnitten war. Das sind politische Strategien, die besonders den Deutschen aus der Zeit der Hitler-Diktatur bekannt sein dürften.
F: Trotz Siegesbotschaft gibt es inzwischen aber täglich mehrere Angriffe auf die US-Besatzungstruppen ...
... und es ist doch das eigentlich Erstaunliche, daß der Krieg länger als zwei bis drei Tage gedauert hat. Allen Beteiligten war von Beginn an klar, daß der irakische Staat sich gegen eine US-Invasion nicht verteidigen konnte. Das Land lag völlig am Boden, vor allem durch die jahrelangen völkerrechtswidrigen Sanktionen. In Anbetracht dieser Umstände hätte es die leichteste Invasion und Besatzung eines Landes in der Geschichte sein müssen. Nicht nur wegen der extrem ungleichen militärischen Kräfte, sondern auch angesichts des Umstandes, daß die Besatzung mit zwei brutalen Regimen Schluß machte: dem Saddam Husseins und dem der Sanktionen.
F: Weshalb dann der Widerstand?
Daß sich der militärische Widerstand gegen die US-Besatzer in derart kurzer Zeit so erfolgreich formieren konnte, ist wohl die außergewöhnlichste Katastrophe in der modernen Militärgeschichte. Selbst die faschistische deutsche Wehrmacht ist bei ihrer Besatzung weiter Teile Europas nicht auf einen derart entschiedenen und breiten Widerstand gestoßen. Vor einer Weile konnte ich mit einem hochrangigen Mitarbeiter einer Entwicklungshilfsorganisation über die Lage in Irak sprechen. Nach seinen Worten hatte er noch nie »eine solche Mischung aus Ignoranz, Arroganz und Inkompetenz« gesehen, wie beim US-Besatzungsregime in Irak. Stärker noch als der bewaffnete Widerstand ist meines Erachtens jedoch die zivile, gewaltfreie Ablehnung der Besatzung. Durch sie ist die US-Regierung dazu gezwungen worden, Wahlen in Irak abzuhalten, wogegen sie sich zuvor mit allen Kräften gewehrt hatte.
F: In einer Lesung in Berlin haben Sie vor wenigen Wochen einen Widerspruch zwischen der Kriegspolitik Washingtons in Irak und der Mehrheitsmeinung der US-Bevölkerung erwähnt. Wenn ein solcher Widerspruch besteht – weshalb führt er nicht zu einer entschiedeneren Antikriegsbewegung?
Eine der großen »Errungenschaften« der Innen- und Medienpolitik der Bush-Regierung in den vergangenen Jahren ist es, den Menschen ein Gefühl der Isolation und Hilflosigkeit vermittelt zu haben. Diese Isolation wird vor allem auch über die Arbeitsmarktpolitik gefördert. Obwohl wir uns nicht in einer Phase wirtschaftlicher Depression befinden, stagnieren oder sinken die Löhne in den USA. Eine Folge dieser Entwicklung ist, daß die Menschen mehr arbeiten müssen, um ihren Lebensunterhalt finanzieren zu können. Wer heute in den USA zwei oder drei Jobs hat, stellt keine Ausnahme mehr da. Dazu trägt nicht nur der Lohnverfall bei, sondern auch der Abbau des Sozialsystems und der massive Anstieg der privaten Schuldenlast. Gefördert wird diese Situation durch die Medien, die einem ohne Pause ein Kosumdenken ins Hirn hämmern. Die klassischen Institutionen demokratischer Partizipation haben unter dieser Entwicklung ungemein gelitten. Nehmen wir die Gewerkschaften, ein klassischer Ort der Selbstorganisation der Arbeiter. Inzwischen sind in den USA fast nur noch die Kirchen als Ort des politischen Widerstandes übriggeblieben.
F: Darin läge dann der Hauptunterschied zu Europa. Immerhin hat das antidemokratische Festhalten am Irak-Krieg dem rechtskonservativen Regime unter José Maria Aznar in Spanien bei den Wahlen im März 2004 die Regierungsgewalt gekostet.
In der Tat. Aber die Entwicklung in Spanien ist aus einem anderen Grund interessant. Die Opposition zu Aznar wollte nicht den bedingungslosen Rückzug der spanischen Truppen aus Irak. Ihre Position war, die Truppen zurückzuziehen, solange die Besatzung nicht international kontrolliert würde. Und eben das war lange auch die Position von 70 Prozent der US-Bevölkerung. Doch es gibt einen bedeutenden Unterschied: In Spanien kennen die Menschen diese öffentliche Meinung. In den USA werden solche Umfrageergebnisse von den Medien nicht oder nur unzulänglich verbreitet.
F: Sie weisen in Ihren Arbeiten wiederholt auf die machtstabilisierende Wirkung der Medien hin. Wie kommen die US-Medien aber mit dem Widerspruch zwischen der Darstellung und der Realität des Irak-Krieges klar?
Ebenso wie in Deutschland oder Spanien. Entscheidend ist die Interaktion zwischen Medien und der öffentlichen Sphäre. In Spanien waren die Medien gezwungen, über die breite Kriegsgegnerschaft in der Bevölkerung zu berichten, weil Massendemonstrationen auf den Straßen und Plätzen des Landes stattfanden. In den USA fand genau das nicht statt, weil die demokratischen Strukturen der Gesellschaft atomisiert wurden und die Menschen nebeneinander und nicht miteinander leben. Durch diese Isolation wird die Demokratie in den Vereinigten Staaten zunehmend unterminiert. In den USA wußte und weiß niemand von der breiten öffentlichen Ablehnung des Krieges. Und es gibt noch einen zweiten Unterschied: In Spanien hat sich die öffentliche Meinung im Wahlergebnis niedergeschlagen. Auch das wäre in den USA nicht möglich, weil sich keine der beiden großen Parteien gegen den Krieg positionieren würde.
F: In den vergangenen Jahren wurden viele Hoffnungen in das Internet als alternativen politischen Raum gesetzt. Kann das Internet die Formierung neuer politischer und sozialer Bewegungen unterstützen?
Das ist ein wichtiger Punkt. Tatsächlich hat das Medium Internet sowohl im alltäglichen Leben der Menschen als auch in der politischen Sphäre an Einfluß gewonnen. Aber es schafft auch neue Probleme. Ein Vorteil des Internets ist es, daß jeder Zugriff darauf hat, es ist der perfekte offene und öffentliche Raum. Auf der anderen Seite schafft dieser offene Charakter des Mediums eine große Unsicherheit, was die verbreiteten Informationen angeht. Jeder kann alle denkbaren Verschwörungstheorien online stellen. Besonders in den entpolitisierten Gesellschaften, in denen wir heute zunehmend leben, können solche verwirrenden Informationen und Theorien eine verheerende Wirkung haben, weil die Leute nicht mehr über das notwendige Hintergrundwissen verfügen, um die Informationen einordnen zu können. Das betrifft vor allem die USA: eine entpolitisierte und unterentwickelte Gesellschaft. Ich denke also nicht, daß das Internet die klassische politische Organisierung und Organisation ersetzen kann.
F: Welche Möglichkeiten hat die Friedensbewegung in den USA also, die politische Agenda Washingtons zu beeinflussen?
In der Logik dessen, was ich eben gesagt habe: Sie sollte zur Organisierung der Menschen beitragen. Und dieser Prozeß findet ja durchaus statt. Die ganze Situation, die Widersprüche und Hürden des Machtapparates sind ja nicht neu. Denken wir nur an die fünfziger Jahre zurück, nicht allzuweit also. Damals war nicht vom »Ende der Geschichte«, aber vom »Ende der Ideologie« die Rede. Es herrschte in den USA eine recht deprimierende Atmosphäre vor, in der sich niemand große soziale oder politische Protestbewegungen vorstellen konnte. Dann, innerhalb weniger Jahre, änderte sich die Situation schlagartig. Dabei spielten interne und externe Faktoren eine Rolle, Revolutionen etwa, also Geschehnisse, auf die Washington keinen direkten Einfluß hatte.
F: Würden Sie das als den Hauptunterschied zwischen der aktuellen Situation und der Lage während des Vietnamkrieges bezeichnen?
Die Proteste gegen den Vietnam-Krieg, die Bürgerrechtsbewegung, die Frauenbewegung, die Umweltschutzbewegung – alles das waren unvorhersehbare Entwicklungen. Sicher, die Grundlagen waren vorhanden, aber trotzdem ist lange nichts geschehen.
F: Das auslösende Moment läßt sich nicht bestimmen?
Das war nie möglich, und die Geschichte beweist das. Anfang der 1820er Jahre etwa herrschte in Großbritannien, dem ersten industrialisierten Staat Europas, eine sehr konservative Stimmung unter protestantischer Herrschaft vor. Jeder sollte sich in die industrialisierte Gesellschaft einfügen. Wer dagegen rebellierte, und zu dieser Zeit waren das vor allem die von der politischen Partizipation ausgeschlossenen Katholiken, konnte ja nach Amerika gehen und Indianer töten. Unvorhergesehen setzten in den dreißiger Jahren jenes Jahrhunderts harte politische Kämpfe ein, die schließlich 1929 in der Aufhebung der diskriminierenden Gesetze mündeten. Katholiken konnten nun ins Parlament gewählt werden. Was ich damit sagen will, ist, daß die dialektische Entwicklung sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht: Wohlstand, Niedergang, Repression, Rebellion, sozialer Wandel.
F: Sie bleiben also optimistisch?
Durchaus, denn alle großen Bewegungen der letzten Jahrzehnte haben einmal klein angefangen. Die Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre bestand zu Beginn aus ein paar studentischen Aktivisten. Als Kennedy 1962 in den Vietnamkrieg eintrat, protestierten dagegen ein paar verlorene Gestalten an einigen Straßenecken des Landes. Es dauerte vier bis fünf Jahre, bis es zu den bekannten Großdemonstrationen kam. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Krieg schon den größten Schaden angerichtet, und die schlimmsten Massaker waren schon begangen. Insofern gibt es einen wichtigen Unterschied zum Irak-Krieg. Erstmals in der Geschichte Europas und der USA haben dabei die Proteste ihren Anfang genommen, bevor der Krieg begann. Das ist gut. Und das sollte Hoffnung geben.
* Aus: junge Welt, 30. April 2005
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